Robert Lessmann
Auf
der 62. Sitzung der UN-Suchtstoffkommission (Commission
on Narcotic Drugs)
im Frühjahr 2019 in Wien konnte man sich noch ohne
Corona-Einschränkungen treffen. Die wohl interessanteste
Veranstaltung war gleich am ersten Tag ein „side-event“ zur
„Zukunft der
Alternativen Entwicklung“. Das sind Programme, um
Lebensalternativen für
Bäuerinnen und Bauern zu fördern, die sogenannte Drogenpflanzen
anbauen. Organisiert von Deutschland, Österreich, der EU, dem UNODC
(Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung)
und moderiert von der deutschen GIZ (Gesellschaft für Internationale
Zusammenarbeit) warb ein hochkarätig besetztes Podium wortreich für
diesen Ansatz und stellte Erfolgsgeschichten vor. Tatsächlich können
entwicklungspolitische Maßnahmen einen wichtigen und wirksamen
Beitrag zu einer Angebotsreduzierung leisten. Meist waren sie bisher
jedoch eher kosmetisches Beiwerk repressiver Politiken. Meine
Sitznachbarin lächelte milde, als ich ihr nach einer Weile ins Ohr
flüsterte: „Das hören wir nun seit 30 Jahren“. Aus Coletta
Youngers’ Studie „Clear
and Present Dangers“,
die 1991 vor den Abgründen
einer Militarisierung der Drogenbekämpfung warnte, hatte ich schon
für meine Dissertation über den Drogenkrieg in den Anden zitiert.
Seit jener Zeit hören wir Berichte über erfolgreiche Projekte,
schlüssige Strategien, „geteilte Verantwortung“ zwischen
Produzenten- und Konsumentenländern, „entschlossenes
Engagement“ und „ausgewogene Ansätze“
(balanced approach).
Doch die Fakten sprechen eine andere Sprache. Die alljährlich
publizierten Welt-Drogenberichte der UNO dokumentieren eine stetige
Zunahme des Drogenkonsums und der Todesopfer im Zusammenhang damit.
Die Drogenmärkte sind komplexer geworden. Neue, im Labor
hergestellte Substanzen drängen mit einer Dynamik auf den Markt, die
den Kontrollrahmen über die Erfassung und Definition „kontrollierter
Substanzen“ sprengt –
ohne jedoch die traditionellen, pflanzenbasierten zu verdrängen,
wie man das vermuten konnte. Kokain- (Kokabusch) und Heroinproduktion
(Schlafmohn) liegen auf Rekordniveau. Neue Vermarktungsformen über
das Darknet haben gerade während der Pandemie noch einmal an
Bedeutung gewonnen und stellen die klassische Interdiktionspolitik
(Verbot und Fahndung) vor ungeahnte Schwierigkeiten.
Während
auf der Ebene der Diskussionen, der Berichte und der Strategien
längst von Reformen die Rede ist, im Sinne einer Abkehr von
Repression und Strafverfolgung auf der Angebotsseite hin zu
Prävention und Therapie auf der Nachfrageseite, ist davon in der
Praxis noch herzlich wenig zu sehen. Dabei ist es hohe Zeit, neue
Wege auszuprobieren, statt sich weiterhin an der eigenen
Großartigkeit zu berauschen.
„Wie
so oft waren es nicht die klugen Köpfe,
die bereitwillig zugeben konnten, dass der Kaiser gar nichts anhatte:
Sie verbrachten ihre Zeit lieber damit, neue Theorien auszudenken, um
zu erklären, warum diese Kleider sowohl prächtig als auch
unsichtbar waren.“ Eric J. Hobsbawm
„War
on Drugs“
Die
internationale Drogenpolitik war und ist in hohem Maße von den
Vereinigten Staaten dominiert. Nur Weltpolizist Uncle Sam verfügt
(seit 1978) über ein Bureau
for International Narcotics Control and Law Enforcement Affairs
(INL) im Außenministerium, dessen Mittel stets um ein Mehrfaches
über dem Budget des UNODC liegen, wobei noch mehrere weitere
Ministerien und Behörden beteiligt sind, wie beispielsweise USAID.
