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von Robert Lessmann Dr 13 Nov., 2024


Was passiert mit den einstigen Hoffnungsmodellen Lateinamerikas? Kuba und Venezuela läuft die Bevölkerung davon. In Nicaragua herrscht Ortega wie ein abschreckender Diktator. Und in Bolivien arbeitet der erfolgreichste Präsident, den das Land je hatte, heute mit Nachdruck an der Zerstörung seines Erbes und seines Ansehens. Die Berichterstattung unserer Medien – sofern sie von diesen Ländern überhaupt berichten – goutiert Wirtschaftskrisen und die Glaubwürdigkeit von Wahlen. Selten geht es darum, wie es den Menschen geht. Die Solidaritätsbewegung, Freunde und Sympathisanten sehen konsterniert zu – und schweigen.


Tobias Lambert blickt aus linker Perspektive hinter die Kulissen Venezuelas, das mit seinem „bolivarianischen“ Ansatz im neuen Jahrtausend ganz Lateinamerika mitreißen wollte. Er bereist das Land seit mehr als 20 Jahren und berichtet darüber. Kenntnis- und detailreich rekapituliert er die Vorgeschichte und den politischen Prozess unter Hugo Chávez (im Bild auf der Klimakonferenz von Cochabamba, 2010) und danach, bespricht Wahlergebnisse und politische Trends auf der Linken wie auf der Rechten. An vielen Stellen vermisst man im Text regelmäßige Jahreszahlen, die helfen würden, in der Komplexität den roten Faden nicht zu verlieren. Eine Zeittafel wäre eine hilfreiche Ergänzung bei allen weiteren Auflagen.


Drei Linien treten in Lamberts Analyse als Erklärung hervor: erstens der fragile Extraktivismus. Man könnte auch sagen, ein auf die Einkommen aus dem Export nicht erneuerbarer Rohstoffe (Erdöl im konkreten Fall) gestützter politischer und gesellschaftlicher Voluntarismus. Man hat zwar immer gewusst: „hay que sembrar el petroleo“ (man muss die Öleinnahmen säen, die Wirtschaft diversifizieren), es aber nicht getan. Die Korruption im Land wurde durch den Exportboom noch gefördert. Mit sinkenden Weltmarktpreisen bracht die Krise aus.


Zweitens: Die zentrale Rolle einer charismatischen Führungsperson, auf die sich das Projekt stützt und ins Wanken gerät, wenn diese wegbricht. Je stärker das Modell wirtschaftlich und politisch unter Druck geriet, desto mehr reagierte es mit antidemokratischen und repressiven Praktiken, intransparenten Privatisierungen, Teilliberalisierungen unter Beibehaltung staatlicher Kontrollen, steuerfreien Importen von denen eine neue, sogenannte „Bolibourgeoisie“ profitierte. Vom Sozialismus des 21. Jahrhunderts ist nur gelegentlich noch die Rede.


Und drittens die unverbrüchliche Feindschaft der alten Eliten, der nationalen wie der internationalen. In diesem Zusammenhang wird in Lamberts Buch deutlich, wie desolat und zerstritten die venezolanische Opposition zumeist war (und ist), und wie sie trotzdem von Washington und seinen Verbündeten unterstützt wird, egal wie chaotisch sie daherkommt. Man denke nur an die Anerkennung der „Präsidentschaft“ von Juan Guaidó. Nebenbei wirft das auch ein Schlaglicht auf viel kritisierte Allianzen mit Schurkenstaaten wie dem Iran oder Weißrussland. Mit wem, so könnte man sich in europäischen Hauptstädten fragen, sollte ein Präsident denn Beziehungen anknüpfen, auf den Washington ein millionenschweres Kopfgeld aussetzt?


Das Buch behandelt zuletzt sogar noch das umstrittene Wahlergebnis von 2024. Regierung und Opposition reklamieren den Wahlsieg für sich. Washington und seine Verbündeten glauben der Opposition. Beide Seiten behaupten, dass sie ihn dokumentieren können. Wer es definitiv und lückenlos könnte, wäre die Regierung Maduro, woran Lambert keinen Zweifel lässt. Dass sie es nicht tut, schmälert einmal mehr ihre Glaubwürdigkeit, nun auch für die befreundeten Regierungen in Kolumbien und Brasilien, die von der venezolanischen Krise ja mit betroffen sind. Das katastrophale Patt (Antonio Gramsci) zwischen einer repressiv sich an der Macht haltenden Regierung und einer Opposition, von der leider auch nichts zu erwarten ist, können nur die Venezolanerinnen und Venezolaner selbst aufheben. Und darauf besteht vorerst leider wenig Hoffnung.


Wie auch immer: Wer zu Venezuela mitreden will, sollte Lamberts Buch lesen.


Tobias Lambert: „Gescheiterte Utopie? Venezuela ein Jahrzehnt nach Hugo Chávez“, Mandelbaum Verlag, Wien, 2024, 238 S., € 23.-



von Robert Lessmann Dr 15 Aug., 2024

Vorweg: Außenpolitik spielt im US-Wahlkampf eine Nebenrolle und Lateinamerika so gut wie gar keine, sieht man von Migration, Drogen und Rohstoffen (Öl, Lithium) ab. Das ist nicht neu: Coletta Youngers, bis vor Kurzem jahrzehntelange Mitarbeiterin des renommierten Washington Office on Latin America nennt auch die Lateinamerikapolitik der Regierung Biden-Harris „awful“ (heillos – um hier die schwächstmögliche Übersetzung zu gebrauchen).


Ausgerechnet General Laura Richardson, Chefin des für Südamerika zuständigen US Southern Command der Streitkräfte, beklagte im letzten Jahr mehrfach öffentlichkeitswirksam, dass die Vereinigten Staaten im Ringen um Rohstoffe ins Hintertreffen geraten seien, insbesondere im Lithiumdreieck: Argentinien, Bolivien, Chile. Ziel müsse es sein (wörtlich) „to box out our adversaries, box out our competitors“ (Widersacher und Konkurrenten wegzuboxen). Diplomatie stellt man sich in den betroffenen Ländern anders vor.


Vizepräsidentin Harris führte eine Initiative zur Eindämmung des Migrantenstroms an und konnte in diesem Zusammenhang mehr US-Hilfen für zentralamerikanische Länder durchsetzen sowie Direktinivestitionen von US-Unternehmen einfädeln. Auch wenn für viele NGOs, die in den USA zu diesem Thema arbeiten, die ganze Strategie fragwürdig ist: Der Ansatz, in Zusammenarbeit mit lokalen Akteuren Fluchtursachen zu bekämpfen, unterscheidet sich deutlich von der menschenverachtenden Mauerbaurhetorik der Vorgängerregierung unter Trump. Harris gilt als besonnene, abwägende Politikerin, die langfristig denkt und nachhaltige Lösungen anstrebt statt publicityträchtige Schnellschüsse. Den frischgebackenen guatemaltekischen Präsident Bernardo Arévalo hatte sie im Weißen Haus empfangen.


Harris war allem Anschein nach direkt in die Verhandlungen zum Häftlings-/Geiselaustausch mit Moskau eingebunden, was ein Plus auf der Habenseite für sie und Präsident Biden darstellt. Und sie ist deutlich kritischer gegenüber der israelischen Kampagne in Gaza und lauter in ihrer Forderung nach humanitärer Hilfe für die Menschen dort. Doch sicherlich kann sie nicht allzu kritisch gegenüber ihrer eigenen Regierung sein. Und was in näherer Zukunft mit dem Pulverfass Nahost geschehen wird, weiß niemand.


Kamala Harris prägte den Begriff „smart on crime“ (klug oder clever bei der Kriminalitätsbekämpfung), galt als Staatsanwältin aber eher als Hardlinerin. Zum Thema Drogen hat sie sich nicht explizit geäußert. Man darf annehmen, dass sie hier für Kontinuität der Biden-Administration steht und eine Fortsetzung der Angebotsbekämpfung. Und obwohl hier heutzutage Fentanyl und andere künstliche Opioide mit jährlich mehr als 100.000 Toten durch Überdosen klar das Hauptproblem darstellen – sie sind die häufigste Todesursache für Männer zwischen 18 und 50 Jahren in den USA und Opioide werden überwiegend aus Mexiko importiert – gilt das auch für die klassischen, pflanzengestützten Substanzen wie Kokain, wobei hier die Hoffnung besteht, dass eine über Jahrzehnte ergebnislose Politik mit hohen Nebenkosten für die betroffenen Länder stillschweigend einschläft. Seit Beginn der Opioid-Krise im Jahr 2020 starben laut World Drug Report der UN rund eine halbe Million Menschen an Überdosen – und auch wenn hier aktuell die Zahlen leicht rückläufig sind, bleibt die Situation sehr ernst und die Verfügbarkeit noch potenterer illegaler Drogen, sogenannter Nitazene, gibt zu neuer Besorgnis Anlass (UNODC, World Drug Report 2024).


Außenminister Antony Blinken sprach bei seiner Intervention auf der UN Commission on Narcotic Drugs im vergangenen Frühjahr in Wien ausschließlich über die Opioidkrise in seinem Land. Unterdessen ist im aktuellen Wildlife Crime Report desselben UNODC (ebenfalls 2024) zu lesen, dass mexikanische Drogenorganisationen auch im illegalen Fischfang involviert sind, wo sie einen Teil ihrer Gewinne investiert haben. Würde man die Dinge in der Zusammenschau betrachten, könnte man sehen: Ob Kokain oder Fentanyl, längst sind wichtige Akteure zu multidivisionalen kriminellen Unternehmen geworden, denen mit den herkömmlichen, eindimensionalen Ansätzen nicht beizukommen ist. Wann besinnt man sich auf Giovanni Falcone, der im Fall der italienischen Mafia forderte: „ Follow the money!“ ? Und zwar konsequent.


Damm gegen Rechts

Als sich Anfang Juli die Präsidenten der MERCOSUR-Mitgliedsländer in Asunción/ Paraguay trafen, um die Aufnahme Boliviens als Vollmitglied der Wirtschaftsgemeinschaft zu feiern, fehlte Argentiniens Javier Milei. Der selbsternannte Anarchokapitalist nahm lieber neben Jair Bolsonaro, dessen Sohn Eduardo (der als Bindeglied zu rechtsextremen Parteien Europas fungiert) und dem gescheiterten Präsidentschaftskandidaten Antonio Kast aus Chile an einem zeitgleich stattfindenden Treffen der Confederación de Acción Política Conservadora (CPAC) im brasilianischen Santa Catalina teil. Die internationale Rechte ist vernetzt. Ebendort verkündete der notorische Speiseöl-Tykoon Branco Marinkovic seine Absicht, bei den im nächsten Jahr in Bolivien angesetzten Präsidentschaftswahlen zu kandidieren. Marinkovic ist eine langjährige Schlüsselfigur der extremen Rechten in Bolivien. Er war dort wesentlich am Zivilputsch von Santa Cruz 2008 beteiligt und nach der Machtergreifung der Rechten (2019) im Jahr 2020 kurzzeitig auch Wirtschaftsminister in der sogenannten „Interimsregierung“ von Jeanine Añez.


Bedauert wurde in Santa Catalina die Abwesenheit des wahlkämpfenden Expräsidenten Donald Trump, doch dessen ehemaliger Chefstratege Steve Bannon, der seit 1. Juli eine Haftstrafe wegen Missachtung des Kongresses absitzt, gilt als Koordinator rechter Netzwerke weltweit. Der Horror vor einer erneuten Präsidentschaft von Donald Trump ist womöglich die größte Stütze der demokratischen Kandidatin, gerade bei frustrierten, aber politisch wachen jungen Wählerinnen und Wählern, um deren Reaktivierung an den Wahlurnen sie sich besonders bemüht. Auch wenn die progressiven Kräfte eines Tages womöglich von einer Harris-Adminstration enttäuscht sein werden – so, wie sie es auch von Clinton und Obama waren –, ist es doch das Gebot der Stunde, einen weiteren Vormarsch der gesellschaftspolitisch reaktionären, neonationalistischen und xenophoben Kräfte von Putin über Orban und Erdogan bis hin zu Bolsonaro und eben Trump zu verhindern. Da steht einiges auf dem Spiel – wie wir wissen auch in europäischen Ländern wie Frankreich oder Österreich.


Unterschätzte Vizepräsidentschaft

In den Vereinigten Staaten kursiert ein Witz: Fragt ein Mann den anderen: „Was ist eigentlich aus Ihren Kindern geworden? Man hat lange nichts von ihnen gehört!“ Antwort: „Der eine ist Matrose, der andere Vizepräsident.“ Eine Vizepräsidentschaft gilt als undankbarer Job, der wenig Aufmerksamkeit verspricht. Dem oder der Vize werden gerne unlösbare Aufgaben übertragen. Insofern mag Kamala Harris als Präsidentin im Amt womöglich für viel mehr stehen als für eine ehemalige Staatsanwältin, die nun die erneute Präsidentschaft eines verurteilten Straftäters verhindert. Eine Vizepräsidentschaft ist jedenfalls alles andere als das Tor in die politische Versenkung. Immerhin 15 von 49 US-Vizepräsidenten wurden später Präsident. Manche durch Tod, wie Lyndon B. Johnson für den ermordeten John F. Kennedy, oder wegen eines Rücktritts, wie Gerald Ford für Richard Nixon. Der wiederum hatte es als ehemaliger Vize im zweiten Anlauf geschafft, zum Präsidenten gewählt zu werden. George Bush (sen.) schaffte es nach zwei Amtszeiten von Ronald Reagan direkt, Joe Biden nach einer Amtszeit von Donald Trump. Unter den bisher 49 Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten ist Kamala Harris die erste und einzige Frau. Sie hat gute Chancen, die sechzehnte ehemalige Vizepräsidentin unter dann 47 Präsidenten zu werden und damit die historische erste Frau in diesem Amt.


Ihren Vizepräsidentschaftskandidaten dürfte sie nach wahlstrategischen Überlegungen ausgewählt haben. Jedenfalls wird das gegenwärtig so diskutiert. Doch Tim Walz mag darüber hinaus eine Rolle spielen, wenn es darum geht, in einer Harris-Walz-Administration stärker auf Diplomatie zu setzen statt auf militärischen Interventionismus. Seinen Wahlkampf zum Kongressabgeordneten führte er 2006 in Opposition zum Irakkrieg. Später führte er im Kongress eine Gruppe von Demokraten an, die Präsident Barack Obama vor einem Eintritt in einen Krieg in Syrien warnte, und er trat für eine Resolution zur Beendigung der Unterstützung Saudi Arabiens bei dessen Krieg im Jemen ein. Daneben unterstrich er anlässlich der Öffnungspolitik unter Präsident Obama 2016/17 die wechselseitigen Chancen eines möglichen Handels mit Kuba. Dazu kam es dann freilich nicht.


Kamala Harris’ National Security Advisor Philip H. Gordon schließlich beschreibt in seinem letzten Buch „Losing the Game: The False Promise of Regime Change in the Middle East“ von 2020, wie alle US-Versuche, im Mittleren Osten Regimewechsel herbeizuführen, scheiterten. In der Einführung zu diesem Buch nimmt er Bezug darauf, dass auch alle diesbezüglichen Versuche im 20. Jahrhundert in Lateinamerika im Fiasko endeten.


Dollardemokratie

Dass der Zustand der Demokratie in den Vereinigten Staaten besorgniserregend ist, weiß man nicht erst seit der Kandidatenwahl bei den Republikanern, die von sich selbst gern als von der „Grand Old Party (GOP)“ sprechen, und dem Sturm auf das Kapitol nach der von Trump verlorenen Wahl. Während man sich weltweit als Wächter der Demokratie geriert, spielt hier der Dollar eine entscheidende Rolle. In der Demokratischen Partei hielt man trotz aller Zweifel an einer Kandidatur Joe Bidens fest, bis die Wahlkampfspenden wegbrachen. Und Kamala Harris setzte zum Höhenflug an und wurde im Eilverfahren nominiert, als diese auf Rekordniveau kletterten. Da ist es einmal mehr alarmierend, wenn der steinreiche Gegenkandidat mit Elon Musk den reichsten Mann der Welt als glühenden Verehrer und Wahlkämpfer an seiner Seite hat, der für seine Extravaganzen bekannt ist und sich gleich auch noch selbst als möglichen Minister vorschlägt. Daher: The Kamalamania must go on. Nicht nur, weil die Alternative eine Katastrophe wäre. Es gibt auch Anlass zu vorsichtigem Optimismus.

von © Robert Lessmann Dr 12 Juli, 2024

Es hat ein „bisserl“ gedauert bis die deutsche Übersetzung erschienen ist. Schon bei Leonardo Paduras Wienbesuch im letzten Jahr war viel von „Personas decentes“ die Rede. Von zwei Kriminalfällen würde der Roman handeln und von zwei Hoffnungsmomenten. Havanna sei letztlich die Hauptperson.


In der Tat ist es wohl der kriminalistischste von Paduras Kriminalromanen, dessen Bücher darüber hinaus als die besten soziologischen Studien über seine Heimat Kuba gelten, wo es unabhängige soziologische Studien ja nicht gibt. Von der ersten Seite an wird man unentrinnbar in den Strudel der beiden Geschichten hineingezogen. Der Detektiv Mario Conde hilft seinen früheren Polizeikollegen bei der Aufklärung von zwei grausamen Morden, weil diese gerade alle Hände voll mit dem Besuch des US-Präsidenten Barack Obama und der Rolling Stones zu tun haben. Wir schreiben das Jahr 2016. Parallel dazu erzählt der Polizist Teniente Arturo Saborit von Prostituiertenmorden in Havanna von 1909/10, das nach der Unabhängigkeit von 1902 boomt und wo nichts unmöglich scheint.


Interessant sind dabei die Parallelen der Hintergrundkulissen, die Padura mit großem historischen und soziologischen Wissen aufbaut. Hier atemberaubende Gegensätze zwischen Arm und Reich und ein Sumpf von Korruption und Intrigen, wo Zuhälterclans nach belieben schalten und walten, bis sie um die Vorherrschaft kämpfen. Im Rampenlicht der Erzählung steht hier der schillernde Zuhälter Alberto Yarini, eine reale Person. Dort zwei Mordopfer, die vor einem halben Jahrhundert, im sogenannten quinquenio gris (dem grauen Jahrfünft) für die schlimmste Willkür, für Spitzeltum und Repression gegen unangepasste Künstler verantwortlich waren – und die nebenbei in Kunstraub und Hehlerei verstrickt sind.


Der „Erzpessimist“ Mario Conde lässt sich von der Öffnungseuphorie nicht anstecken. Schon ganz zu Anfang des Buches erinnert er sich, wie in seiner Jugend heißbegehrte Raubkopien illegaler, „subversiver“ Musik in Umlauf waren: „ A hard days night “ – 1964 war das. Wieso sollte er heute, als „alter Knacker“ beim Besuch der Stones euphorisch werden? Der Autor dieser Rezension forschte vor dreißig Jahren zu den Wirtschaftsreformen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks („Empresas mixtas en Cuba“, 1994) und warnte auch angesichts der Halbherzigkeit ihrer Umsetzung vor Rechtsunsicherheit und der „Gefahr einer Generalisierung des Illegalen“, später vor einem entstehenden „Untergrundkapitalismus“. Heute ist dieser der Wachstumssektor in einer Wirtschaft, die ansonsten von Stillstand geprägt ist und von Depression in den Köpfen der Menschen. Seit 2021 sollen eine halbe Million Menschen die Insel verlassen haben. Überwiegend junge, gebildete. Ein gewaltiger Verlust in einer Elfmillionen-Gesellschaft mit sehr niedriger Geburtenrate. Inzwischen soll die Bevölkerungszahl auf unter 10 Millionen gesunken sein. (PS: Eine Studie vom Juli 2024 spricht gar von nur 8,6 Millionen.)


In der Bar, in der Mario Conde während des Booms von 2016 als Aufpasser arbeitet, spendiert er einem Polizeikollegen ein Bier, das soviel kostet wie der in zwei Tagen nicht verdient. Der Laden floriert nicht zuletzt, weil regelmäßig ein „großer Unbekannter“ mit seiner Entourage dort verkehrt, der ihn protegiert. Anspielung oder Fiktion? Noch zur Zeit Fidel Castros kursierten Gerüchte, wonach ein bestimmter Paladar (privat geführtes Restaurant) regelmäßig von einem prominenten Politiker besucht würde. Dort wurden auch Meeresfrüchte serviert, die eigentlich für Paladares damals strikt tabu waren. Jener prominente Politiker wurde später Präsident. Etwa zur selben Zeit sprach der Rezensent mit einer jungen Frau, der man die Lizenz für ihren Paladar entzogen hatte, weil sie zu Tagen der Hochkonjunktur (Exportmesse Expokuba) eine Nachbarin gebeten hatte, beim Putzen zu helfen. Die Mutter von zwei Kindern verdiente ihr Geld nunmehr als Gelegenheitsprostituierte. Die Parallelen zwischen Condes „großem Unbekannten“ und meinem prominenten Politiker mögen fiktiv sein. Verzweiflung und Depression der Menschen sind angesichts der wirtschaftlichen Dauerkrise sehr real. Leonardo Padura lässt sie spürbar werden ohne dass seine Protagonisten die Liebe zu ihrer Heimat verlieren.

Conde „drehte sich um. Ein grandioser Impala Cabriolet, Baujahr 1958, rollte langsam über die Avenida. Auf der Rückbank und den Türen saßen drei Frauen und zwei Männer, ausgestattet mit Strohhüten und Bierdosen, und brachten in voller Lautstärke ihre Begeisterung über die Spazierfahrt zum Ausdruck, die der Chauffeur ihnen ermöglichte. An der durch die Tropensonne bereits geröteten hellen Haut wie auch an ihrer Kleidung und dem betrunkenen Gegröle waren sie mühelos zu erkennen: es handelte sich um US-amerikanische Touristen, schließlich kehrten die Gringos jetzt auf die Insel zurück, um sich mit eigenen Augen einen Eindruck davon zu verschaffen, wie die Bewohner dieses realsozialistischen Themenparks ihren Alltag organisierten. Es war derselbe Ort, wo die Großeltern dieser Touristen einst dem Spaß an Rum, Musik und Sex gefrönt hatten, in den zahllosen Kabaretts, Kasinos, Bars und Bordellen dieser offenen, dem Laster verfallenen Stadt. (…) Jetzt waren sie also wieder da, und ihre Dollars waren mehr wert denn je.“ (S. 89)

von © Robert Lessmann Dr 04 Juli, 2024

„Hegel bemerkt irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Ereignisse und Personen sich sozusagen zweimal ereignen: das eine Mal als große Tragödie, das andere Mal als Farce“, schrieb Karl Marx in „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ in Anspielung auf einen Staatsstreich, der die Französische Revolution gewissermaßen konterkarierte.


Am 26. Juni 2024 um 14.30 fuhr ein halbes Dutzend gepanzerter Fahrzeuge auf der Plaza Murillo von La Paz auf, wo Parlament und Präsidentenpalast Boliviens liegen. Eines der Fahrzeuge rammte die Eingangstür zum alten Präsidentenpalast ( Palacio Quemado, der verbrannte oder brenzlige Palast, wie er wegen seiner bewegten Vergangenheit heißt). Dort kam es zu einer verbalen Konfrontation zwischen Armeechef Juan José Zúñiga und Staatspräsident Luis Arce, der ihn aufforderte, nach Hause zu gehen, was der General mit „no“ beantwortete, dann aber doch auf die Plaza zurückkehrte, wo er vor der Presse Statements abgab und in seinem verdunkelten Panzerfahrzeug lange per Handy telefonierte: Das Land sei in der Krise. Es könne so nicht weiter gehen. Man wolle das Kabinett austauschen, Neuwahlen ausrufen und die politischen Gefangenen freilassen. Um 17:30 war der Spuk zu Ende. Die Militärs zogen Richtung ihrer Kaserne im Stadtteil Miraflores ab, wo Zúñiga sowie die ihn begleitenden Chefs von Marine, Juan Arnez, und Luftwaffe, Marcelo Zegarra, gegen 19:00 Uhr verhaftet wurden. Präsident Arce hatte zwischenzeitlich neue Oberkommandierende eingesetzt, die den Rückzug anordneten.


Die gute Nachricht: Es soll nur neun Verletzte gegeben haben. Die sozialen Organisationen und die Zivilgesellschaft standen unverzüglich zur Verteidigung der Demokratie parat. Massen von Zivilisten strömten zur Unterstützung der Regierung auf die Plaza Murillo. Der Gewerkschaftsbund COB und die Landarbeitergewerkschaft CSUTCB riefen zum Generalstreik auf. Eva Copa, die Bürgermeisterin der zweitgrößten Stadt, El Alto, wo sich wichtige Militäreinheiten befinden, rief mit der Verfassung in der Hand die Bevölkerung dazu auf, die Straßen zu blockieren. Alle politischen Kräfte, einschließlich der inhaftierten Drahtzieher der rechten Machtergreifung von 2019, deren Freilassung Zúñiga gefordert hatte, verurteilten zunächst den Putschversuch.


Die Ereignisse zeigen freilich auch, wie fragil die vormals so stabilen Verhältnisse inzwischen wieder sind. Kaum war der bemerkenswert dilettantische Putschversuch gescheitert, versuchten die politischen Akteure Kleingeld daraus zu ziehen und sprachen von ‚ autogolpe ‘, einem selbstinszenierten Coup, der das Image des Präsidenten habe stärken sollen. In der Tat galt General Zúñiga als Vertrauter Arces, war von diesem vor anderen Kandidaten erst im November 2022 zum Armeechef befördert worden. Beide waren wohl noch am Wochenende zuvor bei einem Basketballmatch zusammen gesehen worden. Zusätzlichen Auftrieb hatte diese Version durch Zúñiga selbst bekommen. Nachdem klar wurde, dass sein Unternehmen scheitern würde, hatte er vor der Presse behauptet, Arce selbst habe ihn um diese Inszenierung gebeten. Glaubwürdig?


Tatsache ist, dass General Zúñiga zwei Tage zuvor bei einem Fernsehinterview, das er im Stile eines Staatschefs gab, seine Kompetenzen krass überschritten hatte. Unter anderem hatte er damit gedroht, den Arce-Widersacher, Expräsident Morales, zu verhaften, sollte dieser bei den im nächsten Jahr anstehenden Wahlen wieder kandidieren. Das Militär sei der bewaffnete Arm des Volkes. Am nächsten Tag wurde ihm vom Verteidigungsminister seine Entlassung mitgeteilt, diese aber noch nicht offiziell kommuniziert. Am nächsten Morgen wurden ab 9:30 irreguläre Truppenbewegungen gemeldet. Zúñiga und die anderen Beteiligten waren für ihre politischen Vorgesetzten nicht mehr erreichbar. Zúñiga selbst beklagte sich auf der Plaza Murillo gegenüber der Presse darüber, dass gegenüber der Armee Treue mit Untreue vergolten würde. Die Kurzschlusstat eines beleidigten Egomanen?


Tragödie oder Farce?

Wie bei der Machtergreifung der Rechten 2019 wurde deutlich, dass die politische Führung das Militär nicht im Griff hat. Auch Armeechef Williams Kalimán, der Morales damals zum Rücktritt aufforderte, hatte sich ja stets als dessen Parteigänger und als ‚ soldado del proceso de cambio‘ bezeichnet. Hatte Zúñiga darauf gesetzt, dass Arce angesichts der Panzerfahrzeuge die Flucht ergreifen würde? Bei Morales hatte ja schon eine mündliche Aufforderung genügt. Diente sein Telefonieren dazu, Verstärkung herbeizurufen, die nicht eintraf? Möglicherweise werden die Gerichtsverfahren Klarheit bringen. Jedenfalls scheinen die bisherigen Ermittlungen darauf hinzudeuten, dass wohl mehr dahinter steckte, als es zunächst den Anschein hatte. Insgesamt wurden mehr als zwanzig hohe Militärs inhaftiert, darunter auch der Chef einer Eliteeinheit aus der Stadt Cochabamba, die fünf Scharfschützen zur Plaza Murillo entsandt hatte. Einschlägige Planungen seien seit Mai gelaufen und ein Soziologe, der im Verteidigungsministerium gearbeitet hatte, wurde unter dem Verdacht, der ideologische Kopf zu sein, ebenfalls verhaftet.


Nicht zuletzt sprachen manche Äußerungen und Forderungen Zúñigas vielen Bolivianerinnen und Bolivianern aus der Seele. Die Regierungspartei MAS ist zwischen Anhängern des amtierenden Präsidenten Arce und des Expräsidenten Morales gespalten. Beide Lager halten getrennte Parteitage ab. Erst Anfang Mai hatte das Arce - Lager mit Grover García einen eigenen Parteichef gewählt, ein Amt, das auch Evo Morales für sich in Anspruch nimmt. Die mächtigen sozialen Bewegungen, die die Regierungspartei MAS tragen, sind ebenfalls gespalten. Parteitage und ihre Ergebnisse werden jeweils von der Gegenseite vor dem Wahlgerichtshof angefochten. Im Parlament fliegen zwischen Angehörigen beider Lager mitunter auch die Fäuste. Die reguläre Opposition scheint nach dem Fiasko der von ihren Parteien getragenen „Interimsregierung“ von 2019/2020 nicht vorhanden.


Aktuell tobt der Streit um eine Parlamentssitzung, die der Senatspräsident Andrónico Rodríguez ( evista ) einberufen hatte, was – so die arcistas – nur dem Parlamentspräsident David Choquehuanca ( arcista ) vorbehalten sei. Der Oberste Gerichtshof, der darüber urteilen kann, wird nicht anerkannt, weil seine Angehörigen ihr Mandat selbst verlängert haben. Schon seit einem halben Jahr hätten Nachfolger gewählt werden müssen, was wiederum wegen der Paralysierung des Parlaments nicht möglich war.


