Robert Lessmann
Es war Anfang des letzten Jahrzehnts in der Wiener UNO City. Juri Fedotow, ehemaliger Vizeaußenminister Russlands und diplomatisches Schwergewicht, war unlängst Chef des Drogenkontrollprogramms der Vereinten Nationen (UNODC – United Nations Office on Drugs and Crime) geworden, ein Posten, den er von 2010 bis 2020 innehatte. Als solcher leitete er höchstpersönlich eine Pressekonferenz, auf der eine internationale Initiative zur Drogenbekämpfung in Afghanistan vorgestellt wurde. Mit 123.000 Hektar war das Land am Hindukusch zum mit Abstand größten Produzenten geworden. Mit einem ausgewogenen Ansatz („balanced approach“) sollten unter anderem die Bauern vom Schlafmohn weg zur Produktion legaler Alternativen geleitet werden. Vielversprechend war vor allem die Beteiligung der Nachbarländer an Kontrollmaßnahmen und Fahndung, denn Afghanistan ist ein Binnenland. Der Weg auf die lukrativen Absatzmärkte führt über die Grenzen. Von den wichtigsten Anbauregionen im Süden (Provinzen Helmand und Kandahar) wurde der Export zu etwa zwei Dritteln nach Westen in den Iran und die Türkei abgewickelt, und dann über die Balkanroute nach Europa. Zu etwa einem Drittel ging die illegale Ware über Hunderte von Kilometern auf einem prekären, gleichwohl aber übersichtlichen Straßensystem (Dschungel gibt es keinen) und über eine Handvoll Grenzübergänge in die ehemaligen Sowjetrepubliken Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan nach Norden. Ehemalige Ostblockländer – allen voran Russland – waren inzwischen ebenfalls zu wichtigen Absatzmärkten vor allem für minderwertige Ware („Kompott“) geworden. Kein Vergleich also zu südamerikanischen Kokainspediteuren, die mit Flugzeugen, Hubschraubern und U-Booten operieren. Doch nicht einmal dies zu unterbinden gelang: Beschlagnahmungen in Afghanistan gingen gegen Null und Korruption spielte eine wesentliche Rolle dabei.
Fundamentales Scheitern
Zurück zur Pressekonferenz, an deren Ende niemand eine Frage stellte. Um das peinliche Schweigen zu durchbrechen, fragte ich, wer sich denn mit welchen Summen der Initiative angeschlossen habe - und vergrößerte damit die Verlegenheit. Bislang hatte die neue Strategie nämlich noch keinerlei zählbare Unterstützung verbuchen können.
Dass die westliche Sicherheitskooperation fundamental scheitern würde, hatte man im Drogenbereich lange vor der „überraschenden“ Machtübernahme durch die Taliban im Sommer 2021 sehen können. Als Juri Fedotow den Chefsessel des UNODC übernahm, war Afghanistan mit 123.000 Hektar bereits der mit Abstand wichtigste Schlafmohnproduzent. Und während die legale (Land-) Wirtschaft keinerlei Dynamik entfaltete, kletterte der Anbau weiter von einem Rekord zum nächsten, gebremst nur durch Marktsättigung und gelegentliche Missernten, etwa durch Trockenheit, wie in den Jahren nach dem Allzeithoch von 2017.
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Schlafmohnproduktion in Afghanistan (Hektar in ausgewählten Jahren)
1995 2000 2001 2002 2010 2017 2020 2022 2023
55.759 82.171 7.606 74.100 123.000 328.000 224.000 233.000 10.800
Quelle: UNODC: World Drug Report, Vienna, verschiedene Jahrgänge und UNODC: Afghanistan Opium survey 2023.