Einschlägige Budgets des Pentagon unterliegen der Geheimhaltung.
Zwei
Länder standen und stehen im Mittelpunkt der angebotsorientierten
Drogenbekämpfung, die bis vor wenigen Jahren noch als „War
on Drugs“
bezeichnet wurde. Kolumbien, wo heute zwei Drittel der globalen
Kokablätter produziert
und wo nach wie vor zwei Drittel der Kokainlaboratorien entdeckt und
zerstört werden, sowie Afghanistan, das 85 Prozent des Schlafmohns
produziert, der Ausgangspunkt für 80 Prozent des Heroinangebots ist.
Zwischen beiden Ländern bestehen bemerkenswerte Gemeinsamkeiten.
Koka- beziehungsweise Schlafmohnproduktion sind in beiden Ländern
relativ neuen Datums. Beiden Ländern galt besondere geopolitische
Aufmerksamkeit Washingtons.
Weder
„endete die
Geschichte“ mit dem Zusammenbruch des Ostblocks, wie der
neokonservative Politologe Francis Fukuyama prophezeit hatte, noch
begann sie mit der Jahrtausendwende, auch wenn dies in
geschichtsvergessenen Darstellungen der Drogenpolitik bisweilen so
aussehen mag. In Kolumbien begann der „Drogenkrieg“ bereits in
den 1970er Jahren. Ziel war damals noch der Anbau von Marihuana, der
zwar nicht verschwand, aber aus zwei Gründen
an Bedeutung verlor. Nachdem Plantagen mit Pflanzengift besprüht
wurden, befürchteten nordamerikanische Konsumenten, ‚Pot‘ aus
Kolumbien und Mexiko könnte wegen der Vernichtungspolitik ihrer
Regierung gegen den Anbau dort kontaminiert sein, und gingen deshalb
zum Eigenanbau über. Gleichzeitig nutzten kolumbianische
Drogenhändler ihre Kenntnisse des nordamerikanischen Marktes und
machten ihr Land zum Epizentrum des wesentlich lukrativeren
Kokaingeschäfts. Sie organisierten die Weiterverarbeitung der Pasta
Básica de Cocaína,
die als Zwischenprodukt aus den klassischen Anbauländern Bolivien
und Peru importiert wurde, und den lukrativen Export auf die
Absatzmärkte. Washington versuchte damals mit seiner Operation
Airbridge, die
Anlieferung von Pasta
Básica
zu
unterbrechen, im Rahmen derer nichtidentifizierte Flugzeuge zur
Landung gezwungen oder notfalls abgeschossen wurden. Operation
Airbridge
wurde
durch die Intervention des Kongresses zwischen April 2001 und August
2003 ausgesetzt, nachdem wegen eines Kommunikationsfehlers zwischen
dem U.S.-Aufklärer und dem peruanischen Jäger versehentlich die
Cesna einer nordamerikanischen Missionarsfamilie abgeschossen wurde.
Wahrscheinlich wichtiger für den Strukturwandel war jedoch die
Zerschlagung der großen Drogenorganisationen von Medellín und Cali
in der ersten Hälfte der 1990er Jahre, deren Geschäfte von
Dutzenden kleineren Organisationen (mehr und mehr auch von linken
Guerillas und rechten Paramilitärs) fortgeführt wurden, die aber
nicht mehr über die Verbindungen in die Anbaugebiete verfügten. Wie
auch immer: Ergebnis war ein Prozess der Importsubstitution. Die
Nachfolger der berühmt-berüchtigten „Kartelle“ kauften nun zu
Hause
ein. Zwischen 1995 und 2000 verdreifachte sich der Kokaanbau in
Kolumbien ungeachtet einer unter dem Druck Washingtons ab 1994
initiierten Besprühungskampagne von Kokafeldern mit Pflanzengift aus
der Luft. Der Anbau nahm unter dem Strich weiter zu, wurde aber durch
die Besprühungen zu einer extrem volatilen Angelegenheit. Es wurde
anderenorts weiter neu angebaut, oft auch prophylaktisch. Während er
zu Beginn der Kampagne auf sechs Provinzen beschränkt war, wurde
Koka im Jahr 2000 in 23 der 33 Departements angebaut.