Das Morales - Lager hatte für den 27. Juni zu Straßenblockaden aufgerufen. Die Transportunternehmer blockieren wegen der Treibstoffknappheit ohnehin. Daneben leidet das Land wegen sinkender Gaspreise und Fördermengenunter Devisenknappheit. Man hatte es versäumt, rechtzeitig neue Quellen zu erschließen und die Regierung beklagt nun, dass die Opposition zusammen mit den evistas Kredite blockiere, die für Neuerschließungen nötig wären. Die Nutzung der reichlichen Lithiumvorkommen wiederum kommt seit anderthalb Jahrzehnten nur schleppend voran. Erst unlängst wurde der staatliche YLB (Yacimientos de Litio Bolivianos) von einem Korruptionsskandal geschüttelt. Angesichts dieser Probleme haben viele Bolivianerinnen und Bolivianer den Eindruck, dass sich maßgebliche Politiker nur um ihre Karriere – sprich: ihre Kandidatur bei den 2025 bevorstehenden Wahlen - kümmern, allen voran der 2019 gestürzte, einstige Hoffnungsträger Evo Morales. Dessen Vizepräsident und Berater aus besseren Tagen, Álvaro García Linera, sieht eine große Gefahr für die Institutionalität und die Demokratie in Bolivien.* Das Spiel mit dem Feuer – sprich: dem Militär – sei gefährlich . Besonders in einem Land mit der Putschtradition Boliviens. In der Tat mag fortgesetzte politische Verantwortungslosigkeit dazu führen, dass die Menschen eines Tages mit dem Militär die Hoffnung verbinden, das Chaos zu beseitigen.


* Álvaro García Linera: „Lo malo es que, en esta pelea intestina, muy egoista, muy mezquina, están jugando con monstruos. De un lado y del otro, están jugando con los militares y eso es muy peligroso. No se puede banalizar la presencia militar en la política. No se puede banalizar el mal, decía Hannah Arendt. Es algo muy peligroso. Más aún en Bolivia, que tiene un historial récord en el mundo de golpes de Estado. (…) la diferencia entre ambos nace de una mirada muy obtusa de sus luchas personales, sin entender que están jugando con fuego.“


von © Robert Lessmann Dr 14 Mai, 2024

Oft betraf und betrifft Außenseitersein oder Ausgrenzung auch Künstler, die dann Sezessionen gründeten oder gar der Spionage beschuldigt wurden, wie beispielsweise Caspar David Friedrich. Dem brasilianischen Kurator Adriano Pedrosa (künstlerischer Leiter des Museu de Arte von São Paulo) ist es – nicht nur, aber auch – zu verdanken, dass der globale Süden auf dieser ältesten internationalen Kunstbiennale (seit 1895) so stark vertreten ist wie nie zuvor. Fremd sein im eigenen Land wird da thematisiert, Kolonialismus und Dekolonisierung. Ein kongolesisches Künstlerkollektiv (Cercle d’Art des Travailleurs de Plantation Congolaise, CATPC) möchte mit seinen Skulpturen „im heiligen Wald“ einen Übergang von einer schmerzhaften Vergangenheit in ein ökologisch nachhaltiges Morgen aufzeigen, fragt aber im Video der Theaterdarbietung einer hitzigen Diskussion („Blasphemie oder Heiligkeit“) gleichzeitig, ob es angemessen und akzeptabel sei, wenn die ehemaligen Kolonisatoren Wiedergutmachung leisten mit dem Geld, das sie womöglich anderenorts auch zusammengeraubt haben? Letztere besteht in einem großen, weißen Würfel (ein Fetisch oder ein Museum für zurückgegebene Raubkunst?), der im „heiligen Wald“ gebaut und von den Betroffenen heiß diskutiert wird. Die eindrucksvolle Präsentation findet im holländischen Pavillon statt, gleich einem der ersten, die man nach dem Betreten der Giardini erreicht. Er wird in Zusammenarbeit des Kurators Hicham Khalidi mit dem Künstler Renzo Martens und mit Unterstützung der holländischen Mondrian Stiftung bespielt.


Das Konzept der Länderpavillons löst sich auf. Der russische Pavillon, qua Sanktionen geschlossen, ist an Bolivien ausgeliehen. Moskau pflegt auf diese preiswerte Weise die Beziehung zu Ländern, die vom Westen eher Missachtung oder Zurückweisung erfahren. Der israelische Pavillon bleibt auf Wunsch der Künstlerin Ruth Patir geschlossen, bis ein Waffenstillstand im Gaza-Krieg erreicht und die Geiseln freigelassen sind. Der polnische Pavillon wurde an ein ukrainisches Künstlerkollektiv ausgeliehen.


Fremd sein, das heißt oft auch heute noch „fremd sein im eigenen Land“. Indigene Völker spielen – passiv wie aktiv – eine große Rolle auf der Biennale, häufig auch im Zusammenhang mit Ressourcenabbau und Naturzerstörung. „Heute Lithium, morgen Hunger“, konstatiert eine Aufschrift im spanischen Pavillon. Und der dänische Pavillon ist einer Fotoausstellung über die Inuit gewidmet. Indigene Künstler der Yanomami (Brasilien), der Cherokee (Nordamerika) und der Aborigines (Australien) kommen zu Wort. Rember Yahuarcani aus dem Volk der Huitoto im peruanischen Amazonien weist in einem seiner farbenfrohen Großgemälde darauf hin, dass dort zwischen 2013 und 2023 insgesamt 32 indigene Führer und Führerinnen von Eindringlingen, Drogenhändlern und der Holzmafia ermordet wurden. Ihre amazonische Heimat sei für Indigene einer der gefährlichsten Orte.


Im Haupthaus der Giardini wird ein Saal von Künstlern mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen bespielt, darunter der Österreicher Leopold Strobl. „Arpilleristas“ aus Chile stellen in den Arsenale Textilkunst aus, mit der sie während der Pinochet-Diktatur ihr Leben im Exil finanzierten. Louis Fratino überrascht in den Giardini unter der Rubrik „Anonymous Homosexual“ mit expliziten Bildern männlicher Homosexualität. Die bolivianischen „Mujeres Creando“ und Claudia (La Chola) Poblete aus Argentinien thematisieren das Schicksal von Sexarbeiterinnen und Transgender-Personen.


In einem Raum im Haupthaus der Giardini widmet sich ein „Museum der alten Kolonie“ dem imperialen Verhältnis USA/ Puerto Rico. Das Foto eines guten Soldaten, der sich helfend zu einem nackten Jungen hinabbeugt, stellt in diesem Kontext die Frage, inwieweit man überhaupt „gut“ sein kann als Teil einer mörderischen Maschinerie.


Flucht ist kein Verbrechen


Im Zentrum stehen indessen Flucht und Migration. Am Eingang zu den Arsenale – einst Waffenschmiede des mediterranen Großreiches Venedig – kreuzt ein schwerbepackter Lastenträger von Yinka Shonibare („Refuge Astronaut“) mit seinem Hab und Gut den Weg der Besucherinnen und Besucher. Im Inneren erzählen Flüchtlinge aus allen Winkeln dieses Planeten in einer Serie von Videos von ihren Schicksalen. Und ein Raum ist angefüllt von großen Landkarten, zu und auf denen sie grafisch von ihren Odysseen berichten. Erst zusammengenommen werden sie von der Dokumentation zum Kunstwerk.


Die Biennale ist noch bis zum 24. November geöffnet und immer eine Reise wert. Das Tagesticket für Giardini und Arsenale (zusammen an einem Tag kaum zu bewältigen) kostet 20€, ein Dreitagesticket 40€. Dazu kommt für Tagesbesucher der Lagunenstadt neuerdings und vorerst eine Besuchsgebühr von 5€. Beides ist auch im Internet erhältlich und dann als QR-Code mitzuführen. Dass die Tagesgebühr nach jahrelangen Diskussionen und Vorbereitungen ausgerechnet am Nationalfeiertag und dem ersten langen Wochenende der Biennale testweise eingeführt wurde, ist für die Verwaltung kein Ruhmesblatt und führte zu chaotischen Zuständen an den Ankunftsmolen der Tagestouristen. Und dass ausgerechnet dort im Block und quasi flächendeckend die angekündigten „Stichproben“ vorgenommen wurden, verdankt sich wohl entweder Gedankenlosigkeit oder einem beabsichtigten Abschreckungseffekt. Kenner wählten eine etwas längere Alternativroute und umgingen die mutwillig provozierten Menschenknäuel am Kai elegant durch die engen Gassen, wo sie vielleicht in einem der lokalen Cafes noch einen Espresso und ein kleines Gebäck genossen – auch das findet man noch.

Persönliches Highlight des Autors war eine aufwendige Videoprojektion des Schweizer Pavillons im Halbrund eines Himmelsgewölbes, eine Art ungemein selbstironischer Werbefilm einer „Super Superior Civilisation“. Gleichauf und von den meisten anderen Kommentatoren favorisiert ist der Österreichische Pavillon, bespielt von Anna Jermolaewa, die 1970 in Leningrad (UdSSR) geboren wurde und 1989 aus politischen Gründen aus der Sowjetunion fliehen musste. Ein Video von Proben zum Schwanensee-Ballett von Tschaikowski kann als Code für einen erwünschten Machtwechsel gelesen werden. Zu Sowjetzeiten wurde Schwanensee im Fernsehen oft in Phasen politischer Unruhe oder nach dem Tod eines Staatsoberhaupts gespielt – manchmal in Dauerschleife. Ein Raum mit verschiedenen Blumenarrangements ist alles andere als unschuldig: Sie stehen jeweils für eine Revolution. Nelken stehen für die portugiesische Revolution von 1974 und so weiter. Aufsehen erregen sechs Telefonzellen nicht nur bei jungen Besuchern, die gar nicht mehr wissen, was eine Telefonzelle überhaupt ist. Schon ihr Transport per Vaporetto auf den Kanälen Venedigs zu den Giardini war ein Spektakel. Sie stammen aus Traiskirchen. Für viele Flüchtlingen waren sie das Kommunikationsmittel in die alte Heimat. Auch für Anna Jermolaewa. In einem Video von einer Sitzbank im Westbahnhof erzählt sie von der Suche nach der bequemsten Schlafstellung. Die Nächte ihrer ersten Woche in Wien hatte sie dort zugebracht.

von © Robert Lessmann Dr 06 Apr., 2024

Wien im März 2024. Die kolumbianische Botschafterin war in ihrem Schlusswort sehr klar: „Als ich vor einem Jahr erstmals hier sprach, stellte ich mich mit den Worten vor: ‚Ich heiße Laura Gil. Ich komme aus Kolumbien und ich bin müde.‘“ Müde von der Gewalt, den Toten, den leeren Versprechungen. Ein Jahr später müsse sie sagen: „Wir sind heute 60 Länder und wir sind es leid!“


Laura Gil sprach auf einem so genannten side event im Rahmen der 67. UN Commission on Narcotic Drugs.(1) Obwohl eine Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen (UNGASS) zum Thema Drogen im Jahr 2016 eine flexiblere Auslegung der einschlägigen Konventionen versprochen hatte, sei in der Praxis alles so starr und bürokratisch geblieben wie eh und je, sagte Gil, die zuletzt als Vize-Außenministerin ihres Landes für multilaterale Beziehungen zuständig war. UNGASS 2016 war auf Initiative Mexikos, Kolumbiens und Guatemalas einberufen worden: Eine Überarbeitung des bisherigen Ansatzes der internationalen Gemeinschaft gegenüber Drogen könne nicht länger aufgeschoben werden, hieß es bereits in einer gemeinsamen Erklärung vom 1. Oktober 2012. Dabei müssten die Vereinten Nationen eine Führungsrolle übernehmen, um „alle Optionen zu analysieren, einschließlich regulierender – oder Marktmechanismen, um ein neues Paradigma zu etablieren, das den Ressourcenfluss zu Gruppen organisierter Kriminalität verhindert.“ Herausgekommen ist das Versprechen größerer Flexibilität. In der Tat wurden seither Entkriminalisierungs- und Regulierungsmodelle bei Cannabis toleriert.


Neustart als Rohrkrepierer

Zu einer energischen Schwerpunktsetzung beim Kampf gegen die organisierte (Gewalt-) Kriminalität und die Geldwäsche – wie es die Lateinamerikaner gefordert hatten – kam es jedoch nicht. Im Jahr 2011 hatte das Büro für Drogen und Verbrechensbekämpfung der Vereinten Nationen (UNODC) eine bahnbrechende Studie über Geldwäsche vorgelegt. Demnach lag deren jährliches Volumen damals zwischen 1,2 und 1,6 Billionen US Dollar. Der größte Anteil entfalle mit 350 Mrd. auf den Drogenhandel und dabei wiederum auf den mit Kokain, der besser organisiert und zentralisierter sei als der mit anderen illegalen Substanzen. Zum Vergleich: Der aktuelle Budgetentwurf der deutschen Bundesregierung liegt bei 470 Mrd. €. Der illegale Drogenhandel sei gewissermaßen das Rückgrat der internationalen organisierten Kriminalität, hieß es damals in UNODC-Papieren. Indes: Eine längst überfällige Aktualisierung dieser Studie ist nicht in Sicht. Unter dem damaligen Exekutivdirektor des UNODC, Antonio Maria Costa (2002-2010 - ein Banker übrigens), habe man sich dieses heiklen Themas angenommen. Seither fehle der politische Wille dazu, ist aus dem UNODC zu vernehmen.


Dabei wäre es sechs Jahrzehnte nach der Verabschiedung der maßgeblichen UNO Drogenkonvention und einem halben Jahrhundert von Washingtons federführendem „War on Drugs“ höchste Zeit, neue und innovative Wege einzuschlagen. Die Zahl der Drogenkonsumenten befindet sich auf Rekordniveau und wächst schnell weiter. Schneller noch wachsen die Opferzahlen, vor allem durch neue, im Labor hergestellte psychoaktive Substanzen. Überdosen mit dem künstlichen Opioid Fentanyl sind heute die häufigste Todesursache für Männer zwischen 18 und 45 Jahren in Nordamerika. Die Produktion der klassischen, pflanzengestützten Drogen Kokain (Grundstoff sind die Blätter des Kokabusches aus Bolivien, Kolumbien und Peru) und Heroin (Schlafmohn/Opium aus Afghanistan, Myanmar und Mexiko) befindet sich jeweils auf Rekordniveau. Sogenannte Neue Psychoaktive Substanzen drängen mit einer Schnelligkeit und Vielfalt auf den Markt, die schon ihre Erfassung und damit das Kontrollsystem der Drogenkonventionen über Listen kontrollierter Substanzen überfordert. Zusammen mit einer wachsenden Rolle des Darknet beim Handel schränkt das die Zugriffsmöglichkeiten der Exekutive drastisch ein. Therapie und Prävention scheinen die wesentlich effektiveren Instrumente zu sein. Doch in der Praxis dominiert allenthalben noch immer der repressive Ansatz über das Strafrecht.


Diese konventionelle Politik ist in Bausch und Bogen gescheitert. Es gab allenfalls regionale Schwerpunktverlagerungen. Inwieweit ein Anbauverbot der Taliban für Schlafmohn in Afghanistan vom April 2022 nachhaltig sein wird, bleibt vor dem Hintergrund voller Lagerbestände abzuwarten. Ein ebensolches Verbot vom Jahr 2000/2001 war es jedenfalls nicht. Immerhin ist aktuell ein Rückgang der dortigen Opiumproduktion um 95 Prozent zu verzeichnen. Zwanzig Jahre westlicher Sicherheitskooperation waren dagegen von einem stetigen Anwachsen des Anbaus in Afghanistan begleitet. Schon nimmt der Anbau beim vormals wichtigsten Schlafmohnproduzenten, Myanmar, rapide zu.


Das Epizentrum des Kokaanbaus verlagerte sich bereits in den 1990er Jahren aus den traditionellen Anbauländern Bolivien und Peru nach Kolumbien (ohne dort zu verschwinden oder auch nur nachhaltig vermindert zu sein) und zwischenzeitlich auch wieder zurück. Man spricht vom Ballon Effekt; Druck an einer Stelle führt zur Ausdehnung anderenorts. Heute befinden sich 204.300 Hektar Anbaufläche (von insgesamt 296.000) in Kolumbien (2). Die Schaltzentralen des Kokaingeschäfts verlagerten sich von Kolumbien nach Mexiko, doch produziert wird nach wie vor in Kolumbien, wo rund zwei Drittel der Kokainlabors entdeckt und zerstört werden. Mehr als von einer Verlagerung muss man also von einer Ausbreitung des illegalen Drogengeschäfts und der mit ihm verbundenen Probleme sprechen.


Ecuador, Kolumbien und der War on Drugs

Jüngstes Beispiel dafür ist Ecuador, das in einer Welle von Gewalt versinkt, wie die deutsche Tagesschau am 11. Januar 2024 titelte. Ecuador, dabei dachte man an Galapagos, den 6.263 Meter hohen Chimborazo, Charles Darwin und Alexander von Humboldt, ein stark von seiner indigenen Bevölkerung geprägtes Land und jenes mit der wahrscheinlich größten Artenvielfalt. Doch heute ist Ecuador ein wichtiges Transitland für Kokain geworden. Aus dem friedlichen und aufstrebenden Ecuador wurde eines der gefährlichsten Länder Lateinamerikas.


Wie kam es dazu? Ecuador hat mit Guayaquil einen großen Seehafen und eine fast 600 Kilometer lange Grenze zum Nachbarland Kolumbien, wo seit vielen Jahren etwa zwei Drittel des auf den illegalen Weltmärkten erhältlichen Kokains erzeugt werden. Ein halbes Jahrhundert War on Drugs , Milliarden von Dollars, US- Militärbasen und Sprühflugzeuge mit Glyphosat gegen Kokafelder haben daran nichts geändert. Älteren Leserinnen und Lesern sind die Namen Pablo Escobar, Carlos Lehder, die Ochoa-Familie und die Rodríguez-Orejuela in Erinnerung, das Cali- und das Medellín-Kartell (der völlig falsche Ausdruck übrigens, aber von der Journaille so eingebürgert) in Erinnerung, die Ende der 1980er, Anfang der 90er Jahre gegen ein Auslieferungsabkommen mit den USA anbombten. Allein drei Präsidentschaftskandidaten starben, dutzende Richter, Staatsanwälte, Journalisten wurden damals ermordet. Nach der Zerschlagung der mächtigen „Kartelle“ übernahmen Dutzende kleinere Organisationen das unvermindert boomende Geschäft, die nicht mehr über die Kontakte in die Anbauregionen in Bolivien und Kolumbien verfügten. Ungeachtet einer einsetzenden Besprühungskampagne mit Pflanzengift aus der Luft wurde Kolumbien in der zweiten Hälfte der 90er selbst zum wichtigsten Grundstoffproduzenten. Wirtschaftswissenschaftler nennen das Importsubstitution. Der Kokaanbau in Kolumbien verdreifachte sich. Und er breitete sich aus: Waren es zu Beginn der Besprühungen sechs Provinzen, so wurde zur Jahrtausendwende Koka in 23 der 33 kolumbianischen Departments angebaut.


Kokaanbau historisch in Hektar

        1986     1995     2000

Bolivien    25.800   48.600   14.600

Kolumbien   24.400   50.900   163.300

Peru     150.400   115.300    43.400

Total      200.440   214.800   221.300

Quelle: UNODCCP Global Illicit Drug Trends bzw. UNODC World Drug Reports


Washington hatte Mitte der 90er den Präsidenten Ernesto Samper mit Korruptionsvorwürfen unter Druck gesetzt und zur Einwilligung in die Besprühungskampagne genötigt. Mit einer Operation Airbridge hatte man zudem versucht, den Import des Zwischenprodukts, der Pasta B ásica de Cocaína , aus Bolivien und Peru einzudämmen. Nicht identifizierte Kleinflugzeuge wurden zur Landung gezwungen oder abgeschossen, bis der Kongress dieses Vorgehen stoppte. Wegen eines Kommunikationsfehlers zwischen dem amerikanischen Aufklärer und dem peruanischen Jäger hatte man versehentlich die Cessna einer US-Missionarsfamilie abgeschossen.


Zunehmend bemächtigten sich nun auch bereits seit 1964 in Kolumbien operierende Guerrillagruppen des illegalen Geschäfts, und stärker noch die rechtsextremen Paramilitärs, die gegen die Guerrilla kämpften. Teilweise hatten diese Gruppen zigtausende Kämpfer unter Waffen, die alle verköstigt, eingekleidet und bewaffnet werden mussten. Hatte die Guerrilla anfangs nur die Kokabauern besteuert und Gebühren für die klandestinen Landepisten der Drogenhändler in den Anbaugebieten erhoben, so wurde das illegale Geschäft zunehmend zum Selbstzweck und verschiedene ihrer frentes stiegen immer tiefer ein. Ab der Jahrtausendwende hielt Washington mit dem Plan Colombia dagegen. Milliarden wurden ausgegeben, sieben Militärbasen in Kolumbien errichtet, Spezialkräfte ausgebildet und die Besprühung mit Glyphosat noch einmal ausgeweitet. Der W ar on D rugs verschmolz mit dem W ar on T error. Nur Weltpolizist Uncle Sam verfügt über eine Abteilung für internationale Drogen- und Gesetzesvollzugsangelegenheiten (INL(3)) im Außenministerium. Ende des vorletzten Jahrzehnts (FY 2010) gingen mehr als 50 Prozent des INL-Budgets in Höhe von insgesamt 878,9 Mio. USD nach Afghanistan und Kolumbien – zwei Schlüsselländer im Krieg gegen den Terror. Zum Vergleich: Das Gesamtbudget des UNODC war nicht einmal halb so hoch.


Nachhaltigkeitsdesaster und Bürgerkrieg

Besprüht wurde nun vor allem in den Guerrilla-Hochburgen im Süden des Landes. Im Laufe der Jahre will man laut Statistik deutlich mehr als das Zehnfache dessen an Feldern vernichtet haben, was jemals als maximale Anbaufläche vorhanden war. Ein Nachhaltigkeitsdesaster. Die Bauern zogen weiter, legten neue Kokafelder an – teilweise schon prophylaktisch. Die Politik der Kokavernichtung ohne Nachhaltigkeit dürfte damit enorme Flächen tropischen Regenwaldes gekostet haben.(4) Doch nicht nur das: Durch die zur Weiterverarbeitung notwendigen Chemikalien wurden immer neue Böden und Gewässer vergiftet. Und Kolumbien war lange noch vor Syrien das Land mit der höchsten Zahl von Binnenflüchtlingen (8 von insgesamt 50 Millionen Einwohnern), wofür hauptsächlich der Guerrillakrieg, aber eben auch Bauernvertreibung durch Kokaeradikation verantwortlich war.


Die Umsetzung des Plan Colombia hieß in Kolumbien unter Präsident Álvaro Uríbe (2002-2010) S eguridad D emocrática und verfolgte das Ziel, illegale bewaffnete Gruppen von ihrer Finanzierung abzuschneiden. Gesprüht wurde nun insbesondere in den Hochburgen der Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC) im Süden des Landes in den Departments Caquetá und Putumayo. Landesweite Kokareduzierungen um 80.000 Hektar zwischen 2000 und 2004 wurden praktisch ausschließlich dort erzielt.


Im Jahr 2015 wurden die Besprühungen eingestellt, im Jahr 2016 ein Friedensabkommen mit den FARC unterzeichnet. Der Krieg mit der ältesten (seit 1964) und größten Guerrilla war zu Ende. Präsident Juan Manuel Santos erhielt dafür den Friedensnobelpreis. Mehr als 13.000 Kämpfer wurden demobilisiert, Hunderte davon später ermordet. Nachfolger Iván Duque hielt nichts von dem Abkommen und das ehrgeizige Programm zur Schaffung von Alternativen für die Bauern wurde praktisch nicht vollzogen. Duque setzte die Zwangseradikation von Kokafeldern fort und wollte sogar zu einer Besprühung der Felder aus der Luft zurückkehren. Es ist nicht gelungen, das Machtvakuum, das durch den Abzug der Guerrilla entstand, durch staatliche Institutionen zu füllen. Stattdessen geben dort nun FARC-Dissidenten (5.500 Kämpfer), Kämpfer des Ejercito de la Lib e ración Nacional (ELN 2.200) und Angehörige krimineller Banden (8.350 nach offiziellen Zahlen) den Ton an. Bei seinem Amtsantritt im Jahr 2018 gab es in Kolumbien 169.000 Hektar Koka und Duque strebte bis 2023 eine Halbierung an. In einem Working-Paper von 2020/21 für das deutsch-kolumbianische Friedensinstitut Capaz ( www.instituto-capaz.org ) schrieb der Autor dieser Zeilen damals: „Nichts deutet darauf hin, dass die Zielvorgaben heute realistischer sind als vor 10 oder 20 Jahren. Es ist vielmehr zu erwarten, dass die neuerliche Eradikationsoffensive auch diesmal nicht nachhaltig sein wird und es besteht die Gefahr, dass damit die Unsicherheit der Lebensumstände in den betroffenen Gebieten vergrößert wird.“


Heute kämpft die Regierung des Präsidenten Gustavo Petro unter dem Slogan Paz Total gegen verbrannte Erde an. Die Bauern sind einmal mehr vom Staat enttäuscht und desillusioniert. Statt der angestrebten Halbierung ist die Kokaanbaufläche um gut ein Drittel weiter angewachsen und liegt heute (2022) bei 230.028 Hektar, fast die Hälfte davon in den südlichen Departments Putumayo und Nariño im Grenzgebiet zu Ecuador (5). Und damit nicht genug. Durch bessere Sorten und Anbaumethoden soll die Ernte pro Hektar nach Berechnungen des UNODC um durchschnittlich 24 Prozent angestiegen sein und durch Optimierung der Weiterverarbeitung auch der Kokainertrag. Solche neuen Hochproduktivitätszonen befinden sich unter Kontrolle sogenannter narcoparamil i tares, FARC-Dissidenten bzw . der ELN . Alle zusammen werden sie Grupos Armados Ilegales (GAI) genannt. 35 Prozent der Kokaanbauflächen Kolumbiens befinden sich in Zonen, in denen eine oder mehrere GAI präsent sind. Diese arbeiten fallweise zusammen oder bekriegen sich. Aber alle sind um eine strikte Kontrolle des Produktionsprozesses bemüht. Im Department Putumayo lassen sich sechs Gruppen identifizieren, die nahezu umfassende Kontrolle ausüben. Die größten sind ehemalige frentes der FARC, das Comando Frontera und die Frente Carolina Ramírez und sie bekämpfen sich gegenseitig. Gemeinsam ist ihnen allen der Vektor des Kokainabsatzes: der Rio Putumayo. Interessanterweise befindet sich auch auf der südlichen, der peruanischen Seite des Grenzflusses im Departement Loreto ein Koka-Kokain-Nukleus. Auf ihm oder an ihm entlang gelangt die heiße Ware nach Ecuador.


Ecuador: Neoliberalismus und Drogentransit

Immer wieder tauchten in den letzten Jahren in Supermärkten Kokainpäckchen in Bananen- oder Schnittblumenlieferungen aus Ecuador auf, die von den Adressaten übersehen worden waren. Ecuador ist selbst kein Anbauland in nennenswertem Umfang, doch wurde es für den Drogenhandel nicht nur wegen des Pazifikhafens Guayaquil interessant. Kokainbeschlagnahmungen sind dort von 88 Tonnen (2019) auf 201 Tonnen (2022) kontinuierlich angestiegen. Neben dem Seehafen und der langen Landesgrenze zu den wichtigsten Kokain-Produktionszentren verfügt Ecuador noch über weitere, politisch-hausgemachte „Standortvorteile“. Das notorisch exportabhängige Land – vor allem Erdöl mit seinen schwankenden Weltmarktpreisen – befindet sich seit langem in einer wirtschaftlichen Dauerkrise, unterbrochen nur durch einen Boom im ersten Jahrzehnt dieses Jahrtausends. Zur Jahrtausendwende wurde daher die Wirtschaft „dollarisiert“, was Außenhandelsgeschäfte ebenso erleichtert wie die Geldwäsche. Sie soll bei etwa 3,5 Mrd. USD jährlich liegen, was etwa 3 Prozent des BIP entspricht, Geld, das zu 75 Prozent im Land selbst in legale Wirtschaftskreisläufe eingespeist werde. Kolumbianische Wirtschaftswissenschaftler bezeichneten solcherlei Verhältnisse für ihr Land schon von mehr dreißig Jahren als „Verschmutzung der Wirtschaft“ ( la economía se ensucia ) und sprachen von einer „bewilligten Illegalität“ ( ilegalidad consentida ) (6), die der Gesetzgeber billigend in Kauf nehme.