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Heute wirbt das UNODC abermals um Unterstützung für Afghanistans Bauern, um den drogenpolitischen Erfolg zu stabilisieren. Beides hat freilich nur geringe Aussichten auf Erfolg, denn das Emirat der Taliban ist Schlusslicht bei allen Menschenrechtsstandards, bekanntermaßen insbesondere was die Lage der Frauen betrifft, und wird von Gebern gemieden. Ihr Dekret „Prohibition of Poppy Cultivation and All Types of Narcotics“ vom 3. April 2022 umfasst nicht nur Anbau, sondern auch Konsum, Transport, Verarbeitung, Handel, Import und Export – und zwar aller Drogen. Am 8. März 2023 wurde es durch ein explizites Cannabis-Verbot noch einmal bekräftigt. Ein solches Verbot galt zwar auch schon vorher unter westlicher Aufsicht. Offenbar aber verfügten die Machthaber damals über geringe Autorität, Legitimität oder politischen Willen. Jedenfalls sind nach dem Dekret der Taliban die Anbauflächen von 233.000 Hektar (2022) auf 10.800 Hektar (2023) zurückgegangen. Umgerechnet in Opium entspricht das einem Rückgang von 6.200 Tonnen auf 333 Tonnen, in Heroin rein rechnerisch von 350-480 Tonnen auf 24-38 Tonnen (bei einer durchschnittlichen Reinheit der Exportware von 50-70 Prozent).
Für die leidgeprüften Menschen und die kollabierte Volkswirtschaft bedeutet das eine riesige Herausforderung. Schon vor der abermaligen Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 war die Hälfte der Bevölkerung auf externe Hilfe angewiesen, und die Nahrungsmittelimporte waren genauso hoch wie die Eigenproduktion. Doch für diese Importe fehlt nun das Geld. Afghanistans Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ist während der Herrschaft der Taliban gesunken: Um 20,7 Prozent im Jahr 2021 und um weitere 3,6 Prozent in 2022. Fast 80 Prozent der Bevölkerung leben von der Landwirtschaft, die in den letzten Jahren auch noch von Wasserknappheit betroffen war. Man durchlebt dort gerade einen weiteren Hungerwinter. Die Vereinten Nationen schätzen, dass der Rückgang der Schlafmohnproduktion für die bäuerlichen Produzenten Einkommenseinbußen von 1.360 Mio. US Dollar (USD – 2022) auf nunmehr 110 Mio. USD (2023) bedeutet. Eine schnelle Umstellung auf Weizen wäre problemlos möglich, für die defizitäre Nahrungsmittelversorgung wichtig und lässt sich in der Tat auch vielfach beobachten, brächte aber Einkommenseinbußen von rund 1 Mrd. USD mit sich. Im Jahr 2022 machten die Einkommen aus dem Opiumanbau 29 Prozent des gesamten Agrarsektors aus. Für die krisengeschüttelte afghanische Volkswirtschaft lagen die Exporterlöse des Opiumsektors stets über denen der legalen Exporte von Gütern und Dienstleistungen. Im Jahr 2021 betrugen sie schätzungsweise zwischen 1,4-2,7 Mrd. USD, was 9-14 Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukts entsprach, heute liegen sie bei 190-260 Mio. USD. Ob sich diese Einbußen auf Dauer verkraften lassen? Bei einer Gesamtbevölkerung von rund 40 Millionen Menschen stellt die Abschiebung von 4,4 Millionen aus Pakistan in ihr Heimatland eine zusätzliche Herausforderung dar. Und nun will auch der Iran afghanische Flüchtlinge loswerden. Das Opiumgeschäft war Afghanistans wichtigster und sicherster Wirtschaftszweig und fungierte so auch als Kreditsicherheit. Die Vereinten Nationen berichten, dass Bauern nun eine im Rahmen der „Alternativen Entwicklung“ geplante Umstellung auf einträglichere Produkte als Weizen, wie zum Beispiel Granatapfel, Mandeln, Pistazien und Asant, mangels Liquidität nicht mehr schaffen, denn die erfordert Investitionen und Geduld.