Begleiterscheinungen waren fortschreitende Entwaldung zur Anlage
immer neuer Pflanzungen, Ausbreitung der Vergiftung von Böden und
Gewässern, nicht nur durch die Sprühflugzeuge, sondern vor allem
durch die großen Mengen von Chemikalien, die zur Weiterverarbeitung
nötig sind – und Bauernvertreibung.
Geist
aus der Flasche
Wir
halten fest: Weder hatte der Kokaanbau in Kolumbien historisch eine
Rolle gespielt, noch der Schlafmohnanbau in Afghanistan. Dorthin
fuhren die Hippies mit dem Magic
Bus
unter anderem
wegen des guten „Schwarzen Afghanen“ (Haschisch). Beim Anbau von
Schlafmohn zur Opiumgewinnung war das heutige Myanmar führend. In
Afghanistan fasste er in größerem Stil erst nach der sowjetischen
Invasion (1979) Fuß. Er diente Mudschahedin-Gruppen zur
Finanzierung, was im Westen toleriert wurde, weil man diese Gruppen
im Kampf gegen die sowjetischen Truppen unterstützte. Welchen Geist
man da aus der Flasche gelassen hatte, wurde nicht erst nach dem 11.
September 2001 deutlich. Der Krieg gegen die sowjetischen Invasoren
kostete nach verschiedenen Schätzungen zwischen 600.000 und zwei
Millionen Zivilisten das Leben. Nach deren Abzug versank Afghanistan
in Scharmützeln zwischen unterschiedlichen Mudschahedin-Gruppen, bis
Mitte der 1990er Jahre die Taliban die Macht übernahmen. Die
Opiumproduktion war inzwischen um das 15-fache angewachsen. Als die
Taliban 1996 in Kabul einmarschierten, erzeugte das Land bereits zwei
Drittel des Weltopiums. Freilich passte das streng genommen nicht zur
Ideologie der Islamisten und die Taliban erließen im Jahr 1999 ein
Anbauverbot bei drakonischen Strafen, womit er in den von ihnen
kontrollierten Gebieten gegen Null sank. Das Jahr 1999 hatte eine
Rekordernte von 4.565 Tonnen Opium gebracht und die Preise waren in
den Keller gegangen. Die Lager waren voll, und Schlafmohn ist – im
Gegensatz zu Koka –
eine einjährige
Pflanze. Zwischen Anbau und Ernte liegt nur ein gutes halbes Jahr.
Hintergrund des Verbots könnte also auch die Verhinderung eines
weiteren Preissturzes gewesen sein. Ob es von Dauer gewesen wäre,
weiß man nicht.
Denn
im Oktober 2001 begann die Operation
Enduring Freedom.
Bis zum Dezember waren die Taliban bereits weitgehend vertrieben, und
auf der Petersberger Konferenz bei Bonn wurde die Regierung unter
Hamid Karzai installiert. Es begannen 20 Jahre
„Sicherheitskooperation“ –
mit bekanntem Resultat.
„War
against Terror“
So
setzte mit der Jahrtausendwende sowohl in Afghanistan als auch in
Kolumbien eine Zeitenwende ein –
auch drogenpolitisch. In Kolumbien begann im Jahr 2000 der Plan
Colombia
zur
Aufstands- und Drogenbekämpfung
mit der Einrichtung von neun Militärbasen zur Ausbildung
kolumbianischer Spezialkräfte durch U.S.-Militärs. Von den 12,6
Milliarden USD des Plan
Colombia
waren zwei
Drittel Polizei- und Militärhilfe. Der Drogenhandel sei zur
wichtigsten Quelle der bewaffneten Aufständischen geworden, von der
man diese abschneiden wollte. Die Besprühungen mit Glyphosat wurden
noch einmal dramatisch ausgeweitet. Gesprüht wurde nun vor allem in
Gebieten, die von der Guerilla kontrolliert wurden. Ende des letzten
Jahrzehnts (FY 2010) erhielten mit Afghanistan (272,5 Mio. USD) und
Kolumbien (244,6 Mio. USD) zwei Schlüsselländer im „Krieg gegen
den Terror“ mehr als 50 Prozent des INL-Gesamtbudgets von 878,7
Mio. USD.