Ecuador war mit seiner neuen Verfassung von 2008 und einer zunächst stärkeren Akzentuierung der Sozial-, Indigena- und Umweltpolitik unter Präsident Rafael Correa einer der Hoffnungsträger der progressistischen Welle in Lateinamerika. Doch eine Abkehr vom Extraktivismus, eine Überwindung der Abhängigkeit vom Erdöl gelang nicht und Correa ging 2017 unter Korruptionsvorwürfen ins französische Exil. Sein Nachfolger, Lenin Moreno, fiel nurmehr durch den scharfen Gegensatz zwischen progressiver Rhetorik und neoliberaler Praxis auf. Proteste ließ er im Jahr 2019 blutig niederschlagen. Das Verhältnis zwischen dem indigenen und dem „progressistischen“ Lage ist so zerrüttet, dass man 2021 den Wahlsieg quasi verschenkte. Während der „Correist“ Andrés Arauz den ersten Wahlgang mit 14 Prozentpunkten Vorsprung gewonnen hatte und Yaku Pérez das historisch beste Ergebnis für das indigene Lager erzielte, gewann der neoliberale Kandidat Guillermo Lasso die Stichwahl, der im ersten Wahlgang nur 19,5 Prozent der Stimmen bekommen hatte. Statt ein Bündnis einzugehen, bekämpften sich die progressiven Kräfte. Während der 900 Tage seiner Amtszeit soll das Vermögen von Guillermo Lasso um 21 Mio. USD angewachsen sein. Speziell seit der Pandemie wurde unter Moreno und Lasso eine extreme Sparpolitik betrieben, um Auslandsschulden begleichen zu können – nicht zuletzt auch im Sicherheitsbereich. Gerade Lasso war in der Sicherheitspolitik gleichzeitig aber ein Verfechter der „harten Hand“. Das in ganz Lateinamerika notorisch prekäre und hier nun noch einmal besonders vernachlässigte Gefängnissystem wurde mit Kleinkriminellen überfüllt. Vor dem Hintergrund allgegenwärtiger Korruption entwickelten sich die Haftanstalten geradezu zu Hauptquartieren krimineller Banden.


Deren wichtigste, die „Choneros“ arbeiten mit der mexikanischen Sinaloa-Gruppe zusammen, „Los Lobos“ mit der ebenfalls mexikanischen „Jalisco Nueva Generación“. Beide Gruppen bekämpfen sich. Ein Fanal war die Ermordung des Präsidentschaftskandidaten Fernando Villavicencio, dessen Hauptthemen der Kampf gegen die Korruption und den illegalen Drogenhandel waren, auf einer Kundgebung in Quito im August 2023. Eine Komplizenschaft aus den Reihen der Sicherheitskräfte wird vermutet. Die Hauptverdächtigen wurden später in zwei verschiedenen Gefängnissen ihrerseits ermordet. Ein zweites Fanal war der Ausbruch des Anführers der „Choneros“, Adolfo „Fito“ Macias, Anfang Januar 2024, nachdem er in ein anderes Gefängnis verlegt werden sollte, sowie die bewaffnete Besetzung eines Fernsehstudios während einer Livesendung. Inzwischen hatte der heute 36-jährige, in Miami geborene und steinreiche Unternehmer Daniel Noboa die Wahlen gewonnen. Nach nur wenigen Wochen im Amt, sprach er am 9. Januar von einem „internen bewaffneten Konflikt“ und rief einen 60-tägigen Notstand aus. In kurzer Zeit wurden mehr als 9.000 Menschen verhaftet. Es wird sogar über eine Wiedereröffnung der US-Luftwaffenbasis Manta diskutiert, die im Kontext des Plan Colombia 1999 als sogenannte Forward Operation Location zur Luftraumüberwachung (AWACS) eröffnet worden war. Insgesamt 500 Mann US-Personal genossen damals quasi diplomatische Immunität und Bewegungsfreiheit in ganz Ecuador. Sie war 2008/2009 unter Rafael Correa geschlossen worden und eine Wiedereröffnung würde heute gegen die neue Verfassung verstoßen.


Der Wirtschaftswissenschaftler Alberto Acosta, der unter anderem in Köln studiert hat, war in den Jahren 2007 und 2008 Präsident der Verfassungsgebenden Versammlung Ecuadors und im ersten Halbjahr 2007 Minister für Energie und Bergbau im Kabinett von Rafael Correa. Er hat Zweifel am Erfolg dieser Politik der Militarisierung: Die Nationalpolizei werde zum Erfüllungsgehilfen des Militärs degradiert. Er spricht vom grundlegenden Problem einer Koexistenz zwischen dem Staat und einigen kriminellen Banden, die nach und nach die staatlichen Institutionen übernahmen. Der Grad der Durchdringung des organisierten Verbrechens sei so groß, dass seine Infiltration fast aller staatlichen Instanzen, der Justiz, der Sicherheitskräfte, des Privatsektors und sogar des Sports öffentlich anerkannt werde.


Vor anderthalb Jahrzehnten reagierte das Kokaingeschäft auf stärkere Kontrollen der europäischen Seehäfen mit dem Absatz über Venezuela und Westafrika entlang des 10. Breitengrades, der die kürzeste Verbindung zwischen Lateinamerika und Westafrika darstellt. Fahnder sprachen damals vom Highway Number 10. Einige der ärmsten Länder der Welt waren nun plötzlich mit einem Millionengeschäft konfrontiert. In der Wüste Malis wurde im Jahr 2009 das Wrack einer aufgelassenen Boeing 727 gefunden, mit der 10 Tonnen Kokain transportiert worden waren: die Air Cocaine. Der Weitertransport durch die Sahara zum Mittelmeer erfolgte über dieselben Routen und durch dieselben Organisationen, die auch im Schleppergeschäft aktiv sind, unter anderem Al Qaeda . Ab 2011 erhielten sie üppige Bewaffnung aus Beständen des gestürzten Diktators Muhammar al Gaddhafi. Und während neuerdings Ecuador die Aufmerksamkeit erregt, zeichnet sich bereits eine Wiederbelebung des Highway Number 10 ab. Wie auch immer die Routen sich ändern: Die Fahnder laufen hinterher.


Drogenbekämpfung und Menschenrechte: ein neuer Anlauf

Zurück nach Wien und zur Commission on Narcotic Drugs. Der War on Drugs sei gescheitert, sagt Volker Türk, der UNO Hochkommissar für Menschenrechte: gescheitert Leben zu retten; gescheitert die Würde, Gesundheit und Zukunft von weltweit 296 Millionen Drogennutzern zu schützen; gescheitert, den Politikwechsel herbeizuführen, den wir dringend brauchen, um weitere Rückschläge bei den Menschenrechten abzuwenden. Die gegenwärtige Drogenpolitik mit ihrem strafenden Ansatz und ihren repressiven Politiken, so Türk, hatte verheerende Folgen für die Menschenrechte auf allen Ebenen. „Drogen töten und zerstören Leben und Gemeinschaften. Aber unterdrückerische und rückwärtsgewandte Politiken tun das auch.“ (Übers. aus dem Englischen R.L.)


Seit der Vorbereitung der UNGASS Konferenz von 2016 werden andere UNO-Organisationen (wie UNAIDS oder das Hochkommissariat für Menschenrechte mit Sitz in Genf) sowie NGO’s in die Drogendebatte einbezogen, die bis dato von den in Wien ansässigen UN „Drogenorganisationen“ dominiert, wenn nicht monopolisiert gewesen war. Drogenpolitik wurde in den Kontext der nachhaltigen UN-Entwicklungsziele (oder Agenda 2030) gestellt – zumindest in den Debatten. Im August 2023 legte das Büro des Menschenrechts-Hochkommissars einen Bericht über Herausforderungen für die Menschenrechte bei der Drogenbekämpfung vor. Der kolumbianische Außenminister Murillo erkannte auf dem genannten side event sofort, den Gegensatz zwischen Wien und Genf. Und die frühere Bundespräsidentin der Schweiz, Ruth Dreyfuss, plädierte für eine dringend notwendige „Kommunion“ der Ansätze , wie sie es formulierte. Es ist hohe Zeit, dass daraus Wirklichkeit wird. Nicht nur in den Diskursen, sondern in der Praxis.


(1) Auf der alljährlich in Wien stattfindenden „Commission“ kommen die Delegierten der Mitgliedsländer zusammen, um die internationale Drogenpolitik zu diskutieren und zu gestalten. Das erwähnte side event (Human rights in global drug policy and the case of the current classification of coca leaf in the 1961 single convention: A debate on the implementation and effectiveness of the international drug control regime) fand am 14. März 2024 statt. Am Podium saßen neben Laura Gil, der bolivianische Vizepräsident David Choquehuanca, der kolumbianische Außenminister Luis Gilberto Murillo, die ehemalige Bundespräsidentin der Schweiz, Ruth Dreyfuss (als Mitglied der Global Commission on Drug Policy) sowie der UN Hochkommissar für Menschenrechte, der Österreicher Volker Türk.

(2) Der World Drug Report 2023 des UNODC nennt für Bolivien 30.500 Hektar und für Peru 80.681 Hektar, was zusammengenommen 315.481 Hektar ergibt. Die Zahlen sind von daher inkonsistent bzw. die Addition fehlerhaft.

(3) Das Bureau for International Narcotics Matters and Law Enforcement Affairs (INL) im State Department wurde 1978 gegründet und 1995 zum heutigen Namen umbenannt. Insgesamt ist das Anti-Drogen-Budget der USA noch erheblich höher und in seinen internationalen Aspekten auf State Department (INL und USAID), Justiz- (DEA) und Verteidigungsministerium verteilt.

(4) Eine auch methodologische Auseinandersetzung mit dem Thema stellt fest: „...that coca cultivation area, number of cattle, and municipality area are the top three drivers of deforestation…“ und die Gewichtung dieser Faktoren sei „highly context-specific“. (Ganzenmüller/Sylvester/Castro-Nuñez: „What Peace Means for Deforestation: An Analysis of Local Deforestation Dynamics in Times of Conflict and Peace in Colombia“ in: Frontiers in Environmental Science Vol. 10, Bucharest, 21.2.2022

(5) UNODC: Monitoreo de los territorios con presencia de cultivos de coca 2022, Bogotá/ Viena, Septiembre 2023.

(6) Arrieta/ Orejuela/ Sarmiento Palacio/ Tokatlián: „Narcotráfico en Colombia“, Bogotá, 1990.


Volker Türks bemerkenswerte Rede auf dem erwähnten side event : www.ohchr.org/en/statements-and-speeches/2024/03/war-drugs-has-failed-says-high-commissioner

Sein Statement vor dem Plenum:

www.ohchr.org/en/statements-and-speeches/2024/03/turk-urges-transformative-change-global-drug-policy


Foto: Verurteilte Drogenkurierin, Frauengefängnis Bogotá 1990. Noch immer werden Haftanstalten mit Kleinkriminellen vollgestopft. 

© Robert Lessmann


Weitere Beiträge zum Thema weiter unten in diesem Blog, insbesondere:

www.robert-lessmann.com/proceso-de-paz-y-guerra-contra-las-drogas-en-colombia-sostenibilidad-y-alter...

www.robert-lessmann.com/kolumbien-drogenbekaempfung-und-friedensprozess

www.robert-lessmann.com/drogenpolitik-augen-zu-und-weiter-so

von © Robert Lessmann Dr 12 März, 2024

Álvaro García Linera kennt die politische Realität Lateinamerikas aus Theorie und Praxis. Er wurde 1962 in Cochabamba/ Bolivien geboren. Soziologie studierte der gelernte Mathematiker als Autodidakt während einer fünfjährigen Untersuchungshaft, die er ab 1992 als Mitglied des Ejército Guerillero Túpac Katari (EGTC) verbüßte. Für sein politisches Denken war neben Karl Marx und Antonio Gramsci auch der Vordenker des bolivianischen „Indianismus“ Fausto Reinaga von großer Bedeutung. Nachdem er ohne Urteilsspruch entlassen wurde, arbeitete er als Hochschullehrer und wurde einer der gefragtesten Talkshowgäste und politischen Analytiker. Zentral für sein politisches Denken blieb stets die Frage der indigenen Emanzipation. Im Jahr 2005 wurde er an der Seite von Evo Morales zum Vizepräsidenten seines Landes gewählt, ein Amt, das er bis zu beider Sturz im November 2019 innehatte. (Bild von der Amtseinführung im Januar 2006.) Gemeinsam wurden sie ins Exil gezwungen. Nach der Rückkehr der Regierungspartei Movimiento al Socialismo (MAS) an die Macht, kehrte auch er nach Bolivien zurück, hält sich aber im Gegensatz zu Evo Morales aus der Tagespolitik heraus.


García Linera sieht Lateinamerika – und die Welt – in einer Übergangsphase. Sie sei von Unklarheit und Instabilität gekennzeichnet, wo eine „monströse Rechte“ die Bühne betrete, was wiederum in gewisser Weise eine Folge der Defizite progressiver Kräfte sei. Er nennt diese Zeit „tiempo liminar“. Andere Autoren sprechen vom Kampf zwischen progresismo und Regression. Die Linke, so García Linera, müsse kühner sein und einerseits mit historischer Verantwortung Antworten auf die profunden Fragen an der Basis des sozialen Zusammenhalts geben und andererseits die Sirenengesänge der neuen Rechten neutralisieren. Sie müsse bei grundlegenden Reformen zu Fragen der Eigentumsverhältnisse weiterkommen, bei Steuern, bei der sozialen Gerechtigkeit, der Verteilung des Wohlstands und der Wiedergewinnung der Ressourcen zum Wohle der Gesellschaft. Nur so werde man, ausgehend von den grundlegendsten Forderungen der Gesellschaft und realen Fortschritten bei der Demokratisierung, die Ultrarechten in die Schranken weisen.


Politische Schubumkehr

Das Jahrhundert hatte mit einer Dominanz progressiver Regierungen begonnen. Mit dem Wahlsieg von Mauricio Macri in Argentinien habe 2015 gewissermaßen eine Schubumkehr in Lateinamerika eingesetzt. Andere Länder, wie Brasilien und Honduras, folgten. Teilweise wurden diese Rechtsregierungen inzwischen wieder von progressiven ersetzt. García Linera sieht das als Ausdruck einer Umbruchphase des zeitgenössischen Kapitalismus – Gramsci hatte von „Interregnum“ gesprochen –, wo sich Wellen und Gegenwellen ablösen ohne dass sich eine Tendenz durchsetzt. Lateinamerika habe damit eine Entwicklung vorweggenommen, die wir heute auf der ganzen Welt beobachten können. Der Halbkontinent erlebte eine intensive progressive Welle, die von einer konservativen Gegenbewegung gefolgt wurde und dann von einer neuerlichen progressiven. Möglicherweise, so García Linera, werden wir sehen, dass sich eine solche Abfolge kurzfristiger Wechsel noch fünf bis zehn Jahre fortsetzt, bis sich ein neues Modell der Akkumulation und Legitimation durchsetzt, das neue Stabilität für Lateinamerika und die Welt bringt. Insoweit das nicht geschieht, werden wir in einem Wirbel der Zeit des Interregnums feststecken. Man erlebe progressive Wellen, ihre Erschöpfung, konservative Gegenreformen, neue progressive Wellen. Und jede dieser Wellen sei verschieden von der anderen. „Milei ist unterschiedlich zu Macri, obwohl er manches von ihm übernimmt. Alberto Fernández, Gustavo Petro und Manuel López Obrador unterscheiden sich auch von ihren Vorgängern, obwohl sie einen Teil von deren Erbe übernehmen“, stellt García Linera fest: „Und so wird es weiter gehen bis sich eines Tages eine neue Weltordnung definiert, denn diese Instabilität und dieses Leid können nicht endlos sein“, meint er. Im Grunde würden wir einen zyklischen Niedergang des Akkumulationsmodells sehen, wie wir das bereits nach der liberalen Phase des Kapitalismus (1870-1920), der staatskapitalistischen (1940-1980) und der neoliberalen (1980-2010) gesehen haben, argumentiert er in Anlehnung an Nicolai Kondratiews Theorie der Wirtschaftszyklen. Das Chaos sei Ausdruck des historischen Niedergangs und des Kampfes um ein neues und dauerhaftes Modell der Akkumulation, das wieder Wachstum und sozialen Zusammenhalt bringt.


Polarisierung

Die Rechte verwende dabei Praktiken, die man glaubte überwunden zu haben, wie Putsche, politische Verfolgung, Mordversuche. Zu dieser Übergangszeit gehöre, dass die politischen Eliten auseinanderdriften. Wenn die Dinge gut liefen, wie etwa bis zur Jahrtausendwende, fänden sie sich um ein Akkumulations- und Legitimationsmodell zusammen. Die Linke mäßigt sich, „neoliberalisiert“ sich, obwohl es immer eine radikale Linke ohne Publikum geben wird. Die Rechten streiten unter sich. Wenn der Niedergang beginnt, tauche die extreme Rechte auf und werde stärker. Die extreme Rechte fresse die moderate Rechte auf, und die radikale Linke trete aus ihrer Marginalität und politischen Bedeutungslosigkeit. Sie gewinne an Resonanz und Publikum. Sie wachse. „Im Interregnum ist das Auseinanderdriften der politischen Projekte die Regel, weil es bei der Suche nach Lösungen für die Krise der alten Ordnung Dissidenten auf beiden Seiten gibt“, konstatiert er. Die rechte Mitte, die den Halbkontinent und die Welt über 30 oder 40 Jahre regiert hat, finde keine Antworten mehr auf die deutlichen Fehler des globalisierten, neoliberalen Kapitalismus und die Zweifel und Ängste der Menschen. Es tauche eine extreme Rechte auf, die weiter das Kapital verteidigt, die aber glaubt, dass die alten Rezepte nicht mehr genügen und man die Gesetze des Marktes mit Gewalt durchsetzen müsse. Sie will die Menschen domestizieren, wenn nötig mit Gewalt, um zu einem reinen, ursprünglichen freien Markt ohne Zugeständnisse und Doppelbödigkeiten zurückzukehren. Sie konsolidiert sich, indem sie von Autorität, von Schocktherapie des freien Marktes und Reduzierung des Staates spricht. Und wenn es dagegen soziale Widerstände gibt, müsse man dem mit Stärke und Zwang begegnen, und wenn nötig auch mit Staatsstreich und Massakern, um die Widerspenstigen, die sich der Rückkehr zur guten Gewohnheit des freien Unternehmertums und des zivilisierten Lebens widersetzen, zu disziplinieren: mit den Frauen am Herd, den Männern, die befehlen, den Chefs, die entscheiden und den Arbeitern, die schweigend ihre Arbeit tun. Ein weiteres Symptom des liberalen Verfalls tritt zu Tage, wenn sie nicht mehr überzeugen und verführen können, sondern Zwang brauchen, was bedeutet, dass sie bereits dem Untergang geweiht sind. Nichtsdestoweniger bleiben sie gefährlich.


Angesichts dessen könnten die progressiven Kräfte und die Linke nicht nachgiebig sein und versuchen, es allen sozialen Sektoren und Fraktionen recht zu machen. Die Linke tritt in der Übergangszeit aus ihrer Marginalität heraus, indem sie sich als Alternative zum wirtschaftlichen Desaster präsentiert, das vom unternehmerischen Neoliberalismus verursacht wird. Ihre Funktion könne es nicht sein, einen Neoliberalismus „mit menschlichem Antlitz“ einzuführen, einen grünen oder progressiven Neoliberalismus. „Die Menschen gehen nicht auf die Straße oder wählen die Linke, um den Neoliberalismus zu verzieren. Sie mobilisieren sich und wechseln radikal ihre alten politischen Bindungen, weil sie ihn satt haben und ihn loswerden wollen, weil er nur einige wenige Familien und Unternehmen reich gemacht hat. Und wenn die Linke es nicht schafft, sich als Alternative zu präsentieren, ist es unausweichlich, dass die Menschen sich der extremen Rechten mit ihren (illusorischen) Auswegen aus der allgemeinen Misere zuwenden“, fürchtet García Linera. Dazu müsse die Linke, wenn sie die Rechte aus dem Feld schlagen will, Antworten auf die drängenden Fragen geben. Sie muss die Armut der Gesellschaft bekämpfen, die Ungleichheit, die Unsicherheit der Dienstleistungen, Bildung, Gesundheit, Wohnen. Und um die materiellen Bedingungen dafür zu schaffen, muss sie radikal sein in ihren Reformen zu Fragen des Eigentums, der Steuerpolitik, der sozialen Gerechtigkeit, der Verteilung des Wohlstands, der Wiedergewinnung der gemeinsamen Ressourcen zum Wohle der Gesellschaft. Zurückhaltung dabei wird die sozialen Krisen vergrößern. Angesichts des Ausmaßes der Krise wird moderates Vorgehen die Extreme stärken. Wenn es die Rechten tun, stärken sie die Linken und umgekehrt. Worum es geht, sind wirtschaftliche und politische Reformen, die zu sichtbaren und dauerhaften materiellen Verbesserungen der Lebensbedingungen für die gesellschaftliche Mehrheit führen, zu einer größeren Demokratisierung der Entscheidungen, einer größeren Demokratisierung des Reichtums und der Eigentumsverhältnisse. Die Eindämmung der extremen Rechten wird nicht einfach ein Diskurs sein, sondern in einer Reihe von praktischen Maßnahmen zur Verteilung des Reichtums bestehen, die es erlauben, die wichtigsten Ängste und Forderungen der Bevölkerung anzugehen: Armut, Inflation, Unsicherheit, Ungleichheit. Man darf nicht vergessen, dass das Erscheinen der extremen Rechten ja eine pervertierte Antwort auf diese Ängste ist. „Je mehr du den Reichtum verteilst, desto mehr betrifft das die Privilegien der Mächtigen, aber die bleiben bei deren wütender Verteidigung in der Minderheit, während sich die Linke in dem Maße konsolidiert, wie sie sich um die grundlegenden Bedürfnisse des Volkes kümmert“, sagt der Exvizepräsident.


Analyse statt Etikettierung

Was ist nun neu an der neuen Rechten? Soll man sie faschistisch nennen oder was sonst? Bauen sie an einem postdemokratischen Labor, nicht zuletzt in den USA? Ohne Zweifel tendiere die liberale Demokratie – als bloßer Austausch der Eliten durch das Volk – zu autoritären Formen. Wenn sie manchmal Früchte einer sozialen Demokratisierung hervorgebracht habe, so war es durch das Wirken anderer demokratischer Formen von unten, wie Gewerkschaften, landwirtschaftlichen Organisationen, Stadtteilkomitees, unterstreicht der Soziologe. Wenn man aber die liberale Demokratie sich selbst überlasse, als bloße Auswahl der Regierenden, tendiere sie zur Konzentration von Entscheidungen, zu dem, was der Nationalökonom Josef Schumpeter ‚Demokratie als bloße Auswahl der Regierenden, die über die Gesellschaft entscheiden‘ nannte und was eine autoritäre Form der Konzentration von Entscheidungen ist. Und dieses Monopol autoritärer Entscheidungen, fallweise auch ohne die Auswahl aus den Eliten ist es, was die extreme Rechte auszeichnet. Daher gibt es keinen Antagonismus zwischen der liberalen Demokratie und der extremen Rechten. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass sie durch Wahlen an die Macht kommt. „Was die liberale Demokratie am Rande und lustlos erlaubt, die extreme Rechte aber offen ablehnt, sind andere Formen der Demokratisierung von unten, wie Gewerkschaften, Stadtteilversammlungen, ländliche Organisationen, kollektive Aktionen. In diesem Sinne sind die extremen Rechten antidemokratisch“, sagt García Linera. Sie erlauben nur, dass man aus ihren Reihen jemanden wählt, der regiert, lehnen aber andere Formen der Teilhabe und der Demokratisierung des Reichtums ab, die sie als Beleidigung ansehen, als Absurdität, die man mit der Ordnungsmacht und Zwangsdisziplinierung bekämpfen muss. Ist das Faschismus? „Schwer zu sagen,“ meint García Linera. Es gebe dazu eine akademische Debatte, aber die politischen Auswirkungen sind eher klein. Die Generation über 60 in Lateinamerika erinnere sich vielleicht noch an die faschistischen Militärdiktaturen, aber der jüngeren Generation sage es nicht viel, vom Faschismus zu reden. Er ist nicht gegen diese Debatte, sieht sie aber nicht als sehr nützlich an. Der soziale Erfolg oder die Ablehnung von Forderungen der extremen Rechten hänge schließlich nicht von alten Symbolen ab, sondern von der Antwort auf die sozialen Ängste. Problematisch sei es indessen, sie als faschistisch zu bezeichnen ohne zu bedenken, auf welche kollektiven Forderungen sie antworten oder vor dem Hintergrund welchen Scheiterns sie auftauchen. Bevor man ihnen Etikette umhängt, sei es besser über die sozialen Bedingungen für ihr Auftauchen nachzudenken. Persönlich spricht er lieber von der extremen oder der autoritären Rechten.


Ob man Milei einen Faschisten nennen soll? Zuerst solle man sich fragen, warum er gewonnen hat, wer ihn gewählt hat, als Reaktion auf welche Sorgen. Ihm ein Etikett umzuhängen, erlaubt moralische Ablehnung, aber es hilft nicht, die Realität zu verstehen oder zu verändern. Wenn die Antwort ist, dass Milei sich auf die Ängste einer verarmten Gesellschaft beruft, dann ist klar, dass Armut das Thema ist. Darauf muss der p rogresismo und die Linke eine Antwort geben und die extreme Rechte oder (wenn man so will) den Faschismus stoppen. Man muss die Probleme erkennen, mit denen die extreme Rechte in der Gesellschaft Anklang findet, denn ihr Anwachsen ist auch ein Symptom für das Scheitern der Linken und der Progressiven. Sie tauchen nicht aus dem Nichts auf, nachdem die Progressiven nicht sahen, nicht bereit waren, konnten oder wollten, die Frage der Klasse, der prekären Jugend, die Bedeutung der Armut, der Wirtschaft zu verstehen und über jene des Rechts auf Identität zu stellen. Man müsse verstehen, dass das Grundproblem die Wirtschaft ist, die Inflation, „das Geld, das dir in der Tasche schmilzt“. Man dürfe nicht vergessen, dass auch die Identität eine Dimension der wirtschaftlichen und politischen Macht hat, die sie an Unterordnung bindet. In Bolivien eroberte beispielsweise die indigene Identität Anerkennung zunächst durch die Übernahme der politischen Macht und dann schrittweise wirtschaftlicher Macht innerhalb der Gesellschaft.


Schlüsselfrage Informalität

Das grundlegende soziale Verhältnis der modernen Welt ist Geld, entfremdet, aber immer noch fundamental, das, wenn es dir wegschmilzt, auch deinen Glauben und deine Treue auflöst. Das ist das Problem, das die Linke zuerst lösen muss. Dann komme der Rest, befindet García Linera. Wir befinden uns in einer historischen Zeit, wo der p rogresismo auftaucht und die extreme Rechte. Die klassische, neoliberale, universalistische Rechte verfällt, und zwar wegen der Wirtschaft. Aber die Gesellschaft, deren wirtschaftliche Probleme die alte Linke der 50er und 60er Jahre und der p rogresismo der ersten Welle (im neuen Jahrtausend) anging, hat sich verändert. Die Linke hat sich immer um die formale, entlohnte, arbeitende Klasse gekümmert. Heute ist die informelle arbeitende Klasse für den p rogresismo eine große Unbekannte. Die Welt der Informalität, die man auch unter dem Begriff „la economía popular“ versteht, ist für die Linke ein schwarzes Loch. Dafür hat sie keine produktiven Vorschläge. In Lateinamerika umfasst dieser Sektor aber bis zu 60 Prozent der Bevölkerung. Und es handelt sich nicht um eine vorübergehende Erscheinung, die bald in der formellen Wirtschaft aufgehen würde. Nein, die gesellschaftliche Zukunft wird eine mit Informalität sein, mit diesen kleinen Arbeitern, diesen kleinen Bauern, diesen kleinen Unternehmern, verbunden durch familiäre Bindungen und kuriose lokale und regionale Wurzeln, wo die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit nicht so klar sind wie im formellen Unternehmen. Diese Welt wird noch in den nächsten 50 Jahren existieren und sie schließt in Lateinamerika die Mehrheit der Bevölkerung ein. „Was sagst Du diesen Menschen? In welcher Weise kümmerst du dich um ihr Leben, ihr Einkommen, ihre Lebensbedingungen, ihren Konsum? Das sind die Schlüsselthemen für die Progressiven und die zeitgenössische Linke in Lateinamerika. Was bedeutet das? Mit welchen Werkzeugen macht man das?“, fragt der Politiker und Soziologe. Natürlich mit Enteignungen, Nationalisierungen, mit Umverteilung des Reichtums, Erweiterung der Rechte. Das sind die Werkzeuge, aber das Ziel muss die Verbesserung der Lebensbedingungen dieser 80 Prozent der Bevölkerung sein, gewerkschaftlich organisiert oder nicht, formell oder informell, die „lo popular“ in Lateinamerika darstellen, meint García Linera. Und das außerdem mit einer größeren Beteiligung an den Entscheidungen. Die Leute wollen gehört werden, wollen teilnehmen. Das vierte Thema ist die Umwelt, Umweltgerechtigkeit mit sozialer und ökonomischer Gerechtigkeit, nie getrennt und nie vorweg.


Kolumbien als Vorreiter

Zur Frage nach dem Kontext und der Rolle des Gastlandes, Kolumbien, sagt García Linera: „Wenn man sich die Vorgeschichte Kolumbiens ansieht, wo wenigstens zwei Generationen von Aktivisten und Kämpfern für soziale Gerechtigkeit von Ermordung bedroht waren und ins Exil gehen mussten, wo Formen legaler kollektiver Aktionen vom Paramilitarismus in die Enge getrieben wurden und wo die USA versuchten, nicht nur aus dem Staat eine Militärbasis zu machen, sondern das Land auch kulturell zu vereinnahmen, ist es nur heroisch zu nennen, dass ein Kandidat der Linken hier an die Regierung gewählt worden ist. Und klar, wenn man das machtvolle Sediment des ‚tiefen Kolumbien‘ (colombia profunda) erfühlt, das in den Gemeinschaften und den Stadtteilen keimt, versteht man die soziale Explosion von 2021 und das „Warum“ dieses Wahlsiegs.“ Dass ihm kollektive soziale Mobilisierungen vorausgingen, habe einen gesellschaftlichen Raum für Reformen geschaffen. Daher sei die Regierung von Präsident Gustavo Petro heute die radikalste dieser zweiten progressistischen Welle auf dem Halbkontinent.