Unklare Konsequenzen
Bei der verbleibenden Schlafmohnproduktion im Land, vor allem in der Provinz Kandahar, lässt sich ein Trend zu kleineren, versteckten Flächen beobachten. In den vergangenen Jahren wurden 40-60 Prozent der Ernte in Form von Rohopium exportiert. Über die Qualität der Weiterverarbeitung zu Heroin im Lande selbst ist wenig bekannt. Sie dürfte stark variieren. Während die Herstellung von Heroin in Afghanistan allem Anschein nach zurückgeht, deutet vieles darauf hin, dass Händler nun Lagerbestände verkaufen – und die dürften nach Ansicht des UNODC nach mehreren aufeinanderfolgenden Rekordernten beträchtlich sein. Die allermeisten Bauern verkaufen ihre Ernte aber direkt und nur wenige verfügen über solche Bestände. Die Verknappung dürfte also nicht zuletzt größeren Produzenten und Drogenhändlern zugute kommen. In der Tat waren die farmgate-Preise für ein Kilogramm getrocknetes Opium im August 2023 mit 408 USD fünfmal höher als zwei Jahre vor der Machtübernahme durch die Taliban, als die Preise aufgrund immer neuer Rekordernten relativ niedrig waren.
Um die Auswirkungen auf den internationalen Drogenmärkten abzuschätzen sei es noch zu früh, sagt das UNODC. Normalerweise braucht es ein bis zwei Jahre, bis die Opiate zu den Konsumentenmärkten gelangen. Und auf dem Weg dorthin, dürfte es reichhaltige Lagerbestände geben. Theoretisch wäre eine Angebotsverknappung, ein Preisanstieg und sinkende Reinheit der Ware denkbar. Auch eine Hinwendung der Konsumenten zu billigeren und potenteren synthetischen Ersatzdrogen wie Fentalyl wäre zu befürchten. Fentanyl ist 100 Mal potenter als Morphin und wird häufig dem Heroin auch beigemischt. Fentanyl-Überdosen sind heute die häufigste Todesursache für US-Amerikaner zwischen 18 und 45 Jahren. Europa ist davon weit entfernt, doch Probleme mit Fentanyl nehmen auch hier zu.
Schließlich könnten mittelfristig andere Anbaugebiete die Lücke füllen. Bevor afghanische Mudschaheddin-Gruppen in den 1980er Jahren Opium als probates Produkt zur Finanzierung ihres Kampfes gegen die sowjetischen Besatzer entdeckten – und der Westen dies augenzwinkernd tolerierte – hatte der Anbau von Schlafmohn dort keine Rolle gespielt. Als die Taliban 1996 zum ersten Mal in Kabul einmarschierten erzeugte Afghanistan bereits zwei Drittel des Weltopiums. Beim vormaligen Marktführer Myanmar bröckelt heute die Herrschaft der Militärdiktatur. So erfreulich das ist, ein Machtvakuum würde ideale Bedingungen für eine mögliche Rückkehr der Drogenwirtschaft zu alter Größe dort schaffen. Myanmar ist schon heute wieder Nummer eins bei der Opiumproduktion. Und in Afghanistan selbst expandiert derweil die Produktion von Metamphetamin.
Wie dem auch sei: Ein erstes Anbauverbot durch die Taliban in den Jahren 2000/2001 hatte auf den Konsumentenmärkten keine Auswirkungen. Damals hatte man vermutet, die Taliban würden diese Maßnahme setzen, um auf der Grundlage voller Lagerbestände die Preise zu stabilisieren. Ob es ernst gemeint war, konnte man nicht mehr feststellen, denn Ende 2001 waren die Taliban durch die Operation „Enduring Freedom“ vertrieben und die Regierung Hamid Karzai auf der Petersberger Konferenz installiert. Der Opiumanbau war damals tatsächlich von 82.171 auf 7.606 Hektar gefallen. Aber 2002 hatte er bereits wieder alte Größenordnungen erreicht. Schlafmohn ist eine einjährige Pflanze. Zwischen Aussaat und Ernte liegen nur einige Monate. Weshalb also sollten die Taliban den dürren Halm kappen, an dem die Volkswirtschaft noch hängt? Aus religiösen Gründen, sagen sie heute wie damals. Vielleicht ist es einfach ein Versuch, mächtige Lokalfürsten und Warlords an die Kandare zu nehmen, die vom illegalen Geschäft profitier(t)en. Eine Frist erlaubte im letzten Jahr noch den Verkauf der Ernte 2022. Wie auch immer: Die Entscheidung ist problemlos reversibel.