Ein
Kongressbericht vom Dezember 2020 –
an dem Demokraten und Republikaner mitgearbeitet hatten,
unterzeichnet noch von Donald Trumps Außenminister
Mike Pompeo – bezeichnet den Plan
Colombia
als
erfolgreich bei der Aufstandsbekämpfung, aber drogenpolitisch als
gescheitert. In der Tat: Kokaanbau und Kokainproduktion liegen auf
einem Allzeithoch. Und die Bereitschaft der FARC-Guerilla zu
Friedensverhandlungen hatte wohl eher militärstrategische
Hintergründe. Offenbar erlaubte moderne U.S. Militärtechnologie
(sog. high value
targeting), ihre
Camps unter dem Blätterdach der tropischen Wälder zu orten. Eine
Reihe ihrer Comandantes wurde auf diese Weise gezielt getötet oder
gefangen.
„You
are going to have to spray“, richtete Präsident
Trump dem amtierenden kolumbianischen Präsidenten Iván Duque bei
dessen Besuch in Washington Anfang 2020 aus. Nachdem die
Weltgesundheitsorganisation WHO erklärt hatte, Glyphosat sei
„möglicherweise krebserregend“, waren die Besprühungen im Jahr
2015 im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen der
Vorgängerregierung und den FARC eingestellt worden. Präsident Juan
Manuel Santos erhielt für das Friedensabkommen im Jahr 2016 den
Friedensnobelpreis. Nach sechs Jahrzehnten war der Kampf gegen die
älteste und größte Guerilla zu Ende.
Doch
in einer Volksbefragung stellte sich eine knappe Mehrheit gegen das
Friedensabkommen und die Regierung von Iván Duque, der von Anfang an
dagegen war, vollzog es seit 2018 nur widerwillig bis gar nicht. Eine
Fünfjahresbilanz sieht düster aus. Zwar verlief die Demobilisierung
der FARC weitgehend erfolgreich: 6.804 Kämpfer gaben 8.994 Waffen ab
und wurden in 19, von Polizei und Militär bewachten Transitional
Normalization Concentration Zones
untergebracht. Heute gelten 13.608 FARC-Kämpfer als demobilisiert.
Weniger erfolgreich verlief dagegen deren gesellschaftliche
Integration. Bis Ende Oktober 2021 wurden fast 300 ehemalige
FARC-Kämpfer ermordet. Taten, die fast immer straflos blieben.
Der
kolumbianischen Regierung ist es nicht gelungen, in den von den FARC
verlassenen Gebieten (rechts-) staatliche Präsenz herzustellen.
Außerstaatliche bewaffnete Gruppen füllten das Vakuum. Seit 2017
sind alle diese bewaffneten Gruppen stärker geworden. Amtliche
Zahlen sprechen von der Guerilla Ejercito
de la Liberación Nacional
(ELN, 2.200 Kämpfer), FARC-Dissidenten 5.500, kriminelle Banden
8.350 – zusammengenommen mehr als 16.000; NGO-Zahlen liegen noch
höher. Mord- und Totschlagsverbrechen haben in den ersten neun
Monaten des Jahres 2021 um 18 Prozent zugenommen, Massaker um 9
Prozent. Für Menschenrechts- und Ökoaktivisten ist Kolumbien das
gefährlichste Land der Welt. Auch Massenvertreibungen nehmen weiter
zu. Bis September 2021 registrierten die Vereinten Nationen 46.321
Fälle.