Zwei Aktionen machen die Regierung von Gustavo Petro zur Vorhut: Eine Steuerreform mit progressivem Charakter, womit jene, die mehr haben auch höhere Steuern bezahlen. In der Mehrzahl der lateinamerikanischen Staaten ist die wichtigste Steuer die Mehrwertsteuer, die eine höhere Last für die darstellt, die am wenigsten haben. An zweiter Stelle steht die Energiewende. Kein Land auf der Welt, schon gar nicht die, die sie am meisten kontaminieren – die USA, Europa, China – hat über Nacht die fossilen Brennstoffe aufgegeben. Man hat sich vielmehr Jahrzehnte zum Übergang vorgenommen und will immer noch einige Jahre lang mit einer Rekordproduktion dieser Brennstoffe leben. Kolumbien gehört zusammen mit Dänemark, Spanien und Irland zu den einzigen Ländern auf der Welt, die neue Exploration von Erdöl verbieten. Im Fall Kolumbiens ist es besonders relevant, weil Erdölexporte mehr als die Hälfte des Exportvolumens ausmachen, was diese Entscheidung zu einer sehr kühnen und weltweit sehr fortschrittlichen macht. „Es handelt sich um Reformen, die dem Leben verpflichtet sind und die den Weg ausleuchten, den andere Progressive über kurz oder lang auch gehen müssen.“ Man dürfe jedoch die kontinuierliche Verbesserung der Einkommen der kolumbianischen Unterschichten nicht aus dem Blick verlieren, weil jede Klimagerechtigkeit ohne soziale Gerechtigkeit nichts als liberale Umwelttümelei sei. Das verlange eine millimetergenaue Abstimmung zwischen dem, was die Regierung in den nächsten Jahren an Einkommen verlieren wird, und der Erschließung neuer Einkommen, sei es durch andere Exporte, höhere Steuern für die Reichen und spürbaren Verbesserungen der Lebensbedingungen für die Mehrheit des Volkes.


Was die Rolle Lateinamerikas und der Karibik in der Welt betrifft, meint García Linera: Am Beginn des 21. Jahrhunderts habe Lateinamerika den ersten Gongschlag für die Erschöpfung des neoliberalen Zyklus gegeben. Hier lag der Beginn der Suche nach einer hybriden Mischung aus Protektionismus und Freihandel. „Heute ist die Welt im Wandel hin zu einem Regime der Akkumulation und der Legitimation, das den neoliberalen Globalismus ablöst – trotz der melancholischen Rückfälle in einen Paleo-Neoliberalismus wie in Brasilien unter Bolsonaro und in Argentinien unter Milei.“ Trotzdem sei der Halbkontinent heute etwas zu erschöpft. Es scheint, als müsse der postneoliberale Übergang erst im globalen Maßstab voranschreiten, damit Lateinamerika seine Kräfte erneuert, um den ursprünglichen Antrieb wieder aufzunehmen. Die Möglichkeit postneoliberaler Strukturreformen der zweiten Generation – oder noch radikalerer – die die transformatorische Kraft auf dem Kontinent wiedererlangen, wird auf größeren Wandel in der Welt warten müssen, und natürlich auf eine Welle kollektiver Aktionen von unten, die das Feld der denkbaren und der möglichen Transformationen verändern. Soweit dies nicht geschieht, würde Lateinamerika ein Szenario von Pendelschläge zwischen kurzfristigen Siegen des Volkes und kurzfristigen Siegen der Konservativen, zwischen kurzfristigen Niederlagen des Volkes und solcher der Oligarchien sein.


Das ursprüngliche Interview führte die kolumbianische Politologin, Feministin und Aktivistin Tamara Ospina Posse. Übersetzung und Zusammenfassung: Robert Lessmann

Zahlreiche Beiträge zur politischen Situation in Bolivien, dem Heimatland von García Linera, finden sich weiter unten in diesem Blog.

von © Robert Lessmann Dr 07 Jan., 2024

Es war Anfang des letzten Jahrzehnts in der Wiener UNO City. Juri Fedotow, ehemaliger Vizeaußenminister Russlands und diplomatisches Schwergewicht, war unlängst Chef des Drogenkontrollprogramms der Vereinten Nationen (UNODC – United Nations Office on Drugs and Crime) geworden, ein Posten, den er von 2010 bis 2020 innehatte. Als solcher leitete er höchstpersönlich eine Pressekonferenz, auf der eine internationale Initiative zur Drogenbekämpfung in Afghanistan vorgestellt wurde. Mit 123.000 Hektar war das Land am Hindukusch zum mit Abstand größten Produzenten geworden. Mit einem ausgewogenen Ansatz („balanced approach“) sollten unter anderem die Bauern vom Schlafmohn weg zur Produktion legaler Alternativen geleitet werden. Vielversprechend war vor allem die Beteiligung der Nachbarländer an Kontrollmaßnahmen und Fahndung, denn Afghanistan ist ein Binnenland. Der Weg auf die lukrativen Absatzmärkte führt über die Grenzen. Von den wichtigsten Anbauregionen im Süden (Provinzen Helmand und Kandahar) wurde der Export zu etwa zwei Dritteln nach Westen in den Iran und die Türkei abgewickelt, und dann über die Balkanroute nach Europa. Zu etwa einem Drittel  ging die illegale Ware über Hunderte von Kilometern auf einem prekären, gleichwohl aber übersichtlichen Straßensystem (Dschungel gibt es keinen) und über eine Handvoll Grenzübergänge in die ehemaligen Sowjetrepubliken Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan nach Norden. Ehemalige Ostblockländer – allen voran Russland – waren inzwischen ebenfalls zu wichtigen Absatzmärkten vor allem für minderwertige Ware („Kompott“) geworden. Kein Vergleich also zu südamerikanischen Kokainspediteuren, die mit Flugzeugen, Hubschraubern und U-Booten operieren. Doch nicht einmal dies zu unterbinden gelang: Beschlagnahmungen in Afghanistan gingen gegen Null und Korruption spielte eine wesentliche Rolle dabei.


Fundamentales Scheitern

Zurück zur Pressekonferenz, an deren Ende niemand eine Frage stellte. Um das peinliche Schweigen zu durchbrechen, fragte ich, wer sich denn mit welchen Summen der Initiative angeschlossen habe - und vergrößerte damit die Verlegenheit. Bislang hatte die neue Strategie nämlich noch keinerlei zählbare Unterstützung verbuchen können.


Dass die westliche Sicherheitskooperation fundamental scheitern würde, hatte man im Drogenbereich lange vor der „überraschenden“ Machtübernahme durch die Taliban im Sommer 2021 sehen können. Als Juri Fedotow den Chefsessel des UNODC übernahm, war Afghanistan mit 123.000 Hektar bereits der mit Abstand wichtigste Schlafmohnproduzent. Und während die legale (Land-) Wirtschaft keinerlei Dynamik­ entfaltete, kletterte der Anbau weiter von einem Rekord zum nächsten, gebremst nur durch Marktsättigung und gelegentliche Missernten, etwa durch Trockenheit, wie in den Jahren nach dem Allzeithoch von 2017.


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Schlafmohnproduktion in Afghanistan (Hektar in ausgewählten Jahren)

1995  2000  2001 2002    2010     2017    2020   2022  2023

55.759 82.171 7.606  74.100   123.000   328.000  224.000 233.000 10.800

Quelle: UNODC: World Drug Report, Vienna, verschiedene Jahrgänge und UNODC: Afghanistan Opium survey 2023.

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Heute wirbt das UNODC abermals um Unterstützung für Afghanistans Bauern, um den drogenpolitischen Erfolg zu stabilisieren. Beides hat freilich nur geringe Aussichten auf Erfolg, denn das Emirat der Taliban ist Schlusslicht bei allen Menschenrechtsstandards, bekanntermaßen insbesondere was die Lage der Frauen betrifft, und wird von Gebern gemieden. Ihr Dekret „Prohibition of Poppy Cultivation and All Types of Narcotics“ vom 3. April 2022 umfasst nicht nur Anbau, sondern auch Konsum, Transport, Verarbeitung, Handel, Import und Export – und zwar aller Drogen. Am 8. März 2023 wurde es durch ein explizites Cannabis-Verbot noch einmal bekräftigt. Ein solches Verbot galt zwar auch schon vorher unter westlicher Aufsicht. Offenbar aber verfügten die Machthaber damals über geringe Autorität, Legitimität oder politischen Willen. Jedenfalls sind nach dem Dekret der Taliban die Anbauflächen von 233.000 Hektar (2022) auf 10.800 Hektar (2023) zurückgegangen. Umgerechnet in Opium entspricht das einem Rückgang von 6.200 Tonnen auf 333 Tonnen, in Heroin rein rechnerisch von 350-480 Tonnen auf 24-38 Tonnen (bei einer durchschnittlichen Reinheit der Exportware von 50-70 Prozent).


Für die leidgeprüften Menschen und die kollabierte Volkswirtschaft bedeutet das eine riesige Herausforderung. Schon vor der abermaligen Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 war die Hälfte der Bevölkerung auf externe Hilfe angewiesen, und die Nahrungsmittelimporte waren genauso hoch wie die Eigenproduktion. Doch für diese Importe fehlt nun das Geld. Afghanistans Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ist während der Herrschaft der Taliban gesunken: Um 20,7 Prozent im Jahr 2021 und um weitere 3,6 Prozent in 2022. Fast 80 Prozent der Bevölkerung leben von der Landwirtschaft, die in den letzten Jahren auch noch von Wasserknappheit betroffen war. Man durchlebt dort gerade einen weiteren Hungerwinter. Die Vereinten Nationen schätzen, dass der Rückgang der Schlafmohnproduktion für die bäuerlichen Produzenten Einkommenseinbußen von 1.360 Mio. US Dollar (USD – 2022) auf nunmehr 110 Mio. USD (2023) bedeutet. Eine schnelle Umstellung auf Weizen wäre problemlos möglich, für die defizitäre Nahrungsmittelversorgung wichtig und lässt sich in der Tat auch vielfach beobachten, brächte aber Einkommenseinbußen von rund 1 Mrd. USD mit sich. Im Jahr 2022 machten die Einkommen aus dem Opiumanbau 29 Prozent des gesamten Agrarsektors aus. Für die krisengeschüttelte afghanische Volkswirtschaft lagen die Exporterlöse des Opiumsektors stets über denen der legalen Exporte von Gütern und Dienstleistungen. Im Jahr 2021 betrugen sie schätzungsweise zwischen 1,4-2,7 Mrd. USD, was 9-14 Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukts entsprach, heute liegen sie bei 190-260 Mio. USD. Ob sich diese Einbußen auf Dauer verkraften lassen? Bei einer Gesamtbevölkerung von rund 40 Millionen Menschen stellt die Abschiebung von 4,4 Millionen aus Pakistan in ihr Heimatland eine zusätzliche Herausforderung dar. Und nun will auch der Iran afghanische Flüchtlinge loswerden. Das Opiumgeschäft war Afghanistans wichtigster und sicherster Wirtschaftszweig und fungierte so auch als Kreditsicherheit. Die Vereinten Nationen berichten, dass Bauern nun eine im Rahmen der „Alternativen Entwicklung“ geplante Umstellung auf einträglichere Produkte als Weizen, wie zum Beispiel Granatapfel, Mandeln, Pistazien und Asant, mangels Liquidität nicht mehr schaffen, denn die erfordert Investitionen und Geduld.


Unklare Konsequenzen

Bei der verbleibenden Schlafmohnproduktion im Land, vor allem in der Provinz Kandahar, lässt sich ein Trend zu kleineren, versteckten Flächen beobachten. In den vergangenen Jahren wurden 40-60 Prozent der Ernte in Form von Rohopium exportiert. Über die Qualität der Weiterverarbeitung zu Heroin im Lande selbst ist wenig bekannt. Sie dürfte stark variieren. Während die Herstellung von Heroin in Afghanistan allem Anschein nach zurückgeht, deutet vieles darauf hin, dass Händler nun Lagerbestände verkaufen – und die dürften nach Ansicht des UNODC nach mehreren aufeinanderfolgenden Rekordernten beträchtlich sein. Die allermeisten Bauern verkaufen ihre Ernte aber direkt und nur wenige verfügen über solche Bestände. Die Verknappung dürfte also nicht zuletzt größeren Produzenten und Drogenhändlern zugute kommen. In der Tat waren die farmgate-Preise für ein Kilogramm getrocknetes Opium im August 2023 mit 408 USD fünfmal höher als zwei Jahre vor der Machtübernahme durch die Taliban, als die Preise aufgrund immer neuer Rekordernten relativ niedrig waren.


Um die Auswirkungen auf den internationalen Drogenmärkten abzuschätzen sei es noch zu früh, sagt das UNODC. Normalerweise braucht es ein bis zwei Jahre, bis die Opiate zu den Konsumentenmärkten gelangen. Und auf dem Weg dorthin, dürfte es reichhaltige Lagerbestände geben. Theoretisch wäre eine Angebotsverknappung, ein Preisanstieg und sinkende Reinheit der Ware denkbar. Auch eine Hinwendung der Konsumenten zu billigeren und potenteren synthetischen Ersatzdrogen wie Fentalyl wäre zu befürchten. Fentanyl ist 100 Mal potenter als Morphin und wird häufig dem Heroin auch beigemischt. Fentanyl-Überdosen sind heute die häufigste Todesursache für US-Amerikaner zwischen 18 und 45 Jahren. Europa ist davon weit entfernt, doch Probleme mit Fentanyl nehmen auch hier zu.


Schließlich könnten mittelfristig andere Anbaugebiete die Lücke füllen. Bevor afghanische Mudschaheddin-Gruppen in den 1980er Jahren Opium als probates Produkt zur Finanzierung ihres Kampfes gegen die sowjetischen Besatzer entdeckten – und der Westen dies augenzwinkernd tolerierte – hatte der Anbau von Schlafmohn dort keine Rolle gespielt. Als die Taliban 1996 zum ersten Mal in Kabul einmarschierten erzeugte Afghanistan bereits zwei Drittel des Weltopiums. Beim vormaligen Marktführer Myanmar bröckelt heute die Herrschaft der Militärdiktatur. So erfreulich das ist, ein Machtvakuum würde ideale Bedingungen für eine mögliche Rückkehr der Drogenwirtschaft zu alter Größe dort schaffen. Myanmar ist schon heute wieder Nummer eins bei der Opiumproduktion. Und in Afghanistan selbst expandiert derweil die Produktion von Metamphetamin.


Wie dem auch sei: Ein erstes Anbauverbot durch die Taliban in den Jahren 2000/2001 hatte auf den Konsumentenmärkten keine Auswirkungen. Damals hatte man vermutet, die Taliban würden diese Maßnahme setzen, um auf der Grundlage voller Lagerbestände die Preise zu stabilisieren. Ob es ernst gemeint war, konnte man nicht mehr feststellen, denn Ende 2001 waren die Taliban durch die Operation „Enduring Freedom“ vertrieben und die Regierung Hamid Karzai auf der Petersberger Konferenz installiert. Der Opiumanbau war damals tatsächlich von 82.171 auf 7.606 Hektar gefallen. Aber 2002 hatte er bereits wieder alte Größenordnungen erreicht. Schlafmohn ist eine einjährige Pflanze. Zwischen Aussaat und Ernte liegen nur einige Monate. Weshalb also sollten die Taliban den dürren Halm kappen, an dem die Volkswirtschaft noch hängt? Aus religiösen Gründen, sagen sie heute wie damals. Vielleicht ist es einfach ein Versuch, mächtige Lokalfürsten und Warlords an die Kandare zu nehmen, die vom illegalen Geschäft profitier(t)en. Eine Frist erlaubte im letzten Jahr noch den Verkauf der Ernte 2022. Wie auch immer: Die Entscheidung ist problemlos reversibel.

von © Robert Lessmann Dr 26 Nov., 2023

Mit einer unerwartet deutlichen Mehrheit von 55,7 Prozent gewann der politische Newcomer Javier Milei die Stichwahl um das Präsidentenamt. Wenn der selbsternannte „Anarchokapitalist“ am 10. Dezember die Amtsgeschäfte in der Casa Rosada in Buenos Aires übernimmt, so ist zu befürchten, wird das Land am Rio de la Plata neben der wirtschaftlichen Dauerkrise noch den Höhepunkt einer politischen Krise erdulden müssen. Lateinamerikanische Bündnis- und Integrationssysteme werden wohl geschwächt.


Buenos Aires. Martín, ein cartonero , der bereits im Morgengrauen unterwegs ist, sammelt auf seinem Karren Papier und Kartons. ‚Nein‘, sagt er, Hoffnung habe er keine, dass es nach den Wahlen besser wird. Aber schlechter könne es ja auch nicht mehr werden.“ So hatte ich eine Reportage vor den letzten Wahlen 2019 begonnen. Martín hat sich leider getäuscht. Armut und Misere haben seither weiter zugenommen. Ich brauche hier eigentlich nur die Ziffern zu korrigieren: Die Inflation ist von damals 50 auf heute 143 Prozent geklettert, die offizielle Arbeitslosigkeit ist von damals 10 Prozent leicht gesunken, dafür liegt die verdeckte bei über 40 Prozent, und über 40 Prozent der Menschen gelten als arm. Der gemäßigt linke Präsident Alberto Fernández, Wahlsieger von 2019, konnte praktisch keines seiner Versprechen einlösen und trat aktuell gar nicht erst wieder an. Sein Wirtschaftsminister, Sergio Massa, ging mit dem Manko ins Rennen, dass er mit dem Niedergang identifiziert wird. Trotzdem war er überraschend als Sieger aus dem ersten Wahlgang hervorgegangen, konnte dann aber nicht mehr zulegen.


Argentinien in der Dauerkrise

„Wir rechnen in Dollars“, sagt Antonia, die eine kleine Reiseagentur betreibt. „Alles andere wäre verrückt bei dieser Inflation.“ Ein Dauerthema im Heimatland des Revolutionärs Ernesto „Che“ Guevara, der 1928 in der Industriestadt Rosario geboren wurde. Als der aufwuchs, zählte Argentinien zu den reichsten Ländern der Welt. Seine landwirtschaftlichen Exporte waren besonders in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gefragt. Eine Diversifizierung der Wirtschaft blieb aber aus. Die Militärdiktatur (1976-83) häufte einen Schuldenberg an. Aus der Schuldenfalle kam man nie mehr heraus. Als in den 1980er Jahren die „Verschuldungskrise der Dritten Welt“ das internationale Bankensystem an den Rand des Zusammenbruchs brachte, gehörte Argentinien zusammen mit Brasilien zu den meistverschuldeten Ländern. Die Auslandsguthaben reicher Argentinier waren schon damals höher als die Rekordverschuldung des Landes. Daran hat sich im Wesentlichen nichts geändert und so taumelt Argentinien von einer Krise in die nächste. Das neue Jahrtausend begann bereits mit dem Zusammenbruch des Finanzsystems. Unter Néstor Kirchner folgten ab 2003 auf der Grundlage hoher Rohstoffpreise stabile Jahre mit Lohnerhöhungen, Sozialprogrammen und Politiken der Importsubstitution. Dem Peronisten gelang 2005 auch eine spektakuläre Umschuldung eines Teils der Verbindlichkeiten, wobei Anleihegläubiger auf rund zwei Drittel ihrer Forderungen verzichten mussten. Die Auslandschulden hatten damals ein Rekordniveau von fast 200 Milliarden US Dollar erreicht. Heute sind sie mehr als doppelt so hoch. Unter seiner Frau Cristina kam es 2010 zu einer Neuauflage dieser Umschuldung in kleinerem Maßstab. Doch ab 2011 wurden bei sinkenden Exporteinnahmen die Budget- und Handelsbilanzdefizite wieder chronisch und 2014 schrammte Argentinien abermals knapp an der Staatspleite vorbei.


Bis auf wenige Ausnahmen regierten die linkspopulistischen Peronisten, mit einem breiten Spektrum durchaus wandelbarer Positionen bis hin zum neoliberalen Carlos Menem (1989-1999). Ab Dezember 2015 war der konservative Unternehmer Mauricio Macri Staatspräsident. Unter ihm fielen Devisenkontrollen und andere Regulierungen, mit denen Steuerhinterziehung und Kapitalflucht verhindert werden sollten. Seine „boys“ sprachen dieselbe Sprache, trugen die gleichen Anzüge und hatten dieselben Universitäten besucht wie die Manager der Finanzzentren in Washington und London. Der Internationale Währungsfonds gewährte neue Kredite, 2018 in der Rekordhöhe von 50 Milliarden US Dollar. Mit fresh money sollte die Konjunktur Fahrt aufnehmen, argentinisches Auslandskapital zurück gelockt und im Land investiert werden. Doch die Erwartungen auf einen Investitionsboom erfüllten sich nicht. Vielmehr machten Zinserhöhungen in den USA Auslandsanlagen noch attraktiver und sinkende Rohstoffpreise plagen Argentinien wie andere Schwellenländer. Wieder setzte eine Abwärtsspirale ein. Die Staatsverschuldung liegt bei 85 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und auch wenn Argentinien regelmäßig seine Verpflichtungen nicht erfüllt (oder erfüllen kann) ist es für die Finanzwelt too big to fail. Die Verschuldungsspirale dürfte sich also fortsetzen. Nachdem die Bevölkerung auch von den Peronisten enttäuscht war, hatte man bereits 2019 befürchtet, dass die extreme Rechte zulegen könnte. Doch setzte sich der gemäßigt linke Peronist Alberto Fernández durch. Der recht unorganisierten extremen Rechten fehlten damals die konservativen Steigbügelhalter. Als „mugre“ – Dreck – bezeichnete mein Taxifahrer mit deutlich italienischem Akzent die bolivianischen Arbeitsmigranten, deren Hütten vor den Toren von Buenos Aires den Weg zum Flughafen säumen: „Ich hasse sie!“ In der Verzweiflung hat die Suche nach Sündenböcken auch im Einwandererland Argentinien Konjunktur.


Kettensägenpolitik

Nachdem der im ersten Wahlgang zweitplatzierte Javier Milei das Mitte-Rechts-Bündnis Juntos por el Cambio (JxC) deutlich hinter sich gelassen hatte, sprachen dessen Kandidatin Patricia Bullrich und Expräsident Mauricio Macri ihre Unterstützung für den politischen Newcomer aus, dem jedwede Regierungserfahrung fehlt. Diese Stimmen aus dem konservativen Milieu dürften mindestens ein Viertel der insgesamt 55,7 Prozent ausmachen und entscheidend gewesen sein. Schon vorher, so sehen es viele Beobachter, räumte das konservative Establishment Milei ungewohnt breiten medialen Raum ein, um den politischen Diskurs nach rechts zu verschieben. (Ein Phänomen, das man auch diesseits des Atlantiks zum Überdruss kennt und vor dem man nicht genug warnen kann.)


Ob ihre Rechnung nun aufgeht und sie den Chaoten einhegen können? Wenn ja, wird das Ergebnis ein radikaler Neoliberalismus ohne soziale Abfederung sein, wie er bereits in den 1990er Jahren in Regierungskollaps und Staatsbankrott mündete. Wenn nicht, dann ist es ein Kopfsprung ins Ungewisse. Milei ist erst vor fünf Jahren mit ultralibertären Slogans und Provokationen hervorgetreten. Seine „Bewegung“ verfügt kaum über Struktur und Fachpersonal, aber über Kontakte zur rechtsradikalen spanischen VOX. Wollte er ursprünglich „alles privatisieren“, die Bürokratie und öffentliche Ausgaben „mit der Kettensäge bescheiden“, den Dollar einführen und die „Zentralbank in die Luft sprengen“, so hat er sich in den Wochen vor der Stichwahl eine gewisse verbale Mäßigung auferlegt. Ungeachtet dessen reiht er sich unter die ultrarechten, nationalistischen Marktschreier à la Trump und Bolsonaro ein, die den frustrierten Menschen den Lautsprecher machen ohne Lösungen anzubieten. So beleidigte der Katholik Milei den Landsmann, Papst Franziskus. Lula da Silva, den Präsidenten des wichtigsten Handelspartners, Brasilien, hat er als „Kommunist“ und als „korrupt“ bezeichnet. Auch der zweitwichtigste Handelspartner, China, ist für Milei „kommunistisch“ und unberührbar. Da wird er in Kürze den wirtschaftspolitischen Realitäten ins Augen blicken müssen.


Aber die Befürchtung ist, dass er den Peso absichtlich weiter absacken lassen könnte, um „zur Rettung“, wie angekündigt, den Dollar einzuführen. Ganz sicher sind Wissenschaft und Kultur, Arbeits-, Frauen-, Menschen- und Minderheitenrechte sowie der Umweltschutz in Gefahr. Last but not least werden der Staatsterror und die Menschenrechtsverbrechen der argentinischen Militärdiktatur von Milei und seinen Gefolgsleuten als „gewisse Exzesse“ relativiert oder gar geleugnet. Die Medien, so kündigte Milei nach seinem Wahlsieg an, sollen als "Propagandainstrumente“ sogleich privatisiert werden. Den menschengemachten Klimawandel leugnet er. Als Partner für die Erreichung der Klimaziele dürfte Argentinien ausscheiden. Seine erste Auslandsreise will Milei folgerichtig nicht wie üblich ins Nachbarland Brasilien machen, sondern bereits vor der Amtseinführung in die USA. Das verheißt nichts Gutes für den gemeinsamen Wirtschaftsraum MERCOSUR an sich - und als potentieller Partner für Europa. Und auch nicht für die links regierten Nachbarländer Bolivien und Chile. Eine Lithiumachse der drei Länder dürfte damit unwahrscheinlicher werden. Besonders mit Chile gab es entlang der 4.000 Kilometer langen gemeinsamen Grenze in der Vergangenheit immer wieder Konflikte.


Politisches Erdbeben

Alberto Fernández rief zu einer gründlichen Aufarbeitung des Wahldebakels auf. Das Lager der klassisch Konservativen ist bereits gespalten, denn ein Teil von ihnen war nicht bereit, das politische Abenteuer der Macri- und Bullrich-Fraktion mitzumachen, darunter Horacio Rodríguez Larreta, der scheidende Bürgermeister von Buenos Aires, wo nahezu ein Drittel der 45 Millionen Argentinierinnen und Argentinier leben.


Milei hat im Parlament keine Mehrheit. Mit 39 Abgeordneten verfügt er nur über die drittstärkste Fraktion. Mehrheiten wird er sich zusammensuchen müssen oder per Dekret regieren, was seinem Naturell ohnehin besser entsprechen dürfte. In seinen Reden ist viel von Freiheit die Rede, aber nie von Demokratie. Ob Argentinien in die Unregierbarkeit taumelt? So oder so kann er mit starkem gewerkschaftlichem und zivilgesellschaftlichem Widerstand rechnen.

von © Robert Lessmann Dr 14 Nov., 2023

Zwei „Parteitage“, zwei Parlamentsfraktionen und – unausgesprochen – zwei Präsidentschaftskandidaten für die 2025 anstehenden Wahlen. Das ist das traurige Bild, das die MAS allen Aufrufen zur Einigkeit zum Trotz derzeit abgibt. Der innerparteiliche Streit paralysiert das Parlament. Die fragmentierte und inhaltsleere Rechtsopposition – einzelne ihrer Parteien sind ebenfalls gespalten – tritt so gut wie nicht in Erscheinung und braucht eigentlich nur abzuwarten. Der Streit innerhalb der Regierungspartei überlagert alles. Umfragen sehen die beiden MAS-Fraktionen derzeit, das heißt 22 Monate vor den Wahlen, bei jeweils etwa 20 Prozent der Stimmen. Das reicht für keines der Lager, würde aber im Fall ihrer Einigung der Opposition reichen. Ein solches Szenario liegt näher, als es vielleicht aussehen mag. Mehrfach wurden in der Vergangenheit unter tätiger Mithilfe ausländischer Vertretungen solche Bündnisse auch über ideologische und programmatische Differenzen hinweg geschmiedet, um progressive Regierungen zu verhindern. Man denke nur an die Megakoalition unter dem Exdiktator Hugo Banzer (1997-2001). Die Protagonisten der MAS-Spaltung scheint das freilich wenig zu kümmern.


Was ist die MAS?

Was steht auf dem Spiel? Die bolivianische Gesellschaft ist hochgradig organisiert und die MAS verstand sich in Abgrenzung zu den Altparteien als politisches Instrument der sozialen Bewegungen: MAS/IPSP – Movimiento al Socialismo/ Instrumento Pol ítico para la Soberanía de los Pueblos . Hervorgegangen ist sie in den 1990er Jahren aus den kampfstarken Gewerkschaften der Kokabauern, die sich gegen die von den Vereinigten Staaten forcierte Zwangsvernichtung ihrer Felder wehrten. Ihr wichtigster Anführer war Evo Morales. Mit der Participación Popular von 1994 bekamen die Gemeinden auf dem Lande erstmals eigenen Rechtsstatus und Budgethoheit. Bereits 1995 beschloss die 12. Nationalkonferenz der Kokabauern die Schaffung eines eigenen Instrumento Político. Man empfand es als unbefriedigend, auf den Listen kleiner Linksparteien zu kandidieren. Bei den ersten Wahlen zu den neuen Gemeindevertretungen gewannen im Jahr 1996 Mitglieder der Kokabauerngewerkschaft alle Rathäuser im Anbaugebiet des Chapare. Bei den Parlamentswahlen 1997 gewann die kleine Izquierda Unida vier Direktmandate. Alle im Chapare, darunter mit 69 Prozent für Evo Morales das landesweit stimmenstärkste. Zwei Gründungskongresse scheiterten, bevor die MAS/IPSP im Jahr 1999 offiziell registriert wurde. Ihr gelang die Verknüpfung der sozialen mit der indigenen Frage und der nationalen Souveränität. Im krisengeschüttelten Andenstaat entwickelte sich die MAS in enger Verbindung mit dem Gewerkschaftsbund COB und der Landarbeitergewerkschaft CSUTCB rasch zum Kristallisationspunkt der Unzufriedenen und stand daneben mit ihrer Galionsfigur Evo Morales für die Verteidigung der nationalen Souveränität gegen die von außen oktroyierte Politik der Kokavernichtung und sonstige Bevormundungen. Die MAS wurde auf demokratische und organische Weise von unten zu einer Art Einheitspartei der sozialen Bewegungen. Bei den Parlamentswahlen vom 30. Juni 2002 wurde die MAS auf Anhieb zweitstärkste Partei, nur ganz knapp hinter dem neoliberalen Wahlsieger „Goni“ Sánchez de Lozada (heute im US-Exil wegen Menschenrechtsverbrechen verurteilt) – und war mithin in der Stichwahl um das Präsidentenamt. „Goni“ gewann und ging mit der gemäßigten Linken eine Koalitionsregierung ein. Doch die Krise dauerte an. Nach drei Präsidentenrücktritten ging schließlich die MAS mit einem Erdrutschsieg aus den Wahlen vom 18. Dezember 2005 hervor. Noch spektakulärer als deren absolute Mehrheit war der Absturz der Altparteien, von denen nur eine einzige noch den Sprung über die Dreiprozentklausel schaffte. Im Januar 2006 wurde Evo Morales als Präsident vereidigt. Vizepräsident wurde der Linksintellektuelle Álvaro García Linera.


Das kleine Land im Herzen des Halbkontinents wurde zum vielbeachteten Hoffnungsträger. Könnte die Entwicklung dort ein Vorbild sein? Nichts weniger als die „Neugründung Boliviens“ hatte man sich vorgenommen. Eine Regierung der sozialen Bewegungen wollte man sein. Bereits sechs Wochen nach Amtsantritt wurde ein Einberufungsgesetz zu einer verfassunggebenden Versammlung verabschiedet. Die neue Verfassung wurde dann 2009 erstmals durch eine Volksabstimmung angenommen. Bolivien wurde durch sie zum „plurinationalen Staat“. Soziale Rechte, Indígena-Rechte und die Rechte der Pachamama wurden darin festgeschrieben. Indigene Sprachen wurden auch Amtssprachen und die bunte Wiphala-Fahne gleichwertig neben die rot-gelb-grüne Nationalflagge gestellt. Die Nationalisierung der Kohlenwasserstoffressourcen vom 1. Mai 2006 spülte bei günstiger Konjunktur Devisen in die Staatskasse, die für eine Umverteilungs- und Sozialpolitik verwendet wurden. Die Armutsquote sank deutlich, die durchschnittliche Lebenserwartung stieg um Jahre. Ein bedeutender Teil der Unterschicht stieg in die untere Mittelschicht auf. Deren Binnennachfrage stabilisierte die Wirtschaft, auch als die Exporteinnahmen nach 2015 einbrachen. Grundlage war der Extraktivismus, insbesondere die Exporte von Erdgas. Grundlegende Strukturreformen unterblieben. Die Präsidentschaft von Morales war von einer Serie von Wahlen und Abstimmungen begleitet, was manche Beobachter als referenditis bezeichneten. Er hat sie alle mit absoluter Mehrheit gewonnen: eine bis dato in Bolivien unbekannte politische Stabilität.


Bis zum Februar 2016, als Morales durch ein Referendum den Artikel 168 der Verfassung ändern lassen wollte, der nur zwei Amtsperioden in Folge zulässt. Das Referendum ging knapp verloren. Morales ignorierte das Resultat und kandidierte 2019 erneut. Viele Bolivianerinnen und Bolivianer sahen sich nun durch ihn um das einmalige Demokratieerlebnis betrogen, das er ihnen zuvor beschert hatte. Die zersplitterte und inhaltsleere Opposition witterte Morgenluft.


Anfang vom Ende?

Trotz herber Verluste von etwa 14 Prozent gewann die MAS auch die Wahlen vom 20. Oktober 2019 mit deutlicher (rund 47 Prozent), aber nicht mehr mit absoluter Mehrheit. Die Frage war nun, ob sie zehn Prozentpunkte vor dem Zweitplatzierten liegen würde, was nötig ist, um eine Stichwahl zu vermeiden. Man fürchtete, die Opposition würde in diesem Fall geschlossen auftreten. Als am Wahlabend die Schnellauszählung angehalten wurde (nicht die amtliche), rief die Opposition: „Wahlbetrug!“. Büros der Wahlbehörde in verschiedenen Departements wurden angezündet. Ein vorschneller Bericht der OAS-Wahlbeobachter unterstützte diese Sicht. Proteste weiteten sich aus. Schließlich meuterte die Polizei und der Armeechef legte Morales den Rücktritt nahe. Am 10. November floh dieser zusammen mit dem Vizepräsidenten ins Exil nach Mexiko. Zwei Tage später füllte eine selbsternannte „Interimsregierung“ der politischen Rechten das Vakuum, an dessen Entstehung sie tatkräftig mitgearbeitet hatte. Das geschah unter Missachtung des vorgesehenen Prozederes, ohne ordentlich einberufene Sitzung und ohne Quorum. Abgeordnete der MAS, die im Parlament über eine Zweidrittelmehrheit verfügte, wurden am Betreten des Gebäudes gehindert. Einige junge MAS-Abgeordnete, darunter der nun amtierende Innenminister, versuchten es unter körperlichem Einsatz dennoch. Die junge Parlamentspräsidentin Eva Copa hielt das Fähnlein der MAS dann monatelang gegen die repressive de facto-Regierung hoch, sah sich aber zu Kompromissen gezwungen, was ihr später zum Vorwurf gemacht wurde.


Die „Interimsregierung“ Añez machte keine Anstalten, Neuwahlen abzuhalten, und war ein Desaster auf der ganzen Linie. Sie ist heute Gegenstand mehrerer Strafverfahren. Ihr Innenminister ist bereits wegen Korruption verurteilt – und zwar in den USA. Schließlich erkämpften die sozialen Bewegungen durch Straßenblockaden Neuwahlen, aus denen am 18. Oktober 2020 erneut die MAS mit 55 Prozent der Stimmen und fast 27 Prozentpunkten Vorsprung als Sieger hervorging. Morales hatte aus dem Exil die Spitzenkandidaten nominiert. Sein langjähriger Superminister für Wirtschaft und Finanzen, Luis Arce, wurde Präsident. Sein früherer Außenminister David Choquehuanca Vize. (Die Basis hätte Choquehuanca favorisiert, doch den hatte Morales Anfang 2017 abgesägt, weil er sich nach dem verlorenen Referendum von 2016 als Kandidat ins Spiel gebracht hatte.) Nach deren Amtsübernahme kehrte Morales im Triumphzug aus dem Exil zurück und blieb Parteichef. Als solcher versuchte er in gewohnter Manier, die Geschicke des Landes und seiner Regierung zu lenken. Das konnte nicht gutgehen. Schon die Regionalwahlen von Anfang 2021 wurden für die MAS zum Misserfolg. Stichwahlen wurden durch MAS-Dissidenten gewonnen, die Morales nicht genehm gewesen waren. Und Eva Copa, die keinen aussichtsreichen Platz für eine Kandidatur erhalten hatte, weil Morales ihr vorwarf, mit der Regierung Añez zusammengearbeitet zu haben, wurde auf der Liste einer anderen Partei mit einem Rekordergebnis zur Bürgermeisterin der zweitgrößten Stadt, El Alto, gewählt.


In dem Maße, wie die Kritik am Expräsidenten wuchs, der aus dem sicheren Exil heraus jene kritisiert hatte, die daheim für ihn den Kopf hinhielten, wurde Morales’ Kritik an „seiner“ Regierung immer direkter und schriller. Morales warf ihr einen Rechtsruck und Paktieren mit der Opposition vor, nachdem man sich auf ein Verfahren zur Volkszählung geeinigt hatte. Zwölf Abgeordnete wurden aus der Partei ausgeschlossen, jegliche Kritik als „Verrat“ diffamiert. Als sich der junge Innenminister Eduardo del Castillo (Bild) im Jänner 2022 „erdreistete“, Maximiliano Dávila zu verhaften, der unter Morales Chef der Spezialkräfte für den Kampf gegen den Drogenhandel gewesen war, nun aber von der DEA gesucht wurde und sich auf der Flucht nach Argentinien befand, wurde er neben Vizepräsident Choquehuanca und zusammen mit dem Justizminister zum Lieblingsfeind. Morales verlangte immer wieder deren Rücktritt. Man beschuldigte sich gegenseitig, mit dem Drogengeschäft unter einer Decke zu stecken. Als die MAS-Parlamentsfraktion mit der Opposition ein Amtsenthebungsverfahren gegen del Castillo durchsetzte, wurde er von Präsident Arce umgehend wieder berufen. Schließlich hatte er sich nicht nur aktiv gegen die Machtergreifung der Rechten gewehrt. Er hatte zusammen mit dem Justizminister auch dafür gesorgt, dass die maßgeblich Verantwortlichen vor Gericht gestellt wurden, darunter eine ganze Reihe hoher Militärs.


Spaltung um jeden Preis?

So spalteten sich die MAS-Fraktionen in Senat und Abgeordnetenkammer und Meinungsverschiedenheiten wurden auch mal mit den Fäusten ausgetragen. Gleiches gilt seit August dieses Jahres für die sozialen Bewegungen, wo es heute jeweils eine Fraktion von evistas beziehungsweise arcistas gibt, stets mit Alleinvertretungsanspruch. Ihre Kongresse führten teilweise zu Tumulten.


Am 3. und 4. Oktober fand ein Parteitag der MAS statt, der erneut Evo Morales zum Parteichef und Spitzenkandidaten für die Wahlen 2025 nominierte. Die Parteiführung hatte ihn in Llauca Ñ anberaumt, Morales’ Hochburg im Chapare. Vom Selbstausschluss von Präsident und Vizepräsident war dort die Rede. Der „lider indiscutible“, wie ihn seine Anhänger nennen, hatte bereits zwei Wochen vorher erklärt, dass er „auf Druck der Basis“ wieder kandidieren werde. Die regierungsnahen Teile der MAS und der sozialen Bewegungen wiederum hielten Mitte Oktober in El Alto, ein cabildo (Rat, kein Parteitag) ab, bei dem sie der Regierung von Präsident Arce ihre Unterstützung versicherten und ihm eine Liste von Forderungen übergaben. Der Parteitag von Llauca Ñ wurde für nichtig erklärt. Der Gewerkschaftsbund COB hatte bereits unmittelbar danach erklärt, dass er dessen Beschlüsse nicht anerkennen würde. Schon am 7. September hatte der „Einheitspakt“ der sozialen Bewegungen die Einladung dazu für nichtig erklärt. Inzwischen wurde er vom Obersten Wahlgerichtshof auch für ungültig erklärt, weil die Einladung nicht gemäß der Parteistatuten erfolgt sei.


Der ehemalige Vizepräsident Álvaro García Linera sagte in einem Interview, man solle die Regierung Arce arbeiten lassen und warnte vor „elektoralem Selbstmord“. Morales bezeichnete ihn daraufhin als „falschen Analytiker“, der sich die indigene Bewegung zunutze mache und als „neuen Feind“. Andere Analysten hatten schon vor einiger Zeit vorgeschlagen, dass die alte Garde das Feld einer neuen Generation überlassen solle, die 2019/20 vor Ort die Demokratie verteidigt hatte: Adriana Salvatierra, Eva Copa, Gabriela Montaño und Diego Pary sind Namen, die dabei fallen. Der Prominenteste von ihnen, Senatspräsident Andrónico Rodríguez, gilt als evista , ist aber stets eher zurückhaltend und ausgleichend aufgetreten. Auseinandersetzungen um seine Wiederwahl hatten wochenlang das Parlament blockiert – unter anderem die Verabschiedung des Budgets. Die arcistas hatten eine Gegenkandidatin nominiert, aus Gründen der Genderparität, wie es hieß. Nunmehr ist er mit den Stimmen der evistas und der Opposition wiedergewählt, wobei man als Gegenleistung eine Neun-Punkte-Agenda der Opposition angenommen hat. Schon vorher war das Parlament paralysiert, während draußen Bürgermeister die Verabschiedung ihres Budgets verlangten. Unter anderem blockierten Opposition und evistas Mitte September einen Gesetzesentwurf gegen sexuelle Gewalt, der als Reaktion auf den Missbrauchsskandal des verstorbenen Jesuiten Alfonso Pedrajas eingebracht worden war, der in seinen Aufzeichnugen dutzendfachen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen zugegeben hatte. Eva Copa sprach schon damals von einem golpe legislativo (einem parlamentarischen Putsch). Hoffnungsträger und Vorbilder sehen anders aus. Die Geschichte Boliviens und Lateinamerikas ist voll von fortschrittlichen Projekten, die durch caudillismo und Sektierertum gescheitert sind. Ob sich die Akteure ihrer Verantwortung vor der Gesellschaft und der Geschichte bewusst sind?

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von Robert Lessmann Dr 13 Nov., 2024


Was passiert mit den einstigen Hoffnungsmodellen Lateinamerikas? Kuba und Venezuela läuft die Bevölkerung davon. In Nicaragua herrscht Ortega wie ein abschreckender Diktator. Und in Bolivien arbeitet der erfolgreichste Präsident, den das Land je hatte, heute mit Nachdruck an der Zerstörung seines Erbes und seines Ansehens. Die Berichterstattung unserer Medien – sofern sie von diesen Ländern überhaupt berichten – goutiert Wirtschaftskrisen und die Glaubwürdigkeit von Wahlen. Selten geht es darum, wie es den Menschen geht. Die Solidaritätsbewegung, Freunde und Sympathisanten sehen konsterniert zu – und schweigen.


Tobias Lambert blickt aus linker Perspektive hinter die Kulissen Venezuelas, das mit seinem „bolivarianischen“ Ansatz im neuen Jahrtausend ganz Lateinamerika mitreißen wollte. Er bereist das Land seit mehr als 20 Jahren und berichtet darüber. Kenntnis- und detailreich rekapituliert er die Vorgeschichte und den politischen Prozess unter Hugo Chávez (im Bild auf der Klimakonferenz von Cochabamba, 2010) und danach, bespricht Wahlergebnisse und politische Trends auf der Linken wie auf der Rechten. An vielen Stellen vermisst man im Text regelmäßige Jahreszahlen, die helfen würden, in der Komplexität den roten Faden nicht zu verlieren. Eine Zeittafel wäre eine hilfreiche Ergänzung bei allen weiteren Auflagen.


Drei Linien treten in Lamberts Analyse als Erklärung hervor: erstens der fragile Extraktivismus. Man könnte auch sagen, ein auf die Einkommen aus dem Export nicht erneuerbarer Rohstoffe (Erdöl im konkreten Fall) gestützter politischer und gesellschaftlicher Voluntarismus. Man hat zwar immer gewusst: „hay que sembrar el petroleo“ (man muss die Öleinnahmen säen, die Wirtschaft diversifizieren), es aber nicht getan. Die Korruption im Land wurde durch den Exportboom noch gefördert. Mit sinkenden Weltmarktpreisen bracht die Krise aus.


Zweitens: Die zentrale Rolle einer charismatischen Führungsperson, auf die sich das Projekt stützt und ins Wanken gerät, wenn diese wegbricht. Je stärker das Modell wirtschaftlich und politisch unter Druck geriet, desto mehr reagierte es mit antidemokratischen und repressiven Praktiken, intransparenten Privatisierungen, Teilliberalisierungen unter Beibehaltung staatlicher Kontrollen, steuerfreien Importen von denen eine neue, sogenannte „Bolibourgeoisie“ profitierte. Vom Sozialismus des 21. Jahrhunderts ist nur gelegentlich noch die Rede.


Und drittens die unverbrüchliche Feindschaft der alten Eliten, der nationalen wie der internationalen. In diesem Zusammenhang wird in Lamberts Buch deutlich, wie desolat und zerstritten die venezolanische Opposition zumeist war (und ist), und wie sie trotzdem von Washington und seinen Verbündeten unterstützt wird, egal wie chaotisch sie daherkommt. Man denke nur an die Anerkennung der „Präsidentschaft“ von Juan Guaidó. Nebenbei wirft das auch ein Schlaglicht auf viel kritisierte Allianzen mit Schurkenstaaten wie dem Iran oder Weißrussland. Mit wem, so könnte man sich in europäischen Hauptstädten fragen, sollte ein Präsident denn Beziehungen anknüpfen, auf den Washington ein millionenschweres Kopfgeld aussetzt?


Das Buch behandelt zuletzt sogar noch das umstrittene Wahlergebnis von 2024. Regierung und Opposition reklamieren den Wahlsieg für sich. Washington und seine Verbündeten glauben der Opposition. Beide Seiten behaupten, dass sie ihn dokumentieren können. Wer es definitiv und lückenlos könnte, wäre die Regierung Maduro, woran Lambert keinen Zweifel lässt. Dass sie es nicht tut, schmälert einmal mehr ihre Glaubwürdigkeit, nun auch für die befreundeten Regierungen in Kolumbien und Brasilien, die von der venezolanischen Krise ja mit betroffen sind. Das katastrophale Patt (Antonio Gramsci) zwischen einer repressiv sich an der Macht haltenden Regierung und einer Opposition, von der leider auch nichts zu erwarten ist, können nur die Venezolanerinnen und Venezolaner selbst aufheben. Und darauf besteht vorerst leider wenig Hoffnung.


Wie auch immer: Wer zu Venezuela mitreden will, sollte Lamberts Buch lesen.


Tobias Lambert: „Gescheiterte Utopie? Venezuela ein Jahrzehnt nach Hugo Chávez“, Mandelbaum Verlag, Wien, 2024, 238 S., € 23.-



von Robert Lessmann Dr 15 Aug., 2024

Vorweg: Außenpolitik spielt im US-Wahlkampf eine Nebenrolle und Lateinamerika so gut wie gar keine, sieht man von Migration, Drogen und Rohstoffen (Öl, Lithium) ab. Das ist nicht neu: Coletta Youngers, bis vor Kurzem jahrzehntelange Mitarbeiterin des renommierten Washington Office on Latin America nennt auch die Lateinamerikapolitik der Regierung Biden-Harris „awful“ (heillos – um hier die schwächstmögliche Übersetzung zu gebrauchen).


Ausgerechnet General Laura Richardson, Chefin des für Südamerika zuständigen US Southern Command der Streitkräfte, beklagte im letzten Jahr mehrfach öffentlichkeitswirksam, dass die Vereinigten Staaten im Ringen um Rohstoffe ins Hintertreffen geraten seien, insbesondere im Lithiumdreieck: Argentinien, Bolivien, Chile. Ziel müsse es sein (wörtlich) „to box out our adversaries, box out our competitors“ (Widersacher und Konkurrenten wegzuboxen). Diplomatie stellt man sich in den betroffenen Ländern anders vor.


Vizepräsidentin Harris führte eine Initiative zur Eindämmung des Migrantenstroms an und konnte in diesem Zusammenhang mehr US-Hilfen für zentralamerikanische Länder durchsetzen sowie Direktinivestitionen von US-Unternehmen einfädeln. Auch wenn für viele NGOs, die in den USA zu diesem Thema arbeiten, die ganze Strategie fragwürdig ist: Der Ansatz, in Zusammenarbeit mit lokalen Akteuren Fluchtursachen zu bekämpfen, unterscheidet sich deutlich von der menschenverachtenden Mauerbaurhetorik der Vorgängerregierung unter Trump. Harris gilt als besonnene, abwägende Politikerin, die langfristig denkt und nachhaltige Lösungen anstrebt statt publicityträchtige Schnellschüsse. Den frischgebackenen guatemaltekischen Präsident Bernardo Arévalo hatte sie im Weißen Haus empfangen.


Harris war allem Anschein nach direkt in die Verhandlungen zum Häftlings-/Geiselaustausch mit Moskau eingebunden, was ein Plus auf der Habenseite für sie und Präsident Biden darstellt. Und sie ist deutlich kritischer gegenüber der israelischen Kampagne in Gaza und lauter in ihrer Forderung nach humanitärer Hilfe für die Menschen dort. Doch sicherlich kann sie nicht allzu kritisch gegenüber ihrer eigenen Regierung sein. Und was in näherer Zukunft mit dem Pulverfass Nahost geschehen wird, weiß niemand.


Kamala Harris prägte den Begriff „smart on crime“ (klug oder clever bei der Kriminalitätsbekämpfung), galt als Staatsanwältin aber eher als Hardlinerin. Zum Thema Drogen hat sie sich nicht explizit geäußert. Man darf annehmen, dass sie hier für Kontinuität der Biden-Administration steht und eine Fortsetzung der Angebotsbekämpfung. Und obwohl hier heutzutage Fentanyl und andere künstliche Opioide mit jährlich mehr als 100.000 Toten durch Überdosen klar das Hauptproblem darstellen – sie sind die häufigste Todesursache für Männer zwischen 18 und 50 Jahren in den USA und Opioide werden überwiegend aus Mexiko importiert – gilt das auch für die klassischen, pflanzengestützten Substanzen wie Kokain, wobei hier die Hoffnung besteht, dass eine über Jahrzehnte ergebnislose Politik mit hohen Nebenkosten für die betroffenen Länder stillschweigend einschläft. Seit Beginn der Opioid-Krise im Jahr 2020 starben laut World Drug Report der UN rund eine halbe Million Menschen an Überdosen – und auch wenn hier aktuell die Zahlen leicht rückläufig sind, bleibt die Situation sehr ernst und die Verfügbarkeit noch potenterer illegaler Drogen, sogenannter Nitazene, gibt zu neuer Besorgnis Anlass (UNODC, World Drug Report 2024).


Außenminister Antony Blinken sprach bei seiner Intervention auf der UN Commission on Narcotic Drugs im vergangenen Frühjahr in Wien ausschließlich über die Opioidkrise in seinem Land. Unterdessen ist im aktuellen Wildlife Crime Report desselben UNODC (ebenfalls 2024) zu lesen, dass mexikanische Drogenorganisationen auch im illegalen Fischfang involviert sind, wo sie einen Teil ihrer Gewinne investiert haben. Würde man die Dinge in der Zusammenschau betrachten, könnte man sehen: Ob Kokain oder Fentanyl, längst sind wichtige Akteure zu multidivisionalen kriminellen Unternehmen geworden, denen mit den herkömmlichen, eindimensionalen Ansätzen nicht beizukommen ist. Wann besinnt man sich auf Giovanni Falcone, der im Fall der italienischen Mafia forderte: „ Follow the money!“ ? Und zwar konsequent.


Damm gegen Rechts

Als sich Anfang Juli die Präsidenten der MERCOSUR-Mitgliedsländer in Asunción/ Paraguay trafen, um die Aufnahme Boliviens als Vollmitglied der Wirtschaftsgemeinschaft zu feiern, fehlte Argentiniens Javier Milei. Der selbsternannte Anarchokapitalist nahm lieber neben Jair Bolsonaro, dessen Sohn Eduardo (der als Bindeglied zu rechtsextremen Parteien Europas fungiert) und dem gescheiterten Präsidentschaftskandidaten Antonio Kast aus Chile an einem zeitgleich stattfindenden Treffen der Confederación de Acción Política Conservadora (CPAC) im brasilianischen Santa Catalina teil. Die internationale Rechte ist vernetzt. Ebendort verkündete der notorische Speiseöl-Tykoon Branco Marinkovic seine Absicht, bei den im nächsten Jahr in Bolivien angesetzten Präsidentschaftswahlen zu kandidieren. Marinkovic ist eine langjährige Schlüsselfigur der extremen Rechten in Bolivien. Er war dort wesentlich am Zivilputsch von Santa Cruz 2008 beteiligt und nach der Machtergreifung der Rechten (2019) im Jahr 2020 kurzzeitig auch Wirtschaftsminister in der sogenannten „Interimsregierung“ von Jeanine Añez.


Bedauert wurde in Santa Catalina die Abwesenheit des wahlkämpfenden Expräsidenten Donald Trump, doch dessen ehemaliger Chefstratege Steve Bannon, der seit 1. Juli eine Haftstrafe wegen Missachtung des Kongresses absitzt, gilt als Koordinator rechter Netzwerke weltweit. Der Horror vor einer erneuten Präsidentschaft von Donald Trump ist womöglich die größte Stütze der demokratischen Kandidatin, gerade bei frustrierten, aber politisch wachen jungen Wählerinnen und Wählern, um deren Reaktivierung an den Wahlurnen sie sich besonders bemüht. Auch wenn die progressiven Kräfte eines Tages womöglich von einer Harris-Adminstration enttäuscht sein werden – so, wie sie es auch von Clinton und Obama waren –, ist es doch das Gebot der Stunde, einen weiteren Vormarsch der gesellschaftspolitisch reaktionären, neonationalistischen und xenophoben Kräfte von Putin über Orban und Erdogan bis hin zu Bolsonaro und eben Trump zu verhindern. Da steht einiges auf dem Spiel – wie wir wissen auch in europäischen Ländern wie Frankreich oder Österreich.


Unterschätzte Vizepräsidentschaft

In den Vereinigten Staaten kursiert ein Witz: Fragt ein Mann den anderen: „Was ist eigentlich aus Ihren Kindern geworden? Man hat lange nichts von ihnen gehört!“ Antwort: „Der eine ist Matrose, der andere Vizepräsident.“ Eine Vizepräsidentschaft gilt als undankbarer Job, der wenig Aufmerksamkeit verspricht. Dem oder der Vize werden gerne unlösbare Aufgaben übertragen. Insofern mag Kamala Harris als Präsidentin im Amt womöglich für viel mehr stehen als für eine ehemalige Staatsanwältin, die nun die erneute Präsidentschaft eines verurteilten Straftäters verhindert. Eine Vizepräsidentschaft ist jedenfalls alles andere als das Tor in die politische Versenkung. Immerhin 15 von 49 US-Vizepräsidenten wurden später Präsident. Manche durch Tod, wie Lyndon B. Johnson für den ermordeten John F. Kennedy, oder wegen eines Rücktritts, wie Gerald Ford für Richard Nixon. Der wiederum hatte es als ehemaliger Vize im zweiten Anlauf geschafft, zum Präsidenten gewählt zu werden. George Bush (sen.) schaffte es nach zwei Amtszeiten von Ronald Reagan direkt, Joe Biden nach einer Amtszeit von Donald Trump. Unter den bisher 49 Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten ist Kamala Harris die erste und einzige Frau. Sie hat gute Chancen, die sechzehnte ehemalige Vizepräsidentin unter dann 47 Präsidenten zu werden und damit die historische erste Frau in diesem Amt.


Ihren Vizepräsidentschaftskandidaten dürfte sie nach wahlstrategischen Überlegungen ausgewählt haben. Jedenfalls wird das gegenwärtig so diskutiert. Doch Tim Walz mag darüber hinaus eine Rolle spielen, wenn es darum geht, in einer Harris-Walz-Administration stärker auf Diplomatie zu setzen statt auf militärischen Interventionismus. Seinen Wahlkampf zum Kongressabgeordneten führte er 2006 in Opposition zum Irakkrieg. Später führte er im Kongress eine Gruppe von Demokraten an, die Präsident Barack Obama vor einem Eintritt in einen Krieg in Syrien warnte, und er trat für eine Resolution zur Beendigung der Unterstützung Saudi Arabiens bei dessen Krieg im Jemen ein. Daneben unterstrich er anlässlich der Öffnungspolitik unter Präsident Obama 2016/17 die wechselseitigen Chancen eines möglichen Handels mit Kuba. Dazu kam es dann freilich nicht.


Kamala Harris’ National Security Advisor Philip H. Gordon schließlich beschreibt in seinem letzten Buch „Losing the Game: The False Promise of Regime Change in the Middle East“ von 2020, wie alle US-Versuche, im Mittleren Osten Regimewechsel herbeizuführen, scheiterten. In der Einführung zu diesem Buch nimmt er Bezug darauf, dass auch alle diesbezüglichen Versuche im 20. Jahrhundert in Lateinamerika im Fiasko endeten.


Dollardemokratie

Dass der Zustand der Demokratie in den Vereinigten Staaten besorgniserregend ist, weiß man nicht erst seit der Kandidatenwahl bei den Republikanern, die von sich selbst gern als von der „Grand Old Party (GOP)“ sprechen, und dem Sturm auf das Kapitol nach der von Trump verlorenen Wahl. Während man sich weltweit als Wächter der Demokratie geriert, spielt hier der Dollar eine entscheidende Rolle. In der Demokratischen Partei hielt man trotz aller Zweifel an einer Kandidatur Joe Bidens fest, bis die Wahlkampfspenden wegbrachen. Und Kamala Harris setzte zum Höhenflug an und wurde im Eilverfahren nominiert, als diese auf Rekordniveau kletterten. Da ist es einmal mehr alarmierend, wenn der steinreiche Gegenkandidat mit Elon Musk den reichsten Mann der Welt als glühenden Verehrer und Wahlkämpfer an seiner Seite hat, der für seine Extravaganzen bekannt ist und sich gleich auch noch selbst als möglichen Minister vorschlägt. Daher: The Kamalamania must go on. Nicht nur, weil die Alternative eine Katastrophe wäre. Es gibt auch Anlass zu vorsichtigem Optimismus.

von © Robert Lessmann Dr 12 Juli, 2024

Es hat ein „bisserl“ gedauert bis die deutsche Übersetzung erschienen ist. Schon bei Leonardo Paduras Wienbesuch im letzten Jahr war viel von „Personas decentes“ die Rede. Von zwei Kriminalfällen würde der Roman handeln und von zwei Hoffnungsmomenten. Havanna sei letztlich die Hauptperson.