Nicht
erst seit der Verquickung von Drogen- und Terrorbekämpfung mündet
diese Art der martialischen Angebotsbekämpfung in ein
Nachhaltigkeitsdesaster: Seit Präsident Samper unter
Korruptionsvorwürfen Washingtons im Jahr 1994 zur Einwilligung in
das Besprühungsprogramm gedrängt wurde, hat man in Kolumbien rund
2,5 Millionen Hektar Koka vernichtet, etwa das 15-fache des
historischen Maximums der Anbaufläche (171.000 Ha im Jahr 2017). Bis
zum Jahr 2013 wurde laut Statistik alljährlich das Mehrfache dessen
„vernichtet“, was überhaupt vorhanden war –
das Gegenteil einer rationalen und nachhaltigen Strategie. Der
Kokaanbau ist dadurch zu einer extrem volatilen Angelegenheit
geworden. Verschwunden oder auch nur entscheidend vermindert ist er
nicht. Mit der besonders umstrittenen Besprühung
von Kokafeldern mit Pflanzengift aus der Luft kann man vielmehr von
einer regelrechten Bauernvertreibung sprechen. Bei einer
Gesamtbevölkerung von knapp 50 Millionen Menschen sind in Kolumbien
fast 8 Millionen Menschen auf der Flucht – vor allem infolge des
Bürgerkriegs. Kolumbien ist damit noch vor Syrien das Land mit den
meisten Binnenflüchtlingen. Die Politik der Kokavernichtung ohne
Nachhaltigkeit hat zum Problem unfreiwilliger Migration sicherlich
nicht unwesentlich beigetragen.
Kapitel
4 des Friedensabkommens von 2016 sah das bestausgestattete aber auch
ehrgeizigste Programm (PNIS – Programa
Nacional Integral de Sustitución de Cultivos de Uso Ilícito)
zur Kokareduzierung vor. Die Reduzierung sollte von den Bauern
freiwillig und bei einer Überbrückungskompensation erfolgen. Die
Regierung würde danach mit Programmen der Alternativproduktion und
Infrastrukturförderung eine Umstellung der bäuerlichen Produktion
auf legalen Anbau fördern. Auch wenn die vorgesehenen Fristen nach
allen Erfahrungen viel zu ehrgeizig waren. Ein Problem bestand darin,
dass verschiedentlich extra Koka angebaut wurde, um in den Genuss der
Kompensation zu kommen. Unter der Regierung Santos wurden immerhin
noch 106 solcher kollektiven Abkommen in 98 Gemeinden geschlossen.
Nachfolger Iván Duque war schon während seines Wahlkampfes dagegen
und das Programm wurde faktisch gestoppt. Kokaanbau sei eben einfach
illegal, sagte der Verantwortliche. Man kehrte zur zwangsweisen
Eradikation unter dem Schutz von Polizei und Militär zurück. Ein
Dekret erlaubt ferner die Rückkehr zur Besprühung mit Pflanzengift,
die jedoch nicht erfolgte, weil nunmehr Washington sich weigerte, es
weiter zu finanzieren. Freiwillige Kokaeradikation findet praktisch
überhaupt nicht mehr statt. Von den Familien, die sich auf das
Programm eingelassen hatten, erhielten nach Auskunft des
kolumbianischen Rechnungshofes bis zum Dezember 2020 nur 1 Prozent
das vollständige Hilfspaket. Die Enttäuschung ist groß und das
Misstrauen gegenüber der Regierung nahm zu. Bis Juli 2021 hatten
67.235 am PNIS teilnehmende Familien zusammen 44.294 ha. reduziert.
Und wo freiwillig reduziert worden war, waren bis Ende 2020 98
Prozent der Flächen auch kokafrei geblieben.
Ein
Monitoring-Bericht des Washington
Office on Latin America
(WOLA) über fünf Jahre Friedensprozess beklagt vor allem, dass
Kapitel 4, dem Kapitel 1 „Agrarreform“ davongeeilt sei und auch
an sich viel zu zögernd bis gar nicht umgesetzt wird. Denn
überraschenderweise: Wo es denn umgesetzt wurde, hat PNIS
erstaunlich gut funktioniert. Voraussetzung zum Erfolg sei eine
zivile Regierungspräsenz. Diese hat es nun noch schwerer. „Die
einzige Präsenz des Staates, die wir sehen, sind die
Eradikationstrupps, geschützt von Polizei und Militär“, klagen
betroffene Bauern.