In der Tat ist es wohl der kriminalistischste von Paduras Kriminalromanen, dessen Bücher darüber hinaus als die besten soziologischen Studien über seine Heimat Kuba gelten, wo es unabhängige soziologische Studien ja nicht gibt. Von der ersten Seite an wird man unentrinnbar in den Strudel der beiden Geschichten hineingezogen. Der Detektiv Mario Conde hilft seinen früheren Polizeikollegen bei der Aufklärung von zwei grausamen Morden, weil diese gerade alle Hände voll mit dem Besuch des US-Präsidenten Barack Obama und der Rolling Stones zu tun haben. Wir schreiben das Jahr 2016. Parallel dazu erzählt der Polizist Teniente Arturo Saborit von Prostituiertenmorden in Havanna von 1909/10, das nach der Unabhängigkeit von 1902 boomt und wo nichts unmöglich scheint.


Interessant sind dabei die Parallelen der Hintergrundkulissen, die Padura mit großem historischen und soziologischen Wissen aufbaut. Hier atemberaubende Gegensätze zwischen Arm und Reich und ein Sumpf von Korruption und Intrigen, wo Zuhälterclans nach belieben schalten und walten, bis sie um die Vorherrschaft kämpfen. Im Rampenlicht der Erzählung steht hier der schillernde Zuhälter Alberto Yarini, eine reale Person. Dort zwei Mordopfer, die vor einem halben Jahrhundert, im sogenannten quinquenio gris (dem grauen Jahrfünft) für die schlimmste Willkür, für Spitzeltum und Repression gegen unangepasste Künstler verantwortlich waren – und die nebenbei in Kunstraub und Hehlerei verstrickt sind.


Der „Erzpessimist“ Mario Conde lässt sich von der Öffnungseuphorie nicht anstecken. Schon ganz zu Anfang des Buches erinnert er sich, wie in seiner Jugend heißbegehrte Raubkopien illegaler, „subversiver“ Musik in Umlauf waren: „ A hard days night “ – 1964 war das. Wieso sollte er heute, als „alter Knacker“ beim Besuch der Stones euphorisch werden? Der Autor dieser Rezension forschte vor dreißig Jahren zu den Wirtschaftsreformen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks („Empresas mixtas en Cuba“, 1994) und warnte auch angesichts der Halbherzigkeit ihrer Umsetzung vor Rechtsunsicherheit und der „Gefahr einer Generalisierung des Illegalen“, später vor einem entstehenden „Untergrundkapitalismus“. Heute ist dieser der Wachstumssektor in einer Wirtschaft, die ansonsten von Stillstand geprägt ist und von Depression in den Köpfen der Menschen. Seit 2021 sollen eine halbe Million Menschen die Insel verlassen haben. Überwiegend junge, gebildete. Ein gewaltiger Verlust in einer Elfmillionen-Gesellschaft mit sehr niedriger Geburtenrate. Inzwischen soll die Bevölkerungszahl auf unter 10 Millionen gesunken sein. (PS: Eine Studie vom Juli 2024 spricht gar von nur 8,6 Millionen.)


In der Bar, in der Mario Conde während des Booms von 2016 als Aufpasser arbeitet, spendiert er einem Polizeikollegen ein Bier, das soviel kostet wie der in zwei Tagen nicht verdient. Der Laden floriert nicht zuletzt, weil regelmäßig ein „großer Unbekannter“ mit seiner Entourage dort verkehrt, der ihn protegiert. Anspielung oder Fiktion? Noch zur Zeit Fidel Castros kursierten Gerüchte, wonach ein bestimmter Paladar (privat geführtes Restaurant) regelmäßig von einem prominenten Politiker besucht würde. Dort wurden auch Meeresfrüchte serviert, die eigentlich für Paladares damals strikt tabu waren. Jener prominente Politiker wurde später Präsident. Etwa zur selben Zeit sprach der Rezensent mit einer jungen Frau, der man die Lizenz für ihren Paladar entzogen hatte, weil sie zu Tagen der Hochkonjunktur (Exportmesse Expokuba) eine Nachbarin gebeten hatte, beim Putzen zu helfen. Die Mutter von zwei Kindern verdiente ihr Geld nunmehr als Gelegenheitsprostituierte. Die Parallelen zwischen Condes „großem Unbekannten“ und meinem prominenten Politiker mögen fiktiv sein. Verzweiflung und Depression der Menschen sind angesichts der wirtschaftlichen Dauerkrise sehr real. Leonardo Padura lässt sie spürbar werden ohne dass seine Protagonisten die Liebe zu ihrer Heimat verlieren.

Conde „drehte sich um. Ein grandioser Impala Cabriolet, Baujahr 1958, rollte langsam über die Avenida. Auf der Rückbank und den Türen saßen drei Frauen und zwei Männer, ausgestattet mit Strohhüten und Bierdosen, und brachten in voller Lautstärke ihre Begeisterung über die Spazierfahrt zum Ausdruck, die der Chauffeur ihnen ermöglichte. An der durch die Tropensonne bereits geröteten hellen Haut wie auch an ihrer Kleidung und dem betrunkenen Gegröle waren sie mühelos zu erkennen: es handelte sich um US-amerikanische Touristen, schließlich kehrten die Gringos jetzt auf die Insel zurück, um sich mit eigenen Augen einen Eindruck davon zu verschaffen, wie die Bewohner dieses realsozialistischen Themenparks ihren Alltag organisierten. Es war derselbe Ort, wo die Großeltern dieser Touristen einst dem Spaß an Rum, Musik und Sex gefrönt hatten, in den zahllosen Kabaretts, Kasinos, Bars und Bordellen dieser offenen, dem Laster verfallenen Stadt. (…) Jetzt waren sie also wieder da, und ihre Dollars waren mehr wert denn je.“ (S. 89)

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von Robert Lessmann Dr 13 Nov., 2024


Was passiert mit den einstigen Hoffnungsmodellen Lateinamerikas? Kuba und Venezuela läuft die Bevölkerung davon. In Nicaragua herrscht Ortega wie ein abschreckender Diktator. Und in Bolivien arbeitet der erfolgreichste Präsident, den das Land je hatte, heute mit Nachdruck an der Zerstörung seines Erbes und seines Ansehens. Die Berichterstattung unserer Medien – sofern sie von diesen Ländern überhaupt berichten – goutiert Wirtschaftskrisen und die Glaubwürdigkeit von Wahlen. Selten geht es darum, wie es den Menschen geht. Die Solidaritätsbewegung, Freunde und Sympathisanten sehen konsterniert zu – und schweigen.


Tobias Lambert blickt aus linker Perspektive hinter die Kulissen Venezuelas, das mit seinem „bolivarianischen“ Ansatz im neuen Jahrtausend ganz Lateinamerika mitreißen wollte. Er bereist das Land seit mehr als 20 Jahren und berichtet darüber. Kenntnis- und detailreich rekapituliert er die Vorgeschichte und den politischen Prozess unter Hugo Chávez (im Bild auf der Klimakonferenz von Cochabamba, 2010) und danach, bespricht Wahlergebnisse und politische Trends auf der Linken wie auf der Rechten. An vielen Stellen vermisst man im Text regelmäßige Jahreszahlen, die helfen würden, in der Komplexität den roten Faden nicht zu verlieren. Eine Zeittafel wäre eine hilfreiche Ergänzung bei allen weiteren Auflagen.


Drei Linien treten in Lamberts Analyse als Erklärung hervor: erstens der fragile Extraktivismus. Man könnte auch sagen, ein auf die Einkommen aus dem Export nicht erneuerbarer Rohstoffe (Erdöl im konkreten Fall) gestützter politischer und gesellschaftlicher Voluntarismus. Man hat zwar immer gewusst: „hay que sembrar el petroleo“ (man muss die Öleinnahmen säen, die Wirtschaft diversifizieren), es aber nicht getan. Die Korruption im Land wurde durch den Exportboom noch gefördert. Mit sinkenden Weltmarktpreisen bracht die Krise aus.


Zweitens: Die zentrale Rolle einer charismatischen Führungsperson, auf die sich das Projekt stützt und ins Wanken gerät, wenn diese wegbricht. Je stärker das Modell wirtschaftlich und politisch unter Druck geriet, desto mehr reagierte es mit antidemokratischen und repressiven Praktiken, intransparenten Privatisierungen, Teilliberalisierungen unter Beibehaltung staatlicher Kontrollen, steuerfreien Importen von denen eine neue, sogenannte „Bolibourgeoisie“ profitierte. Vom Sozialismus des 21. Jahrhunderts ist nur gelegentlich noch die Rede.


Und drittens die unverbrüchliche Feindschaft der alten Eliten, der nationalen wie der internationalen. In diesem Zusammenhang wird in Lamberts Buch deutlich, wie desolat und zerstritten die venezolanische Opposition zumeist war (und ist), und wie sie trotzdem von Washington und seinen Verbündeten unterstützt wird, egal wie chaotisch sie daherkommt. Man denke nur an die Anerkennung der „Präsidentschaft“ von Juan Guaidó. Nebenbei wirft das auch ein Schlaglicht auf viel kritisierte Allianzen mit Schurkenstaaten wie dem Iran oder Weißrussland. Mit wem, so könnte man sich in europäischen Hauptstädten fragen, sollte ein Präsident denn Beziehungen anknüpfen, auf den Washington ein millionenschweres Kopfgeld aussetzt?


Das Buch behandelt zuletzt sogar noch das umstrittene Wahlergebnis von 2024. Regierung und Opposition reklamieren den Wahlsieg für sich. Washington und seine Verbündeten glauben der Opposition. Beide Seiten behaupten, dass sie ihn dokumentieren können. Wer es definitiv und lückenlos könnte, wäre die Regierung Maduro, woran Lambert keinen Zweifel lässt. Dass sie es nicht tut, schmälert einmal mehr ihre Glaubwürdigkeit, nun auch für die befreundeten Regierungen in Kolumbien und Brasilien, die von der venezolanischen Krise ja mit betroffen sind. Das katastrophale Patt (Antonio Gramsci) zwischen einer repressiv sich an der Macht haltenden Regierung und einer Opposition, von der leider auch nichts zu erwarten ist, können nur die Venezolanerinnen und Venezolaner selbst aufheben. Und darauf besteht vorerst leider wenig Hoffnung.


Wie auch immer: Wer zu Venezuela mitreden will, sollte Lamberts Buch lesen.


Tobias Lambert: „Gescheiterte Utopie? Venezuela ein Jahrzehnt nach Hugo Chávez“, Mandelbaum Verlag, Wien, 2024, 238 S., € 23.-



von Robert Lessmann Dr 15 Aug., 2024

Vorweg: Außenpolitik spielt im US-Wahlkampf eine Nebenrolle und Lateinamerika so gut wie gar keine, sieht man von Migration, Drogen und Rohstoffen (Öl, Lithium) ab. Das ist nicht neu: Coletta Youngers, bis vor Kurzem jahrzehntelange Mitarbeiterin des renommierten Washington Office on Latin America nennt auch die Lateinamerikapolitik der Regierung Biden-Harris „awful“ (heillos – um hier die schwächstmögliche Übersetzung zu gebrauchen).


Ausgerechnet General Laura Richardson, Chefin des für Südamerika zuständigen US Southern Command der Streitkräfte, beklagte im letzten Jahr mehrfach öffentlichkeitswirksam, dass die Vereinigten Staaten im Ringen um Rohstoffe ins Hintertreffen geraten seien, insbesondere im Lithiumdreieck: Argentinien, Bolivien, Chile. Ziel müsse es sein (wörtlich) „to box out our adversaries, box out our competitors“ (Widersacher und Konkurrenten wegzuboxen). Diplomatie stellt man sich in den betroffenen Ländern anders vor.


Vizepräsidentin Harris führte eine Initiative zur Eindämmung des Migrantenstroms an und konnte in diesem Zusammenhang mehr US-Hilfen für zentralamerikanische Länder durchsetzen sowie Direktinivestitionen von US-Unternehmen einfädeln. Auch wenn für viele NGOs, die in den USA zu diesem Thema arbeiten, die ganze Strategie fragwürdig ist: Der Ansatz, in Zusammenarbeit mit lokalen Akteuren Fluchtursachen zu bekämpfen, unterscheidet sich deutlich von der menschenverachtenden Mauerbaurhetorik der Vorgängerregierung unter Trump. Harris gilt als besonnene, abwägende Politikerin, die langfristig denkt und nachhaltige Lösungen anstrebt statt publicityträchtige Schnellschüsse. Den frischgebackenen guatemaltekischen Präsident Bernardo Arévalo hatte sie im Weißen Haus empfangen.


Harris war allem Anschein nach direkt in die Verhandlungen zum Häftlings-/Geiselaustausch mit Moskau eingebunden, was ein Plus auf der Habenseite für sie und Präsident Biden darstellt. Und sie ist deutlich kritischer gegenüber der israelischen Kampagne in Gaza und lauter in ihrer Forderung nach humanitärer Hilfe für die Menschen dort. Doch sicherlich kann sie nicht allzu kritisch gegenüber ihrer eigenen Regierung sein. Und was in näherer Zukunft mit dem Pulverfass Nahost geschehen wird, weiß niemand.


Kamala Harris prägte den Begriff „smart on crime“ (klug oder clever bei der Kriminalitätsbekämpfung), galt als Staatsanwältin aber eher als Hardlinerin. Zum Thema Drogen hat sie sich nicht explizit geäußert. Man darf annehmen, dass sie hier für Kontinuität der Biden-Administration steht und eine Fortsetzung der Angebotsbekämpfung. Und obwohl hier heutzutage Fentanyl und andere künstliche Opioide mit jährlich mehr als 100.000 Toten durch Überdosen klar das Hauptproblem darstellen – sie sind die häufigste Todesursache für Männer zwischen 18 und 50 Jahren in den USA und Opioide werden überwiegend aus Mexiko importiert – gilt das auch für die klassischen, pflanzengestützten Substanzen wie Kokain, wobei hier die Hoffnung besteht, dass eine über Jahrzehnte ergebnislose Politik mit hohen Nebenkosten für die betroffenen Länder stillschweigend einschläft. Seit Beginn der Opioid-Krise im Jahr 2020 starben laut World Drug Report der UN rund eine halbe Million Menschen an Überdosen – und auch wenn hier aktuell die Zahlen leicht rückläufig sind, bleibt die Situation sehr ernst und die Verfügbarkeit noch potenterer illegaler Drogen, sogenannter Nitazene, gibt zu neuer Besorgnis Anlass (UNODC, World Drug Report 2024).


Außenminister Antony Blinken sprach bei seiner Intervention auf der UN Commission on Narcotic Drugs im vergangenen Frühjahr in Wien ausschließlich über die Opioidkrise in seinem Land. Unterdessen ist im aktuellen Wildlife Crime Report desselben UNODC (ebenfalls 2024) zu lesen, dass mexikanische Drogenorganisationen auch im illegalen Fischfang involviert sind, wo sie einen Teil ihrer Gewinne investiert haben. Würde man die Dinge in der Zusammenschau betrachten, könnte man sehen: Ob Kokain oder Fentanyl, längst sind wichtige Akteure zu multidivisionalen kriminellen Unternehmen geworden, denen mit den herkömmlichen, eindimensionalen Ansätzen nicht beizukommen ist. Wann besinnt man sich auf Giovanni Falcone, der im Fall der italienischen Mafia forderte: „ Follow the money!“ ? Und zwar konsequent.


Damm gegen Rechts

Als sich Anfang Juli die Präsidenten der MERCOSUR-Mitgliedsländer in Asunción/ Paraguay trafen, um die Aufnahme Boliviens als Vollmitglied der Wirtschaftsgemeinschaft zu feiern, fehlte Argentiniens Javier Milei. Der selbsternannte Anarchokapitalist nahm lieber neben Jair Bolsonaro, dessen Sohn Eduardo (der als Bindeglied zu rechtsextremen Parteien Europas fungiert) und dem gescheiterten Präsidentschaftskandidaten Antonio Kast aus Chile an einem zeitgleich stattfindenden Treffen der Confederación de Acción Política Conservadora (CPAC) im brasilianischen Santa Catalina teil. Die internationale Rechte ist vernetzt. Ebendort verkündete der notorische Speiseöl-Tykoon Branco Marinkovic seine Absicht, bei den im nächsten Jahr in Bolivien angesetzten Präsidentschaftswahlen zu kandidieren. Marinkovic ist eine langjährige Schlüsselfigur der extremen Rechten in Bolivien. Er war dort wesentlich am Zivilputsch von Santa Cruz 2008 beteiligt und nach der Machtergreifung der Rechten (2019) im Jahr 2020 kurzzeitig auch Wirtschaftsminister in der sogenannten „Interimsregierung“ von Jeanine Añez.


Bedauert wurde in Santa Catalina die Abwesenheit des wahlkämpfenden Expräsidenten Donald Trump, doch dessen ehemaliger Chefstratege Steve Bannon, der seit 1. Juli eine Haftstrafe wegen Missachtung des Kongresses absitzt, gilt als Koordinator rechter Netzwerke weltweit. Der Horror vor einer erneuten Präsidentschaft von Donald Trump ist womöglich die größte Stütze der demokratischen Kandidatin, gerade bei frustrierten, aber politisch wachen jungen Wählerinnen und Wählern, um deren Reaktivierung an den Wahlurnen sie sich besonders bemüht. Auch wenn die progressiven Kräfte eines Tages womöglich von einer Harris-Adminstration enttäuscht sein werden – so, wie sie es auch von Clinton und Obama waren –, ist es doch das Gebot der Stunde, einen weiteren Vormarsch der gesellschaftspolitisch reaktionären, neonationalistischen und xenophoben Kräfte von Putin über Orban und Erdogan bis hin zu Bolsonaro und eben Trump zu verhindern. Da steht einiges auf dem Spiel – wie wir wissen auch in europäischen Ländern wie Frankreich oder Österreich.


Unterschätzte Vizepräsidentschaft

In den Vereinigten Staaten kursiert ein Witz: Fragt ein Mann den anderen: „Was ist eigentlich aus Ihren Kindern geworden? Man hat lange nichts von ihnen gehört!“ Antwort: „Der eine ist Matrose, der andere Vizepräsident.“ Eine Vizepräsidentschaft gilt als undankbarer Job, der wenig Aufmerksamkeit verspricht. Dem oder der Vize werden gerne unlösbare Aufgaben übertragen. Insofern mag Kamala Harris als Präsidentin im Amt womöglich für viel mehr stehen als für eine ehemalige Staatsanwältin, die nun die erneute Präsidentschaft eines verurteilten Straftäters verhindert. Eine Vizepräsidentschaft ist jedenfalls alles andere als das Tor in die politische Versenkung. Immerhin 15 von 49 US-Vizepräsidenten wurden später Präsident. Manche durch Tod, wie Lyndon B. Johnson für den ermordeten John F. Kennedy, oder wegen eines Rücktritts, wie Gerald Ford für Richard Nixon. Der wiederum hatte es als ehemaliger Vize im zweiten Anlauf geschafft, zum Präsidenten gewählt zu werden. George Bush (sen.) schaffte es nach zwei Amtszeiten von Ronald Reagan direkt, Joe Biden nach einer Amtszeit von Donald Trump. Unter den bisher 49 Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten ist Kamala Harris die erste und einzige Frau. Sie hat gute Chancen, die sechzehnte ehemalige Vizepräsidentin unter dann 47 Präsidenten zu werden und damit die historische erste Frau in diesem Amt.


Ihren Vizepräsidentschaftskandidaten dürfte sie nach wahlstrategischen Überlegungen ausgewählt haben. Jedenfalls wird das gegenwärtig so diskutiert. Doch Tim Walz mag darüber hinaus eine Rolle spielen, wenn es darum geht, in einer Harris-Walz-Administration stärker auf Diplomatie zu setzen statt auf militärischen Interventionismus. Seinen Wahlkampf zum Kongressabgeordneten führte er 2006 in Opposition zum Irakkrieg. Später führte er im Kongress eine Gruppe von Demokraten an, die Präsident Barack Obama vor einem Eintritt in einen Krieg in Syrien warnte, und er trat für eine Resolution zur Beendigung der Unterstützung Saudi Arabiens bei dessen Krieg im Jemen ein. Daneben unterstrich er anlässlich der Öffnungspolitik unter Präsident Obama 2016/17 die wechselseitigen Chancen eines möglichen Handels mit Kuba. Dazu kam es dann freilich nicht.


Kamala Harris’ National Security Advisor Philip H. Gordon schließlich beschreibt in seinem letzten Buch „Losing the Game: The False Promise of Regime Change in the Middle East“ von 2020, wie alle US-Versuche, im Mittleren Osten Regimewechsel herbeizuführen, scheiterten. In der Einführung zu diesem Buch nimmt er Bezug darauf, dass auch alle diesbezüglichen Versuche im 20. Jahrhundert in Lateinamerika im Fiasko endeten.


Dollardemokratie

Dass der Zustand der Demokratie in den Vereinigten Staaten besorgniserregend ist, weiß man nicht erst seit der Kandidatenwahl bei den Republikanern, die von sich selbst gern als von der „Grand Old Party (GOP)“ sprechen, und dem Sturm auf das Kapitol nach der von Trump verlorenen Wahl. Während man sich weltweit als Wächter der Demokratie geriert, spielt hier der Dollar eine entscheidende Rolle. In der Demokratischen Partei hielt man trotz aller Zweifel an einer Kandidatur Joe Bidens fest, bis die Wahlkampfspenden wegbrachen. Und Kamala Harris setzte zum Höhenflug an und wurde im Eilverfahren nominiert, als diese auf Rekordniveau kletterten. Da ist es einmal mehr alarmierend, wenn der steinreiche Gegenkandidat mit Elon Musk den reichsten Mann der Welt als glühenden Verehrer und Wahlkämpfer an seiner Seite hat, der für seine Extravaganzen bekannt ist und sich gleich auch noch selbst als möglichen Minister vorschlägt. Daher: The Kamalamania must go on. Nicht nur, weil die Alternative eine Katastrophe wäre. Es gibt auch Anlass zu vorsichtigem Optimismus.

von © Robert Lessmann Dr 12 Juli, 2024

Es hat ein „bisserl“ gedauert bis die deutsche Übersetzung erschienen ist. Schon bei Leonardo Paduras Wienbesuch im letzten Jahr war viel von „Personas decentes“ die Rede. Von zwei Kriminalfällen würde der Roman handeln und von zwei Hoffnungsmomenten. Havanna sei letztlich die Hauptperson.


In der Tat ist es wohl der kriminalistischste von Paduras Kriminalromanen, dessen Bücher darüber hinaus als die besten soziologischen Studien über seine Heimat Kuba gelten, wo es unabhängige soziologische Studien ja nicht gibt. Von der ersten Seite an wird man unentrinnbar in den Strudel der beiden Geschichten hineingezogen. Der Detektiv Mario Conde hilft seinen früheren Polizeikollegen bei der Aufklärung von zwei grausamen Morden, weil diese gerade alle Hände voll mit dem Besuch des US-Präsidenten Barack Obama und der Rolling Stones zu tun haben. Wir schreiben das Jahr 2016. Parallel dazu erzählt der Polizist Teniente Arturo Saborit von Prostituiertenmorden in Havanna von 1909/10, das nach der Unabhängigkeit von 1902 boomt und wo nichts unmöglich scheint.


Interessant sind dabei die Parallelen der Hintergrundkulissen, die Padura mit großem historischen und soziologischen Wissen aufbaut. Hier atemberaubende Gegensätze zwischen Arm und Reich und ein Sumpf von Korruption und Intrigen, wo Zuhälterclans nach belieben schalten und walten, bis sie um die Vorherrschaft kämpfen. Im Rampenlicht der Erzählung steht hier der schillernde Zuhälter Alberto Yarini, eine reale Person. Dort zwei Mordopfer, die vor einem halben Jahrhundert, im sogenannten quinquenio gris (dem grauen Jahrfünft) für die schlimmste Willkür, für Spitzeltum und Repression gegen unangepasste Künstler verantwortlich waren – und die nebenbei in Kunstraub und Hehlerei verstrickt sind.


Der „Erzpessimist“ Mario Conde lässt sich von der Öffnungseuphorie nicht anstecken. Schon ganz zu Anfang des Buches erinnert er sich, wie in seiner Jugend heißbegehrte Raubkopien illegaler, „subversiver“ Musik in Umlauf waren: „ A hard days night “ – 1964 war das. Wieso sollte er heute, als „alter Knacker“ beim Besuch der Stones euphorisch werden? Der Autor dieser Rezension forschte vor dreißig Jahren zu den Wirtschaftsreformen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks („Empresas mixtas en Cuba“, 1994) und warnte auch angesichts der Halbherzigkeit ihrer Umsetzung vor Rechtsunsicherheit und der „Gefahr einer Generalisierung des Illegalen“, später vor einem entstehenden „Untergrundkapitalismus“. Heute ist dieser der Wachstumssektor in einer Wirtschaft, die ansonsten von Stillstand geprägt ist und von Depression in den Köpfen der Menschen. Seit 2021 sollen eine halbe Million Menschen die Insel verlassen haben. Überwiegend junge, gebildete. Ein gewaltiger Verlust in einer Elfmillionen-Gesellschaft mit sehr niedriger Geburtenrate. Inzwischen soll die Bevölkerungszahl auf unter 10 Millionen gesunken sein. (PS: Eine Studie vom Juli 2024 spricht gar von nur 8,6 Millionen.)


In der Bar, in der Mario Conde während des Booms von 2016 als Aufpasser arbeitet, spendiert er einem Polizeikollegen ein Bier, das soviel kostet wie der in zwei Tagen nicht verdient. Der Laden floriert nicht zuletzt, weil regelmäßig ein „großer Unbekannter“ mit seiner Entourage dort verkehrt, der ihn protegiert. Anspielung oder Fiktion? Noch zur Zeit Fidel Castros kursierten Gerüchte, wonach ein bestimmter Paladar (privat geführtes Restaurant) regelmäßig von einem prominenten Politiker besucht würde. Dort wurden auch Meeresfrüchte serviert, die eigentlich für Paladares damals strikt tabu waren. Jener prominente Politiker wurde später Präsident. Etwa zur selben Zeit sprach der Rezensent mit einer jungen Frau, der man die Lizenz für ihren Paladar entzogen hatte, weil sie zu Tagen der Hochkonjunktur (Exportmesse Expokuba) eine Nachbarin gebeten hatte, beim Putzen zu helfen. Die Mutter von zwei Kindern verdiente ihr Geld nunmehr als Gelegenheitsprostituierte. Die Parallelen zwischen Condes „großem Unbekannten“ und meinem prominenten Politiker mögen fiktiv sein. Verzweiflung und Depression der Menschen sind angesichts der wirtschaftlichen Dauerkrise sehr real. Leonardo Padura lässt sie spürbar werden ohne dass seine Protagonisten die Liebe zu ihrer Heimat verlieren.

Conde „drehte sich um. Ein grandioser Impala Cabriolet, Baujahr 1958, rollte langsam über die Avenida. Auf der Rückbank und den Türen saßen drei Frauen und zwei Männer, ausgestattet mit Strohhüten und Bierdosen, und brachten in voller Lautstärke ihre Begeisterung über die Spazierfahrt zum Ausdruck, die der Chauffeur ihnen ermöglichte. An der durch die Tropensonne bereits geröteten hellen Haut wie auch an ihrer Kleidung und dem betrunkenen Gegröle waren sie mühelos zu erkennen: es handelte sich um US-amerikanische Touristen, schließlich kehrten die Gringos jetzt auf die Insel zurück, um sich mit eigenen Augen einen Eindruck davon zu verschaffen, wie die Bewohner dieses realsozialistischen Themenparks ihren Alltag organisierten. Es war derselbe Ort, wo die Großeltern dieser Touristen einst dem Spaß an Rum, Musik und Sex gefrönt hatten, in den zahllosen Kabaretts, Kasinos, Bars und Bordellen dieser offenen, dem Laster verfallenen Stadt. (…) Jetzt waren sie also wieder da, und ihre Dollars waren mehr wert denn je.“ (S. 89)

von © Robert Lessmann Dr 04 Juli, 2024

„Hegel bemerkt irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Ereignisse und Personen sich sozusagen zweimal ereignen: das eine Mal als große Tragödie, das andere Mal als Farce“, schrieb Karl Marx in „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ in Anspielung auf einen Staatsstreich, der die Französische Revolution gewissermaßen konterkarierte.


Am 26. Juni 2024 um 14.30 fuhr ein halbes Dutzend gepanzerter Fahrzeuge auf der Plaza Murillo von La Paz auf, wo Parlament und Präsidentenpalast Boliviens liegen. Eines der Fahrzeuge rammte die Eingangstür zum alten Präsidentenpalast ( Palacio Quemado, der verbrannte oder brenzlige Palast, wie er wegen seiner bewegten Vergangenheit heißt). Dort kam es zu einer verbalen Konfrontation zwischen Armeechef Juan José Zúñiga und Staatspräsident Luis Arce, der ihn aufforderte, nach Hause zu gehen, was der General mit „no“ beantwortete, dann aber doch auf die Plaza zurückkehrte, wo er vor der Presse Statements abgab und in seinem verdunkelten Panzerfahrzeug lange per Handy telefonierte: Das Land sei in der Krise. Es könne so nicht weiter gehen. Man wolle das Kabinett austauschen, Neuwahlen ausrufen und die politischen Gefangenen freilassen. Um 17:30 war der Spuk zu Ende. Die Militärs zogen Richtung ihrer Kaserne im Stadtteil Miraflores ab, wo Zúñiga sowie die ihn begleitenden Chefs von Marine, Juan Arnez, und Luftwaffe, Marcelo Zegarra, gegen 19:00 Uhr verhaftet wurden. Präsident Arce hatte zwischenzeitlich neue Oberkommandierende eingesetzt, die den Rückzug anordneten.


Die gute Nachricht: Es soll nur neun Verletzte gegeben haben. Die sozialen Organisationen und die Zivilgesellschaft standen unverzüglich zur Verteidigung der Demokratie parat. Massen von Zivilisten strömten zur Unterstützung der Regierung auf die Plaza Murillo. Der Gewerkschaftsbund COB und die Landarbeitergewerkschaft CSUTCB riefen zum Generalstreik auf. Eva Copa, die Bürgermeisterin der zweitgrößten Stadt, El Alto, wo sich wichtige Militäreinheiten befinden, rief mit der Verfassung in der Hand die Bevölkerung dazu auf, die Straßen zu blockieren. Alle politischen Kräfte, einschließlich der inhaftierten Drahtzieher der rechten Machtergreifung von 2019, deren Freilassung Zúñiga gefordert hatte, verurteilten zunächst den Putschversuch.


Die Ereignisse zeigen freilich auch, wie fragil die vormals so stabilen Verhältnisse inzwischen wieder sind. Kaum war der bemerkenswert dilettantische Putschversuch gescheitert, versuchten die politischen Akteure Kleingeld daraus zu ziehen und sprachen von ‚ autogolpe ‘, einem selbstinszenierten Coup, der das Image des Präsidenten habe stärken sollen. In der Tat galt General Zúñiga als Vertrauter Arces, war von diesem vor anderen Kandidaten erst im November 2022 zum Armeechef befördert worden. Beide waren wohl noch am Wochenende zuvor bei einem Basketballmatch zusammen gesehen worden. Zusätzlichen Auftrieb hatte diese Version durch Zúñiga selbst bekommen. Nachdem klar wurde, dass sein Unternehmen scheitern würde, hatte er vor der Presse behauptet, Arce selbst habe ihn um diese Inszenierung gebeten. Glaubwürdig?


Tatsache ist, dass General Zúñiga zwei Tage zuvor bei einem Fernsehinterview, das er im Stile eines Staatschefs gab, seine Kompetenzen krass überschritten hatte. Unter anderem hatte er damit gedroht, den Arce-Widersacher, Expräsident Morales, zu verhaften, sollte dieser bei den im nächsten Jahr anstehenden Wahlen wieder kandidieren. Das Militär sei der bewaffnete Arm des Volkes. Am nächsten Tag wurde ihm vom Verteidigungsminister seine Entlassung mitgeteilt, diese aber noch nicht offiziell kommuniziert. Am nächsten Morgen wurden ab 9:30 irreguläre Truppenbewegungen gemeldet. Zúñiga und die anderen Beteiligten waren für ihre politischen Vorgesetzten nicht mehr erreichbar. Zúñiga selbst beklagte sich auf der Plaza Murillo gegenüber der Presse darüber, dass gegenüber der Armee Treue mit Untreue vergolten würde. Die Kurzschlusstat eines beleidigten Egomanen?


Tragödie oder Farce?

Wie bei der Machtergreifung der Rechten 2019 wurde deutlich, dass die politische Führung das Militär nicht im Griff hat. Auch Armeechef Williams Kalimán, der Morales damals zum Rücktritt aufforderte, hatte sich ja stets als dessen Parteigänger und als ‚ soldado del proceso de cambio‘ bezeichnet. Hatte Zúñiga darauf gesetzt, dass Arce angesichts der Panzerfahrzeuge die Flucht ergreifen würde? Bei Morales hatte ja schon eine mündliche Aufforderung genügt. Diente sein Telefonieren dazu, Verstärkung herbeizurufen, die nicht eintraf? Möglicherweise werden die Gerichtsverfahren Klarheit bringen. Jedenfalls scheinen die bisherigen Ermittlungen darauf hinzudeuten, dass wohl mehr dahinter steckte, als es zunächst den Anschein hatte. Insgesamt wurden mehr als zwanzig hohe Militärs inhaftiert, darunter auch der Chef einer Eliteeinheit aus der Stadt Cochabamba, die fünf Scharfschützen zur Plaza Murillo entsandt hatte. Einschlägige Planungen seien seit Mai gelaufen und ein Soziologe, der im Verteidigungsministerium gearbeitet hatte, wurde unter dem Verdacht, der ideologische Kopf zu sein, ebenfalls verhaftet.


Nicht zuletzt sprachen manche Äußerungen und Forderungen Zúñigas vielen Bolivianerinnen und Bolivianern aus der Seele. Die Regierungspartei MAS ist zwischen Anhängern des amtierenden Präsidenten Arce und des Expräsidenten Morales gespalten. Beide Lager halten getrennte Parteitage ab. Erst Anfang Mai hatte das Arce - Lager mit Grover García einen eigenen Parteichef gewählt, ein Amt, das auch Evo Morales für sich in Anspruch nimmt. Die mächtigen sozialen Bewegungen, die die Regierungspartei MAS tragen, sind ebenfalls gespalten. Parteitage und ihre Ergebnisse werden jeweils von der Gegenseite vor dem Wahlgerichtshof angefochten. Im Parlament fliegen zwischen Angehörigen beider Lager mitunter auch die Fäuste. Die reguläre Opposition scheint nach dem Fiasko der von ihren Parteien getragenen „Interimsregierung“ von 2019/2020 nicht vorhanden.


Aktuell tobt der Streit um eine Parlamentssitzung, die der Senatspräsident Andrónico Rodríguez ( evista ) einberufen hatte, was – so die arcistas – nur dem Parlamentspräsident David Choquehuanca ( arcista ) vorbehalten sei. Der Oberste Gerichtshof, der darüber urteilen kann, wird nicht anerkannt, weil seine Angehörigen ihr Mandat selbst verlängert haben. Schon seit einem halben Jahr hätten Nachfolger gewählt werden müssen, was wiederum wegen der Paralysierung des Parlaments nicht möglich war.


Das Morales - Lager hatte für den 27. Juni zu Straßenblockaden aufgerufen. Die Transportunternehmer blockieren wegen der Treibstoffknappheit ohnehin. Daneben leidet das Land wegen sinkender Gaspreise und Fördermengenunter Devisenknappheit. Man hatte es versäumt, rechtzeitig neue Quellen zu erschließen und die Regierung beklagt nun, dass die Opposition zusammen mit den evistas Kredite blockiere, die für Neuerschließungen nötig wären. Die Nutzung der reichlichen Lithiumvorkommen wiederum kommt seit anderthalb Jahrzehnten nur schleppend voran. Erst unlängst wurde der staatliche YLB (Yacimientos de Litio Bolivianos) von einem Korruptionsskandal geschüttelt. Angesichts dieser Probleme haben viele Bolivianerinnen und Bolivianer den Eindruck, dass sich maßgebliche Politiker nur um ihre Karriere – sprich: ihre Kandidatur bei den 2025 bevorstehenden Wahlen - kümmern, allen voran der 2019 gestürzte, einstige Hoffnungsträger Evo Morales. Dessen Vizepräsident und Berater aus besseren Tagen, Álvaro García Linera, sieht eine große Gefahr für die Institutionalität und die Demokratie in Bolivien.* Das Spiel mit dem Feuer – sprich: dem Militär – sei gefährlich . Besonders in einem Land mit der Putschtradition Boliviens. In der Tat mag fortgesetzte politische Verantwortungslosigkeit dazu führen, dass die Menschen eines Tages mit dem Militär die Hoffnung verbinden, das Chaos zu beseitigen.


* Álvaro García Linera: „Lo malo es que, en esta pelea intestina, muy egoista, muy mezquina, están jugando con monstruos. De un lado y del otro, están jugando con los militares y eso es muy peligroso. No se puede banalizar la presencia militar en la política. No se puede banalizar el mal, decía Hannah Arendt. Es algo muy peligroso. Más aún en Bolivia, que tiene un historial récord en el mundo de golpes de Estado. (…) la diferencia entre ambos nace de una mirada muy obtusa de sus luchas personales, sin entender que están jugando con fuego.“


von © Robert Lessmann Dr 14 Mai, 2024

Oft betraf und betrifft Außenseitersein oder Ausgrenzung auch Künstler, die dann Sezessionen gründeten oder gar der Spionage beschuldigt wurden, wie beispielsweise Caspar David Friedrich. Dem brasilianischen Kurator Adriano Pedrosa (künstlerischer Leiter des Museu de Arte von São Paulo) ist es – nicht nur, aber auch – zu verdanken, dass der globale Süden auf dieser ältesten internationalen Kunstbiennale (seit 1895) so stark vertreten ist wie nie zuvor. Fremd sein im eigenen Land wird da thematisiert, Kolonialismus und Dekolonisierung. Ein kongolesisches Künstlerkollektiv (Cercle d’Art des Travailleurs de Plantation Congolaise, CATPC) möchte mit seinen Skulpturen „im heiligen Wald“ einen Übergang von einer schmerzhaften Vergangenheit in ein ökologisch nachhaltiges Morgen aufzeigen, fragt aber im Video der Theaterdarbietung einer hitzigen Diskussion („Blasphemie oder Heiligkeit“) gleichzeitig, ob es angemessen und akzeptabel sei, wenn die ehemaligen Kolonisatoren Wiedergutmachung leisten mit dem Geld, das sie womöglich anderenorts auch zusammengeraubt haben? Letztere besteht in einem großen, weißen Würfel (ein Fetisch oder ein Museum für zurückgegebene Raubkunst?), der im „heiligen Wald“ gebaut und von den Betroffenen heiß diskutiert wird. Die eindrucksvolle Präsentation findet im holländischen Pavillon statt, gleich einem der ersten, die man nach dem Betreten der Giardini erreicht. Er wird in Zusammenarbeit des Kurators Hicham Khalidi mit dem Künstler Renzo Martens und mit Unterstützung der holländischen Mondrian Stiftung bespielt.


Das Konzept der Länderpavillons löst sich auf. Der russische Pavillon, qua Sanktionen geschlossen, ist an Bolivien ausgeliehen. Moskau pflegt auf diese preiswerte Weise die Beziehung zu Ländern, die vom Westen eher Missachtung oder Zurückweisung erfahren. Der israelische Pavillon bleibt auf Wunsch der Künstlerin Ruth Patir geschlossen, bis ein Waffenstillstand im Gaza-Krieg erreicht und die Geiseln freigelassen sind. Der polnische Pavillon wurde an ein ukrainisches Künstlerkollektiv ausgeliehen.


Fremd sein, das heißt oft auch heute noch „fremd sein im eigenen Land“. Indigene Völker spielen – passiv wie aktiv – eine große Rolle auf der Biennale, häufig auch im Zusammenhang mit Ressourcenabbau und Naturzerstörung. „Heute Lithium, morgen Hunger“, konstatiert eine Aufschrift im spanischen Pavillon. Und der dänische Pavillon ist einer Fotoausstellung über die Inuit gewidmet. Indigene Künstler der Yanomami (Brasilien), der Cherokee (Nordamerika) und der Aborigines (Australien) kommen zu Wort. Rember Yahuarcani aus dem Volk der Huitoto im peruanischen Amazonien weist in einem seiner farbenfrohen Großgemälde darauf hin, dass dort zwischen 2013 und 2023 insgesamt 32 indigene Führer und Führerinnen von Eindringlingen, Drogenhändlern und der Holzmafia ermordet wurden. Ihre amazonische Heimat sei für Indigene einer der gefährlichsten Orte.


Im Haupthaus der Giardini wird ein Saal von Künstlern mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen bespielt, darunter der Österreicher Leopold Strobl. „Arpilleristas“ aus Chile stellen in den Arsenale Textilkunst aus, mit der sie während der Pinochet-Diktatur ihr Leben im Exil finanzierten. Louis Fratino überrascht in den Giardini unter der Rubrik „Anonymous Homosexual“ mit expliziten Bildern männlicher Homosexualität. Die bolivianischen „Mujeres Creando“ und Claudia (La Chola) Poblete aus Argentinien thematisieren das Schicksal von Sexarbeiterinnen und Transgender-Personen.


In einem Raum im Haupthaus der Giardini widmet sich ein „Museum der alten Kolonie“ dem imperialen Verhältnis USA/ Puerto Rico. Das Foto eines guten Soldaten, der sich helfend zu einem nackten Jungen hinabbeugt, stellt in diesem Kontext die Frage, inwieweit man überhaupt „gut“ sein kann als Teil einer mörderischen Maschinerie.


Flucht ist kein Verbrechen


Im Zentrum stehen indessen Flucht und Migration. Am Eingang zu den Arsenale – einst Waffenschmiede des mediterranen Großreiches Venedig – kreuzt ein schwerbepackter Lastenträger von Yinka Shonibare („Refuge Astronaut“) mit seinem Hab und Gut den Weg der Besucherinnen und Besucher. Im Inneren erzählen Flüchtlinge aus allen Winkeln dieses Planeten in einer Serie von Videos von ihren Schicksalen. Und ein Raum ist angefüllt von großen Landkarten, zu und auf denen sie grafisch von ihren Odysseen berichten. Erst zusammengenommen werden sie von der Dokumentation zum Kunstwerk.


Die Biennale ist noch bis zum 24. November geöffnet und immer eine Reise wert. Das Tagesticket für Giardini und Arsenale (zusammen an einem Tag kaum zu bewältigen) kostet 20€, ein Dreitagesticket 40€. Dazu kommt für Tagesbesucher der Lagunenstadt neuerdings und vorerst eine Besuchsgebühr von 5€. Beides ist auch im Internet erhältlich und dann als QR-Code mitzuführen. Dass die Tagesgebühr nach jahrelangen Diskussionen und Vorbereitungen ausgerechnet am Nationalfeiertag und dem ersten langen Wochenende der Biennale testweise eingeführt wurde, ist für die Verwaltung kein Ruhmesblatt und führte zu chaotischen Zuständen an den Ankunftsmolen der Tagestouristen. Und dass ausgerechnet dort im Block und quasi flächendeckend die angekündigten „Stichproben“ vorgenommen wurden, verdankt sich wohl entweder Gedankenlosigkeit oder einem beabsichtigten Abschreckungseffekt. Kenner wählten eine etwas längere Alternativroute und umgingen die mutwillig provozierten Menschenknäuel am Kai elegant durch die engen Gassen, wo sie vielleicht in einem der lokalen Cafes noch einen Espresso und ein kleines Gebäck genossen – auch das findet man noch.

Persönliches Highlight des Autors war eine aufwendige Videoprojektion des Schweizer Pavillons im Halbrund eines Himmelsgewölbes, eine Art ungemein selbstironischer Werbefilm einer „Super Superior Civilisation“. Gleichauf und von den meisten anderen Kommentatoren favorisiert ist der Österreichische Pavillon, bespielt von Anna Jermolaewa, die 1970 in Leningrad (UdSSR) geboren wurde und 1989 aus politischen Gründen aus der Sowjetunion fliehen musste. Ein Video von Proben zum Schwanensee-Ballett von Tschaikowski kann als Code für einen erwünschten Machtwechsel gelesen werden. Zu Sowjetzeiten wurde Schwanensee im Fernsehen oft in Phasen politischer Unruhe oder nach dem Tod eines Staatsoberhaupts gespielt – manchmal in Dauerschleife. Ein Raum mit verschiedenen Blumenarrangements ist alles andere als unschuldig: Sie stehen jeweils für eine Revolution. Nelken stehen für die portugiesische Revolution von 1974 und so weiter. Aufsehen erregen sechs Telefonzellen nicht nur bei jungen Besuchern, die gar nicht mehr wissen, was eine Telefonzelle überhaupt ist. Schon ihr Transport per Vaporetto auf den Kanälen Venedigs zu den Giardini war ein Spektakel. Sie stammen aus Traiskirchen. Für viele Flüchtlingen waren sie das Kommunikationsmittel in die alte Heimat. Auch für Anna Jermolaewa. In einem Video von einer Sitzbank im Westbahnhof erzählt sie von der Suche nach der bequemsten Schlafstellung. Die Nächte ihrer ersten Woche in Wien hatte sie dort zugebracht.

von © Robert Lessmann Dr 06 Apr., 2024

Wien im März 2024. Die kolumbianische Botschafterin war in ihrem Schlusswort sehr klar: „Als ich vor einem Jahr erstmals hier sprach, stellte ich mich mit den Worten vor: ‚Ich heiße Laura Gil. Ich komme aus Kolumbien und ich bin müde.‘“ Müde von der Gewalt, den Toten, den leeren Versprechungen. Ein Jahr später müsse sie sagen: „Wir sind heute 60 Länder und wir sind es leid!“


Laura Gil sprach auf einem so genannten side event im Rahmen der 67. UN Commission on Narcotic Drugs.(1) Obwohl eine Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen (UNGASS) zum Thema Drogen im Jahr 2016 eine flexiblere Auslegung der einschlägigen Konventionen versprochen hatte, sei in der Praxis alles so starr und bürokratisch geblieben wie eh und je, sagte Gil, die zuletzt als Vize-Außenministerin ihres Landes für multilaterale Beziehungen zuständig war. UNGASS 2016 war auf Initiative Mexikos, Kolumbiens und Guatemalas einberufen worden: Eine Überarbeitung des bisherigen Ansatzes der internationalen Gemeinschaft gegenüber Drogen könne nicht länger aufgeschoben werden, hieß es bereits in einer gemeinsamen Erklärung vom 1. Oktober 2012. Dabei müssten die Vereinten Nationen eine Führungsrolle übernehmen, um „alle Optionen zu analysieren, einschließlich regulierender – oder Marktmechanismen, um ein neues Paradigma zu etablieren, das den Ressourcenfluss zu Gruppen organisierter Kriminalität verhindert.“ Herausgekommen ist das Versprechen größerer Flexibilität. In der Tat wurden seither Entkriminalisierungs- und Regulierungsmodelle bei Cannabis toleriert.


Neustart als Rohrkrepierer

Zu einer energischen Schwerpunktsetzung beim Kampf gegen die organisierte (Gewalt-) Kriminalität und die Geldwäsche – wie es die Lateinamerikaner gefordert hatten – kam es jedoch nicht. Im Jahr 2011 hatte das Büro für Drogen und Verbrechensbekämpfung der Vereinten Nationen (UNODC) eine bahnbrechende Studie über Geldwäsche vorgelegt. Demnach lag deren jährliches Volumen damals zwischen 1,2 und 1,6 Billionen US Dollar. Der größte Anteil entfalle mit 350 Mrd. auf den Drogenhandel und dabei wiederum auf den mit Kokain, der besser organisiert und zentralisierter sei als der mit anderen illegalen Substanzen. Zum Vergleich: Der aktuelle Budgetentwurf der deutschen Bundesregierung liegt bei 470 Mrd. €. Der illegale Drogenhandel sei gewissermaßen das Rückgrat der internationalen organisierten Kriminalität, hieß es damals in UNODC-Papieren. Indes: Eine längst überfällige Aktualisierung dieser Studie ist nicht in Sicht. Unter dem damaligen Exekutivdirektor des UNODC, Antonio Maria Costa (2002-2010 - ein Banker übrigens), habe man sich dieses heiklen Themas angenommen. Seither fehle der politische Wille dazu, ist aus dem UNODC zu vernehmen.


Dabei wäre es sechs Jahrzehnte nach der Verabschiedung der maßgeblichen UNO Drogenkonvention und einem halben Jahrhundert von Washingtons federführendem „War on Drugs“ höchste Zeit, neue und innovative Wege einzuschlagen. Die Zahl der Drogenkonsumenten befindet sich auf Rekordniveau und wächst schnell weiter. Schneller noch wachsen die Opferzahlen, vor allem durch neue, im Labor hergestellte psychoaktive Substanzen. Überdosen mit dem künstlichen Opioid Fentanyl sind heute die häufigste Todesursache für Männer zwischen 18 und 45 Jahren in Nordamerika. Die Produktion der klassischen, pflanzengestützten Drogen Kokain (Grundstoff sind die Blätter des Kokabusches aus Bolivien, Kolumbien und Peru) und Heroin (Schlafmohn/Opium aus Afghanistan, Myanmar und Mexiko) befindet sich jeweils auf Rekordniveau. Sogenannte Neue Psychoaktive Substanzen drängen mit einer Schnelligkeit und Vielfalt auf den Markt, die schon ihre Erfassung und damit das Kontrollsystem der Drogenkonventionen über Listen kontrollierter Substanzen überfordert. Zusammen mit einer wachsenden Rolle des Darknet beim Handel schränkt das die Zugriffsmöglichkeiten der Exekutive drastisch ein. Therapie und Prävention scheinen die wesentlich effektiveren Instrumente zu sein. Doch in der Praxis dominiert allenthalben noch immer der repressive Ansatz über das Strafrecht.


Diese konventionelle Politik ist in Bausch und Bogen gescheitert. Es gab allenfalls regionale Schwerpunktverlagerungen. Inwieweit ein Anbauverbot der Taliban für Schlafmohn in Afghanistan vom April 2022 nachhaltig sein wird, bleibt vor dem Hintergrund voller Lagerbestände abzuwarten. Ein ebensolches Verbot vom Jahr 2000/2001 war es jedenfalls nicht. Immerhin ist aktuell ein Rückgang der dortigen Opiumproduktion um 95 Prozent zu verzeichnen. Zwanzig Jahre westlicher Sicherheitskooperation waren dagegen von einem stetigen Anwachsen des Anbaus in Afghanistan begleitet. Schon nimmt der Anbau beim vormals wichtigsten Schlafmohnproduzenten, Myanmar, rapide zu.


Das Epizentrum des Kokaanbaus verlagerte sich bereits in den 1990er Jahren aus den traditionellen Anbauländern Bolivien und Peru nach Kolumbien (ohne dort zu verschwinden oder auch nur nachhaltig vermindert zu sein) und zwischenzeitlich auch wieder zurück. Man spricht vom Ballon Effekt; Druck an einer Stelle führt zur Ausdehnung anderenorts. Heute befinden sich 204.300 Hektar Anbaufläche (von insgesamt 296.000) in Kolumbien (2). Die Schaltzentralen des Kokaingeschäfts verlagerten sich von Kolumbien nach Mexiko, doch produziert wird nach wie vor in Kolumbien, wo rund zwei Drittel der Kokainlabors entdeckt und zerstört werden. Mehr als von einer Verlagerung muss man also von einer Ausbreitung des illegalen Drogengeschäfts und der mit ihm verbundenen Probleme sprechen.


Ecuador, Kolumbien und der War on Drugs

Jüngstes Beispiel dafür ist Ecuador, das in einer Welle von Gewalt versinkt, wie die deutsche Tagesschau am 11. Januar 2024 titelte. Ecuador, dabei dachte man an Galapagos, den 6.263 Meter hohen Chimborazo, Charles Darwin und Alexander von Humboldt, ein stark von seiner indigenen Bevölkerung geprägtes Land und jenes mit der wahrscheinlich größten Artenvielfalt. Doch heute ist Ecuador ein wichtiges Transitland für Kokain geworden. Aus dem friedlichen und aufstrebenden Ecuador wurde eines der gefährlichsten Länder Lateinamerikas.


Wie kam es dazu? Ecuador hat mit Guayaquil einen großen Seehafen und eine fast 600 Kilometer lange Grenze zum Nachbarland Kolumbien, wo seit vielen Jahren etwa zwei Drittel des auf den illegalen Weltmärkten erhältlichen Kokains erzeugt werden. Ein halbes Jahrhundert War on Drugs , Milliarden von Dollars, US- Militärbasen und Sprühflugzeuge mit Glyphosat gegen Kokafelder haben daran nichts geändert. Älteren Leserinnen und Lesern sind die Namen Pablo Escobar, Carlos Lehder, die Ochoa-Familie und die Rodríguez-Orejuela in Erinnerung, das Cali- und das Medellín-Kartell (der völlig falsche Ausdruck übrigens, aber von der Journaille so eingebürgert) in Erinnerung, die Ende der 1980er, Anfang der 90er Jahre gegen ein Auslieferungsabkommen mit den USA anbombten. Allein drei Präsidentschaftskandidaten starben, dutzende Richter, Staatsanwälte, Journalisten wurden damals ermordet. Nach der Zerschlagung der mächtigen „Kartelle“ übernahmen Dutzende kleinere Organisationen das unvermindert boomende Geschäft, die nicht mehr über die Kontakte in die Anbauregionen in Bolivien und Kolumbien verfügten. Ungeachtet einer einsetzenden Besprühungskampagne mit Pflanzengift aus der Luft wurde Kolumbien in der zweiten Hälfte der 90er selbst zum wichtigsten Grundstoffproduzenten. Wirtschaftswissenschaftler nennen das Importsubstitution. Der Kokaanbau in Kolumbien verdreifachte sich. Und er breitete sich aus: Waren es zu Beginn der Besprühungen sechs Provinzen, so wurde zur Jahrtausendwende Koka in 23 der 33 kolumbianischen Departments angebaut.


Kokaanbau historisch in Hektar

        1986     1995     2000

Bolivien    25.800   48.600   14.600

Kolumbien   24.400   50.900   163.300

Peru     150.400   115.300    43.400

Total      200.440   214.800   221.300

Quelle: UNODCCP Global Illicit Drug Trends bzw. UNODC World Drug Reports


Washington hatte Mitte der 90er den Präsidenten Ernesto Samper mit Korruptionsvorwürfen unter Druck gesetzt und zur Einwilligung in die Besprühungskampagne genötigt. Mit einer Operation Airbridge hatte man zudem versucht, den Import des Zwischenprodukts, der Pasta B ásica de Cocaína , aus Bolivien und Peru einzudämmen. Nicht identifizierte Kleinflugzeuge wurden zur Landung gezwungen oder abgeschossen, bis der Kongress dieses Vorgehen stoppte. Wegen eines Kommunikationsfehlers zwischen dem amerikanischen Aufklärer und dem peruanischen Jäger hatte man versehentlich die Cessna einer US-Missionarsfamilie abgeschossen.


Zunehmend bemächtigten sich nun auch bereits seit 1964 in Kolumbien operierende Guerrillagruppen des illegalen Geschäfts, und stärker noch die rechtsextremen Paramilitärs, die gegen die Guerrilla kämpften. Teilweise hatten diese Gruppen zigtausende Kämpfer unter Waffen, die alle verköstigt, eingekleidet und bewaffnet werden mussten. Hatte die Guerrilla anfangs nur die Kokabauern besteuert und Gebühren für die klandestinen Landepisten der Drogenhändler in den Anbaugebieten erhoben, so wurde das illegale Geschäft zunehmend zum Selbstzweck und verschiedene ihrer frentes stiegen immer tiefer ein. Ab der Jahrtausendwende hielt Washington mit dem Plan Colombia dagegen. Milliarden wurden ausgegeben, sieben Militärbasen in Kolumbien errichtet, Spezialkräfte ausgebildet und die Besprühung mit Glyphosat noch einmal ausgeweitet. Der W ar on D rugs verschmolz mit dem W ar on T error. Nur Weltpolizist Uncle Sam verfügt über eine Abteilung für internationale Drogen- und Gesetzesvollzugsangelegenheiten (INL(3)) im Außenministerium. Ende des vorletzten Jahrzehnts (FY 2010) gingen mehr als 50 Prozent des INL-Budgets in Höhe von insgesamt 878,9 Mio. USD nach Afghanistan und Kolumbien – zwei Schlüsselländer im Krieg gegen den Terror. Zum Vergleich: Das Gesamtbudget des UNODC war nicht einmal halb so hoch.


Nachhaltigkeitsdesaster und Bürgerkrieg

Besprüht wurde nun vor allem in den Guerrilla-Hochburgen im Süden des Landes. Im Laufe der Jahre will man laut Statistik deutlich mehr als das Zehnfache dessen an Feldern vernichtet haben, was jemals als maximale Anbaufläche vorhanden war. Ein Nachhaltigkeitsdesaster. Die Bauern zogen weiter, legten neue Kokafelder an – teilweise schon prophylaktisch. Die Politik der Kokavernichtung ohne Nachhaltigkeit dürfte damit enorme Flächen tropischen Regenwaldes gekostet haben.(4) Doch nicht nur das: Durch die zur Weiterverarbeitung notwendigen Chemikalien wurden immer neue Böden und Gewässer vergiftet. Und Kolumbien war lange noch vor Syrien das Land mit der höchsten Zahl von Binnenflüchtlingen (8 von insgesamt 50 Millionen Einwohnern), wofür hauptsächlich der Guerrillakrieg, aber eben auch Bauernvertreibung durch Kokaeradikation verantwortlich war.


Die Umsetzung des Plan Colombia hieß in Kolumbien unter Präsident Álvaro Uríbe (2002-2010) S eguridad D emocrática und verfolgte das Ziel, illegale bewaffnete Gruppen von ihrer Finanzierung abzuschneiden. Gesprüht wurde nun insbesondere in den Hochburgen der Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC) im Süden des Landes in den Departments Caquetá und Putumayo. Landesweite Kokareduzierungen um 80.000 Hektar zwischen 2000 und 2004 wurden praktisch ausschließlich dort erzielt.