Der
erwähnte WOLA-Bericht spricht von einem starken Abkommen und
mangelndem politischem Willen, es umzusetzen. Präsident Iván Duque
nannte es vor der UNO-Generalversammlung im September 2021 ein
„schwaches Abkommen mit der FARC-Terroristengruppe“. In der Tat
standen die FARC bis vor kurzem noch auf einer U.S.-Terrorliste,
wodurch für bestimmte Aspekte eine U.S.-Unterstützung blockiert
war. Bleibt die Hoffnung auf eine Wiederbelebung des
Friedensprozesses, wenn ab August 2022 eine neue Regierung die
Amtsgeschäfte in Bogotá führt.
Totalfiasko
in Afghanistan
Während
ich diese Zeilen schreibe, ist der Ukrainekonflikt zum Krieg geworden
und das Thema Waffenlieferungen ist entschieden. Teile der
veröffentlichten Meinung waren vorher bereits nicht müde geworden,
eine Aufrüstung der Ukraine zu fordern, um den Preis einer Invasion
in die Höhe zu treiben. Das ist nun plausibler denn je. Indes: Den
Hauptpreis zahlen jedenfalls immer Zivilisten. Manche Studien
sprechen von 80-90 Prozent der Todesopfer in kriegerischen
Auseinandersetzungen seit 1945. Und nicht zuletzt sollte man sich
über die – auch zukünftige –
innere Verfassung des Empfängerlandes
im Klaren sein. In Afghanistan haben westlicher Interventionismus und
Militärkooperation eben eine bestens mit modernem Kriegsgerät
ausgestattete Extremistengruppe an der Regierung hinterlassen.
Militärisch und geostrategisch ein Totalfiasko. Und wie steht es um
Wirtschaft und Gesellschaft? Nach zwanzig Jahren westlicher Dominanz
erlebte
das Land am Hindukusch gerade einen Hungerwinter. Schon vor dem
August 2021 war die Hälfte der Bevölkerung auf externe Hilfe
angewiesen. Die Nahrungsmittelimporte sind so hoch wie die
Eigenproduktion. Doch dafür ist kein Geld vorhanden. Die Exporte
(nach Indien, Pakistan und die Vereinigten Arabischen Emirate) lagen
im Jahr 2020 bei rund 780 Millionen USD; die Reserven der Notenbank
in Kabul schätzten die UN im letzten Herbst auf 362 Mio. USD in bar;
die (hauptsächlich in den USA) eingefrorenen Devisenreserven, über
deren Teilfreigabe aus humanitären Gründen man gerade nachdenkt,
auf 9 Mrd. USD. Laut einem Bericht der Vereinten Nationen vom
November 2021 besteht die Gefahr, dass 97 Prozent der Bevölkerung
unter die Armutsgrenze abrutschen.
Inmitten
dieser dramatischen Situation gibt es einen Bereich, der nach zwanzig
Jahren westlicher Sicherheitskooperation floriert: Drogen. In den
vergangenen fünf Jahren hat Afghanistan stets Rekordernten von über
6.000 Tonnen Opium eingefahren. Wenigstens hier konnte man also seit
Jahren sehen, dass da etwas schief läuft. Von 2020 auf 2021
verbuchte man einen Zuwachs um 8 Prozent auf nunmehr 6.800 Tonnen,
aus denen sich 270-320 Tonnen reines Heroin gewinnen lassen. Die
afghanischen Einnahmen aus dem Opiatgeschäft werden auf 1,8 – 2,7
Mrd. USD geschätzt und liegen damit weit über denen der legalen
Exporte – die Erlöse
auf den internationalen Märkten dürften bei 40 Mrd. liegen. Die
bäuerlichen Schlafmohnproduzenten beziehen daraus zirka 425
Millionen. Wie werden sich die Taliban dazu verhalten? Für
nichtstaatliche Akteure, wie Warlords, waren und sind Drogengeschäfte
jedenfalls eine formidable Einkommensquelle. Und während die
Preisentwicklung auf den internationalen Märkten zuletzt auf eine
Marktsättigung beziehungsweise Überproduktion hindeutete, hat die
Unsicherheit seit dem August 2021 die Preise in Afghanistan in die
Höhe schnellen lassen. Vor diesem Hintergrund ist eine neuerliche
Rekordernte 2022 vorprogrammiert.
Wer
sagt, dass zwanzig Jahre nach dem Beginn der Operation
Enduring Freedom
nur das Opiumgeschäft floriere, hat trotzdem Unrecht. Seit 2014
produziert Afghanistan auch Metamphetamin für die Märkte der
Region, und Cannabis erlebt eine Renaissance; hier liegen die
Hektarerträge mit 7.400 USD/ha im Verhältnis zum Opium (2.200)
sogar noch deutlich höher, die Bauern haben also mehr davon. Ein
eben von den Taliban verhängtes Verbot für Anbau und Produktion von
Drogen muss den Test auf seine Ernsthaftigkeit und Vollziehbarkeit
erst noch bestehen.
Der
deutsche Bundespräsident Frank Walter Steinmeier sagte seinerzeit
als frischgebackener Außenminister der Großen Koalition in seiner
Rede vor der Münchener Sicherheitskonferenz sinngemäß, die
Bundesrepublik sei zu wichtig, um das internationale Geschehen nur
von der Außenlinie zu kommentieren. Als jahrzehntelanger Beobachter
der internationalen Drogenpolitik hatte man sich damals schon
gewünscht, wenigstens dies wäre der Fall gewesen. Tatsächlich hat
man in Europa die desaströsen Interventionen Washingtons stets
mitgetragen – allenfalls noch arbeitsteilig begleitet im Sinne
einer entwicklungspolitischen Behübschung durch „Alternative
Entwicklung“, sozusagen als „Damenprogramm“ zum War
on Drugs. Heute
muss man sagen: Es ist höchste Zeit, mit blinder Gefolgschaft
aufzuhören und weiterhin dafür Geld aus dem Fenster zu werfen.
Projekte „Alternativer Entwicklung“ können einen Beitrag
leisten, wo die Rahmenbedingungen stimmen, wo politischer Wille und
Geduld vorhanden sind. Ein nachhaltig positives Gegenbeispiel ist das Thai-German Highland
Development Project.
Mit langem Atem (18 Jahre, von April 1981 – Dezember 1998) und
einem partizipativen Ansatz gelang es, den Opiumanbau im
thailändischen Projektgebiet von 9.000 Hektar auf 1.000 Hektar zu
reduzieren; seither fluktuiert er zwischen 400 und 900 Hektar. Es
geht nur mit den Bauern, nicht gegen sie. Nullsummenspiele sind
unrealistisch. Zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität sollte
man vor allem verstärkt dort ansetzen, wo es richtig weh tut: Beim
bisher arg vernachlässigten Kampf gegen Geldwäsche. Angesichts der
Herausforderungen durch neuartige Substanzen und die Vermarktung über
das Darknet scheinen Prävention und Therapie vielversprechender als
Verbote und Kontrollen. Man hilft den Betroffenen und
trägt indirekt dazu bei, den illegalen Markt auszudünnen.
Hardcore-Konsumenten und Suchtkranke stellen nämlich eine
verlässliche und relativ preisunelastische Dauernachfrage dar. So
verbrauchen beispielsweise in den USA ein Viertel der
Kokainkonsumenten zwei Drittel des geschätzten Angebots. Die
Debatten auf der Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen
(UNGASS 2016) zum Thema Drogen haben einen Weg in die richtige
Richtung aufgezeigt. Die Einbettung der Drogenpolitik in die
Nachhaltigen Entwicklungsziele der Agenda 2030 hat einen
entsprechenden Rahmen vorgegeben. Nun gilt es zu handeln. Die
internationale Drogenpolitik braucht keine Schönredner, sondern neue
Spielmacher.
Weitere Beiträge zum Thema weiter unten in diesem Blog.