Im Jahr 2015 wurden die Besprühungen eingestellt, im Jahr 2016 ein Friedensabkommen mit den FARC unterzeichnet. Der Krieg mit der ältesten (seit 1964) und größten Guerrilla war zu Ende. Präsident Juan Manuel Santos erhielt dafür den Friedensnobelpreis. Mehr als 13.000 Kämpfer wurden demobilisiert, Hunderte davon später ermordet. Nachfolger Iván Duque hielt nichts von dem Abkommen und das ehrgeizige Programm zur Schaffung von Alternativen für die Bauern wurde praktisch nicht vollzogen. Duque setzte die Zwangseradikation von Kokafeldern fort und wollte sogar zu einer Besprühung der Felder aus der Luft zurückkehren. Es ist nicht gelungen, das Machtvakuum, das durch den Abzug der Guerrilla entstand, durch staatliche Institutionen zu füllen. Stattdessen geben dort nun FARC-Dissidenten (5.500 Kämpfer), Kämpfer des Ejercito de la Lib e ración Nacional (ELN 2.200) und Angehörige krimineller Banden (8.350 nach offiziellen Zahlen) den Ton an. Bei seinem Amtsantritt im Jahr 2018 gab es in Kolumbien 169.000 Hektar Koka und Duque strebte bis 2023 eine Halbierung an. In einem Working-Paper von 2020/21 für das deutsch-kolumbianische Friedensinstitut Capaz ( www.instituto-capaz.org ) schrieb der Autor dieser Zeilen damals: „Nichts deutet darauf hin, dass die Zielvorgaben heute realistischer sind als vor 10 oder 20 Jahren. Es ist vielmehr zu erwarten, dass die neuerliche Eradikationsoffensive auch diesmal nicht nachhaltig sein wird und es besteht die Gefahr, dass damit die Unsicherheit der Lebensumstände in den betroffenen Gebieten vergrößert wird.“


Heute kämpft die Regierung des Präsidenten Gustavo Petro unter dem Slogan Paz Total gegen verbrannte Erde an. Die Bauern sind einmal mehr vom Staat enttäuscht und desillusioniert. Statt der angestrebten Halbierung ist die Kokaanbaufläche um gut ein Drittel weiter angewachsen und liegt heute (2022) bei 230.028 Hektar, fast die Hälfte davon in den südlichen Departments Putumayo und Nariño im Grenzgebiet zu Ecuador (5). Und damit nicht genug. Durch bessere Sorten und Anbaumethoden soll die Ernte pro Hektar nach Berechnungen des UNODC um durchschnittlich 24 Prozent angestiegen sein und durch Optimierung der Weiterverarbeitung auch der Kokainertrag. Solche neuen Hochproduktivitätszonen befinden sich unter Kontrolle sogenannter narcoparamil i tares, FARC-Dissidenten bzw . der ELN . Alle zusammen werden sie Grupos Armados Ilegales (GAI) genannt. 35 Prozent der Kokaanbauflächen Kolumbiens befinden sich in Zonen, in denen eine oder mehrere GAI präsent sind. Diese arbeiten fallweise zusammen oder bekriegen sich. Aber alle sind um eine strikte Kontrolle des Produktionsprozesses bemüht. Im Department Putumayo lassen sich sechs Gruppen identifizieren, die nahezu umfassende Kontrolle ausüben. Die größten sind ehemalige frentes der FARC, das Comando Frontera und die Frente Carolina Ramírez und sie bekämpfen sich gegenseitig. Gemeinsam ist ihnen allen der Vektor des Kokainabsatzes: der Rio Putumayo. Interessanterweise befindet sich auch auf der südlichen, der peruanischen Seite des Grenzflusses im Departement Loreto ein Koka-Kokain-Nukleus. Auf ihm oder an ihm entlang gelangt die heiße Ware nach Ecuador.


Ecuador: Neoliberalismus und Drogentransit

Immer wieder tauchten in den letzten Jahren in Supermärkten Kokainpäckchen in Bananen- oder Schnittblumenlieferungen aus Ecuador auf, die von den Adressaten übersehen worden waren. Ecuador ist selbst kein Anbauland in nennenswertem Umfang, doch wurde es für den Drogenhandel nicht nur wegen des Pazifikhafens Guayaquil interessant. Kokainbeschlagnahmungen sind dort von 88 Tonnen (2019) auf 201 Tonnen (2022) kontinuierlich angestiegen. Neben dem Seehafen und der langen Landesgrenze zu den wichtigsten Kokain-Produktionszentren verfügt Ecuador noch über weitere, politisch-hausgemachte „Standortvorteile“. Das notorisch exportabhängige Land – vor allem Erdöl mit seinen schwankenden Weltmarktpreisen – befindet sich seit langem in einer wirtschaftlichen Dauerkrise, unterbrochen nur durch einen Boom im ersten Jahrzehnt dieses Jahrtausends. Zur Jahrtausendwende wurde daher die Wirtschaft „dollarisiert“, was Außenhandelsgeschäfte ebenso erleichtert wie die Geldwäsche. Sie soll bei etwa 3,5 Mrd. USD jährlich liegen, was etwa 3 Prozent des BIP entspricht, Geld, das zu 75 Prozent im Land selbst in legale Wirtschaftskreisläufe eingespeist werde. Kolumbianische Wirtschaftswissenschaftler bezeichneten solcherlei Verhältnisse für ihr Land schon von mehr dreißig Jahren als „Verschmutzung der Wirtschaft“ ( la economía se ensucia ) und sprachen von einer „bewilligten Illegalität“ ( ilegalidad consentida ) (6), die der Gesetzgeber billigend in Kauf nehme.


Ecuador war mit seiner neuen Verfassung von 2008 und einer zunächst stärkeren Akzentuierung der Sozial-, Indigena- und Umweltpolitik unter Präsident Rafael Correa einer der Hoffnungsträger der progressistischen Welle in Lateinamerika. Doch eine Abkehr vom Extraktivismus, eine Überwindung der Abhängigkeit vom Erdöl gelang nicht und Correa ging 2017 unter Korruptionsvorwürfen ins französische Exil. Sein Nachfolger, Lenin Moreno, fiel nurmehr durch den scharfen Gegensatz zwischen progressiver Rhetorik und neoliberaler Praxis auf. Proteste ließ er im Jahr 2019 blutig niederschlagen. Das Verhältnis zwischen dem indigenen und dem „progressistischen“ Lage ist so zerrüttet, dass man 2021 den Wahlsieg quasi verschenkte. Während der „Correist“ Andrés Arauz den ersten Wahlgang mit 14 Prozentpunkten Vorsprung gewonnen hatte und Yaku Pérez das historisch beste Ergebnis für das indigene Lager erzielte, gewann der neoliberale Kandidat Guillermo Lasso die Stichwahl, der im ersten Wahlgang nur 19,5 Prozent der Stimmen bekommen hatte. Statt ein Bündnis einzugehen, bekämpften sich die progressiven Kräfte. Während der 900 Tage seiner Amtszeit soll das Vermögen von Guillermo Lasso um 21 Mio. USD angewachsen sein. Speziell seit der Pandemie wurde unter Moreno und Lasso eine extreme Sparpolitik betrieben, um Auslandsschulden begleichen zu können – nicht zuletzt auch im Sicherheitsbereich. Gerade Lasso war in der Sicherheitspolitik gleichzeitig aber ein Verfechter der „harten Hand“. Das in ganz Lateinamerika notorisch prekäre und hier nun noch einmal besonders vernachlässigte Gefängnissystem wurde mit Kleinkriminellen überfüllt. Vor dem Hintergrund allgegenwärtiger Korruption entwickelten sich die Haftanstalten geradezu zu Hauptquartieren krimineller Banden.


Deren wichtigste, die „Choneros“ arbeiten mit der mexikanischen Sinaloa-Gruppe zusammen, „Los Lobos“ mit der ebenfalls mexikanischen „Jalisco Nueva Generación“. Beide Gruppen bekämpfen sich. Ein Fanal war die Ermordung des Präsidentschaftskandidaten Fernando Villavicencio, dessen Hauptthemen der Kampf gegen die Korruption und den illegalen Drogenhandel waren, auf einer Kundgebung in Quito im August 2023. Eine Komplizenschaft aus den Reihen der Sicherheitskräfte wird vermutet. Die Hauptverdächtigen wurden später in zwei verschiedenen Gefängnissen ihrerseits ermordet. Ein zweites Fanal war der Ausbruch des Anführers der „Choneros“, Adolfo „Fito“ Macias, Anfang Januar 2024, nachdem er in ein anderes Gefängnis verlegt werden sollte, sowie die bewaffnete Besetzung eines Fernsehstudios während einer Livesendung. Inzwischen hatte der heute 36-jährige, in Miami geborene und steinreiche Unternehmer Daniel Noboa die Wahlen gewonnen. Nach nur wenigen Wochen im Amt, sprach er am 9. Januar von einem „internen bewaffneten Konflikt“ und rief einen 60-tägigen Notstand aus. In kurzer Zeit wurden mehr als 9.000 Menschen verhaftet. Es wird sogar über eine Wiedereröffnung der US-Luftwaffenbasis Manta diskutiert, die im Kontext des Plan Colombia 1999 als sogenannte Forward Operation Location zur Luftraumüberwachung (AWACS) eröffnet worden war. Insgesamt 500 Mann US-Personal genossen damals quasi diplomatische Immunität und Bewegungsfreiheit in ganz Ecuador. Sie war 2008/2009 unter Rafael Correa geschlossen worden und eine Wiedereröffnung würde heute gegen die neue Verfassung verstoßen.


Der Wirtschaftswissenschaftler Alberto Acosta, der unter anderem in Köln studiert hat, war in den Jahren 2007 und 2008 Präsident der Verfassungsgebenden Versammlung Ecuadors und im ersten Halbjahr 2007 Minister für Energie und Bergbau im Kabinett von Rafael Correa. Er hat Zweifel am Erfolg dieser Politik der Militarisierung: Die Nationalpolizei werde zum Erfüllungsgehilfen des Militärs degradiert. Er spricht vom grundlegenden Problem einer Koexistenz zwischen dem Staat und einigen kriminellen Banden, die nach und nach die staatlichen Institutionen übernahmen. Der Grad der Durchdringung des organisierten Verbrechens sei so groß, dass seine Infiltration fast aller staatlichen Instanzen, der Justiz, der Sicherheitskräfte, des Privatsektors und sogar des Sports öffentlich anerkannt werde.


Vor anderthalb Jahrzehnten reagierte das Kokaingeschäft auf stärkere Kontrollen der europäischen Seehäfen mit dem Absatz über Venezuela und Westafrika entlang des 10. Breitengrades, der die kürzeste Verbindung zwischen Lateinamerika und Westafrika darstellt. Fahnder sprachen damals vom Highway Number 10. Einige der ärmsten Länder der Welt waren nun plötzlich mit einem Millionengeschäft konfrontiert. In der Wüste Malis wurde im Jahr 2009 das Wrack einer aufgelassenen Boeing 727 gefunden, mit der 10 Tonnen Kokain transportiert worden waren: die Air Cocaine. Der Weitertransport durch die Sahara zum Mittelmeer erfolgte über dieselben Routen und durch dieselben Organisationen, die auch im Schleppergeschäft aktiv sind, unter anderem Al Qaeda . Ab 2011 erhielten sie üppige Bewaffnung aus Beständen des gestürzten Diktators Muhammar al Gaddhafi. Und während neuerdings Ecuador die Aufmerksamkeit erregt, zeichnet sich bereits eine Wiederbelebung des Highway Number 10 ab. Wie auch immer die Routen sich ändern: Die Fahnder laufen hinterher.


Drogenbekämpfung und Menschenrechte: ein neuer Anlauf

Zurück nach Wien und zur Commission on Narcotic Drugs. Der War on Drugs sei gescheitert, sagt Volker Türk, der UNO Hochkommissar für Menschenrechte: gescheitert Leben zu retten; gescheitert die Würde, Gesundheit und Zukunft von weltweit 296 Millionen Drogennutzern zu schützen; gescheitert, den Politikwechsel herbeizuführen, den wir dringend brauchen, um weitere Rückschläge bei den Menschenrechten abzuwenden. Die gegenwärtige Drogenpolitik mit ihrem strafenden Ansatz und ihren repressiven Politiken, so Türk, hatte verheerende Folgen für die Menschenrechte auf allen Ebenen. „Drogen töten und zerstören Leben und Gemeinschaften. Aber unterdrückerische und rückwärtsgewandte Politiken tun das auch.“ (Übers. aus dem Englischen R.L.)


Seit der Vorbereitung der UNGASS Konferenz von 2016 werden andere UNO-Organisationen (wie UNAIDS oder das Hochkommissariat für Menschenrechte mit Sitz in Genf) sowie NGO’s in die Drogendebatte einbezogen, die bis dato von den in Wien ansässigen UN „Drogenorganisationen“ dominiert, wenn nicht monopolisiert gewesen war. Drogenpolitik wurde in den Kontext der nachhaltigen UN-Entwicklungsziele (oder Agenda 2030) gestellt – zumindest in den Debatten. Im August 2023 legte das Büro des Menschenrechts-Hochkommissars einen Bericht über Herausforderungen für die Menschenrechte bei der Drogenbekämpfung vor. Der kolumbianische Außenminister Murillo erkannte auf dem genannten side event sofort, den Gegensatz zwischen Wien und Genf. Und die frühere Bundespräsidentin der Schweiz, Ruth Dreyfuss, plädierte für eine dringend notwendige „Kommunion“ der Ansätze , wie sie es formulierte. Es ist hohe Zeit, dass daraus Wirklichkeit wird. Nicht nur in den Diskursen, sondern in der Praxis.


(1) Auf der alljährlich in Wien stattfindenden „Commission“ kommen die Delegierten der Mitgliedsländer zusammen, um die internationale Drogenpolitik zu diskutieren und zu gestalten. Das erwähnte side event (Human rights in global drug policy and the case of the current classification of coca leaf in the 1961 single convention: A debate on the implementation and effectiveness of the international drug control regime) fand am 14. März 2024 statt. Am Podium saßen neben Laura Gil, der bolivianische Vizepräsident David Choquehuanca, der kolumbianische Außenminister Luis Gilberto Murillo, die ehemalige Bundespräsidentin der Schweiz, Ruth Dreyfuss (als Mitglied der Global Commission on Drug Policy) sowie der UN Hochkommissar für Menschenrechte, der Österreicher Volker Türk.

(2) Der World Drug Report 2023 des UNODC nennt für Bolivien 30.500 Hektar und für Peru 80.681 Hektar, was zusammengenommen 315.481 Hektar ergibt. Die Zahlen sind von daher inkonsistent bzw. die Addition fehlerhaft.

(3) Das Bureau for International Narcotics Matters and Law Enforcement Affairs (INL) im State Department wurde 1978 gegründet und 1995 zum heutigen Namen umbenannt. Insgesamt ist das Anti-Drogen-Budget der USA noch erheblich höher und in seinen internationalen Aspekten auf State Department (INL und USAID), Justiz- (DEA) und Verteidigungsministerium verteilt.

(4) Eine auch methodologische Auseinandersetzung mit dem Thema stellt fest: „...that coca cultivation area, number of cattle, and municipality area are the top three drivers of deforestation…“ und die Gewichtung dieser Faktoren sei „highly context-specific“. (Ganzenmüller/Sylvester/Castro-Nuñez: „What Peace Means for Deforestation: An Analysis of Local Deforestation Dynamics in Times of Conflict and Peace in Colombia“ in: Frontiers in Environmental Science Vol. 10, Bucharest, 21.2.2022

(5) UNODC: Monitoreo de los territorios con presencia de cultivos de coca 2022, Bogotá/ Viena, Septiembre 2023.

(6) Arrieta/ Orejuela/ Sarmiento Palacio/ Tokatlián: „Narcotráfico en Colombia“, Bogotá, 1990.


Volker Türks bemerkenswerte Rede auf dem erwähnten side event : www.ohchr.org/en/statements-and-speeches/2024/03/war-drugs-has-failed-says-high-commissioner

Sein Statement vor dem Plenum:

www.ohchr.org/en/statements-and-speeches/2024/03/turk-urges-transformative-change-global-drug-policy


Foto: Verurteilte Drogenkurierin, Frauengefängnis Bogotá 1990. Noch immer werden Haftanstalten mit Kleinkriminellen vollgestopft. 

© Robert Lessmann


Weitere Beiträge zum Thema weiter unten in diesem Blog, insbesondere:

www.robert-lessmann.com/proceso-de-paz-y-guerra-contra-las-drogas-en-colombia-sostenibilidad-y-alter...

www.robert-lessmann.com/kolumbien-drogenbekaempfung-und-friedensprozess

www.robert-lessmann.com/drogenpolitik-augen-zu-und-weiter-so

von © Robert Lessmann Dr 12 März, 2024

Álvaro García Linera kennt die politische Realität Lateinamerikas aus Theorie und Praxis. Er wurde 1962 in Cochabamba/ Bolivien geboren. Soziologie studierte der gelernte Mathematiker als Autodidakt während einer fünfjährigen Untersuchungshaft, die er ab 1992 als Mitglied des Ejército Guerillero Túpac Katari (EGTC) verbüßte. Für sein politisches Denken war neben Karl Marx und Antonio Gramsci auch der Vordenker des bolivianischen „Indianismus“ Fausto Reinaga von großer Bedeutung. Nachdem er ohne Urteilsspruch entlassen wurde, arbeitete er als Hochschullehrer und wurde einer der gefragtesten Talkshowgäste und politischen Analytiker. Zentral für sein politisches Denken blieb stets die Frage der indigenen Emanzipation. Im Jahr 2005 wurde er an der Seite von Evo Morales zum Vizepräsidenten seines Landes gewählt, ein Amt, das er bis zu beider Sturz im November 2019 innehatte. (Bild von der Amtseinführung im Januar 2006.) Gemeinsam wurden sie ins Exil gezwungen. Nach der Rückkehr der Regierungspartei Movimiento al Socialismo (MAS) an die Macht, kehrte auch er nach Bolivien zurück, hält sich aber im Gegensatz zu Evo Morales aus der Tagespolitik heraus.


García Linera sieht Lateinamerika – und die Welt – in einer Übergangsphase. Sie sei von Unklarheit und Instabilität gekennzeichnet, wo eine „monströse Rechte“ die Bühne betrete, was wiederum in gewisser Weise eine Folge der Defizite progressiver Kräfte sei. Er nennt diese Zeit „tiempo liminar“. Andere Autoren sprechen vom Kampf zwischen progresismo und Regression. Die Linke, so García Linera, müsse kühner sein und einerseits mit historischer Verantwortung Antworten auf die profunden Fragen an der Basis des sozialen Zusammenhalts geben und andererseits die Sirenengesänge der neuen Rechten neutralisieren. Sie müsse bei grundlegenden Reformen zu Fragen der Eigentumsverhältnisse weiterkommen, bei Steuern, bei der sozialen Gerechtigkeit, der Verteilung des Wohlstands und der Wiedergewinnung der Ressourcen zum Wohle der Gesellschaft. Nur so werde man, ausgehend von den grundlegendsten Forderungen der Gesellschaft und realen Fortschritten bei der Demokratisierung, die Ultrarechten in die Schranken weisen.


Politische Schubumkehr

Das Jahrhundert hatte mit einer Dominanz progressiver Regierungen begonnen. Mit dem Wahlsieg von Mauricio Macri in Argentinien habe 2015 gewissermaßen eine Schubumkehr in Lateinamerika eingesetzt. Andere Länder, wie Brasilien und Honduras, folgten. Teilweise wurden diese Rechtsregierungen inzwischen wieder von progressiven ersetzt. García Linera sieht das als Ausdruck einer Umbruchphase des zeitgenössischen Kapitalismus – Gramsci hatte von „Interregnum“ gesprochen –, wo sich Wellen und Gegenwellen ablösen ohne dass sich eine Tendenz durchsetzt. Lateinamerika habe damit eine Entwicklung vorweggenommen, die wir heute auf der ganzen Welt beobachten können. Der Halbkontinent erlebte eine intensive progressive Welle, die von einer konservativen Gegenbewegung gefolgt wurde und dann von einer neuerlichen progressiven. Möglicherweise, so García Linera, werden wir sehen, dass sich eine solche Abfolge kurzfristiger Wechsel noch fünf bis zehn Jahre fortsetzt, bis sich ein neues Modell der Akkumulation und Legitimation durchsetzt, das neue Stabilität für Lateinamerika und die Welt bringt. Insoweit das nicht geschieht, werden wir in einem Wirbel der Zeit des Interregnums feststecken. Man erlebe progressive Wellen, ihre Erschöpfung, konservative Gegenreformen, neue progressive Wellen. Und jede dieser Wellen sei verschieden von der anderen. „Milei ist unterschiedlich zu Macri, obwohl er manches von ihm übernimmt. Alberto Fernández, Gustavo Petro und Manuel López Obrador unterscheiden sich auch von ihren Vorgängern, obwohl sie einen Teil von deren Erbe übernehmen“, stellt García Linera fest: „Und so wird es weiter gehen bis sich eines Tages eine neue Weltordnung definiert, denn diese Instabilität und dieses Leid können nicht endlos sein“, meint er. Im Grunde würden wir einen zyklischen Niedergang des Akkumulationsmodells sehen, wie wir das bereits nach der liberalen Phase des Kapitalismus (1870-1920), der staatskapitalistischen (1940-1980) und der neoliberalen (1980-2010) gesehen haben, argumentiert er in Anlehnung an Nicolai Kondratiews Theorie der Wirtschaftszyklen. Das Chaos sei Ausdruck des historischen Niedergangs und des Kampfes um ein neues und dauerhaftes Modell der Akkumulation, das wieder Wachstum und sozialen Zusammenhalt bringt.


Polarisierung

Die Rechte verwende dabei Praktiken, die man glaubte überwunden zu haben, wie Putsche, politische Verfolgung, Mordversuche. Zu dieser Übergangszeit gehöre, dass die politischen Eliten auseinanderdriften. Wenn die Dinge gut liefen, wie etwa bis zur Jahrtausendwende, fänden sie sich um ein Akkumulations- und Legitimationsmodell zusammen. Die Linke mäßigt sich, „neoliberalisiert“ sich, obwohl es immer eine radikale Linke ohne Publikum geben wird. Die Rechten streiten unter sich. Wenn der Niedergang beginnt, tauche die extreme Rechte auf und werde stärker. Die extreme Rechte fresse die moderate Rechte auf, und die radikale Linke trete aus ihrer Marginalität und politischen Bedeutungslosigkeit. Sie gewinne an Resonanz und Publikum. Sie wachse. „Im Interregnum ist das Auseinanderdriften der politischen Projekte die Regel, weil es bei der Suche nach Lösungen für die Krise der alten Ordnung Dissidenten auf beiden Seiten gibt“, konstatiert er. Die rechte Mitte, die den Halbkontinent und die Welt über 30 oder 40 Jahre regiert hat, finde keine Antworten mehr auf die deutlichen Fehler des globalisierten, neoliberalen Kapitalismus und die Zweifel und Ängste der Menschen. Es tauche eine extreme Rechte auf, die weiter das Kapital verteidigt, die aber glaubt, dass die alten Rezepte nicht mehr genügen und man die Gesetze des Marktes mit Gewalt durchsetzen müsse. Sie will die Menschen domestizieren, wenn nötig mit Gewalt, um zu einem reinen, ursprünglichen freien Markt ohne Zugeständnisse und Doppelbödigkeiten zurückzukehren. Sie konsolidiert sich, indem sie von Autorität, von Schocktherapie des freien Marktes und Reduzierung des Staates spricht. Und wenn es dagegen soziale Widerstände gibt, müsse man dem mit Stärke und Zwang begegnen, und wenn nötig auch mit Staatsstreich und Massakern, um die Widerspenstigen, die sich der Rückkehr zur guten Gewohnheit des freien Unternehmertums und des zivilisierten Lebens widersetzen, zu disziplinieren: mit den Frauen am Herd, den Männern, die befehlen, den Chefs, die entscheiden und den Arbeitern, die schweigend ihre Arbeit tun. Ein weiteres Symptom des liberalen Verfalls tritt zu Tage, wenn sie nicht mehr überzeugen und verführen können, sondern Zwang brauchen, was bedeutet, dass sie bereits dem Untergang geweiht sind. Nichtsdestoweniger bleiben sie gefährlich.


Angesichts dessen könnten die progressiven Kräfte und die Linke nicht nachgiebig sein und versuchen, es allen sozialen Sektoren und Fraktionen recht zu machen. Die Linke tritt in der Übergangszeit aus ihrer Marginalität heraus, indem sie sich als Alternative zum wirtschaftlichen Desaster präsentiert, das vom unternehmerischen Neoliberalismus verursacht wird. Ihre Funktion könne es nicht sein, einen Neoliberalismus „mit menschlichem Antlitz“ einzuführen, einen grünen oder progressiven Neoliberalismus. „Die Menschen gehen nicht auf die Straße oder wählen die Linke, um den Neoliberalismus zu verzieren. Sie mobilisieren sich und wechseln radikal ihre alten politischen Bindungen, weil sie ihn satt haben und ihn loswerden wollen, weil er nur einige wenige Familien und Unternehmen reich gemacht hat. Und wenn die Linke es nicht schafft, sich als Alternative zu präsentieren, ist es unausweichlich, dass die Menschen sich der extremen Rechten mit ihren (illusorischen) Auswegen aus der allgemeinen Misere zuwenden“, fürchtet García Linera. Dazu müsse die Linke, wenn sie die Rechte aus dem Feld schlagen will, Antworten auf die drängenden Fragen geben. Sie muss die Armut der Gesellschaft bekämpfen, die Ungleichheit, die Unsicherheit der Dienstleistungen, Bildung, Gesundheit, Wohnen. Und um die materiellen Bedingungen dafür zu schaffen, muss sie radikal sein in ihren Reformen zu Fragen des Eigentums, der Steuerpolitik, der sozialen Gerechtigkeit, der Verteilung des Wohlstands, der Wiedergewinnung der gemeinsamen Ressourcen zum Wohle der Gesellschaft. Zurückhaltung dabei wird die sozialen Krisen vergrößern. Angesichts des Ausmaßes der Krise wird moderates Vorgehen die Extreme stärken. Wenn es die Rechten tun, stärken sie die Linken und umgekehrt. Worum es geht, sind wirtschaftliche und politische Reformen, die zu sichtbaren und dauerhaften materiellen Verbesserungen der Lebensbedingungen für die gesellschaftliche Mehrheit führen, zu einer größeren Demokratisierung der Entscheidungen, einer größeren Demokratisierung des Reichtums und der Eigentumsverhältnisse. Die Eindämmung der extremen Rechten wird nicht einfach ein Diskurs sein, sondern in einer Reihe von praktischen Maßnahmen zur Verteilung des Reichtums bestehen, die es erlauben, die wichtigsten Ängste und Forderungen der Bevölkerung anzugehen: Armut, Inflation, Unsicherheit, Ungleichheit. Man darf nicht vergessen, dass das Erscheinen der extremen Rechten ja eine pervertierte Antwort auf diese Ängste ist. „Je mehr du den Reichtum verteilst, desto mehr betrifft das die Privilegien der Mächtigen, aber die bleiben bei deren wütender Verteidigung in der Minderheit, während sich die Linke in dem Maße konsolidiert, wie sie sich um die grundlegenden Bedürfnisse des Volkes kümmert“, sagt der Exvizepräsident.


Analyse statt Etikettierung

Was ist nun neu an der neuen Rechten? Soll man sie faschistisch nennen oder was sonst? Bauen sie an einem postdemokratischen Labor, nicht zuletzt in den USA? Ohne Zweifel tendiere die liberale Demokratie – als bloßer Austausch der Eliten durch das Volk – zu autoritären Formen. Wenn sie manchmal Früchte einer sozialen Demokratisierung hervorgebracht habe, so war es durch das Wirken anderer demokratischer Formen von unten, wie Gewerkschaften, landwirtschaftlichen Organisationen, Stadtteilkomitees, unterstreicht der Soziologe. Wenn man aber die liberale Demokratie sich selbst überlasse, als bloße Auswahl der Regierenden, tendiere sie zur Konzentration von Entscheidungen, zu dem, was der Nationalökonom Josef Schumpeter ‚Demokratie als bloße Auswahl der Regierenden, die über die Gesellschaft entscheiden‘ nannte und was eine autoritäre Form der Konzentration von Entscheidungen ist. Und dieses Monopol autoritärer Entscheidungen, fallweise auch ohne die Auswahl aus den Eliten ist es, was die extreme Rechte auszeichnet. Daher gibt es keinen Antagonismus zwischen der liberalen Demokratie und der extremen Rechten. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass sie durch Wahlen an die Macht kommt. „Was die liberale Demokratie am Rande und lustlos erlaubt, die extreme Rechte aber offen ablehnt, sind andere Formen der Demokratisierung von unten, wie Gewerkschaften, Stadtteilversammlungen, ländliche Organisationen, kollektive Aktionen. In diesem Sinne sind die extremen Rechten antidemokratisch“, sagt García Linera. Sie erlauben nur, dass man aus ihren Reihen jemanden wählt, der regiert, lehnen aber andere Formen der Teilhabe und der Demokratisierung des Reichtums ab, die sie als Beleidigung ansehen, als Absurdität, die man mit der Ordnungsmacht und Zwangsdisziplinierung bekämpfen muss. Ist das Faschismus? „Schwer zu sagen,“ meint García Linera. Es gebe dazu eine akademische Debatte, aber die politischen Auswirkungen sind eher klein. Die Generation über 60 in Lateinamerika erinnere sich vielleicht noch an die faschistischen Militärdiktaturen, aber der jüngeren Generation sage es nicht viel, vom Faschismus zu reden. Er ist nicht gegen diese Debatte, sieht sie aber nicht als sehr nützlich an. Der soziale Erfolg oder die Ablehnung von Forderungen der extremen Rechten hänge schließlich nicht von alten Symbolen ab, sondern von der Antwort auf die sozialen Ängste. Problematisch sei es indessen, sie als faschistisch zu bezeichnen ohne zu bedenken, auf welche kollektiven Forderungen sie antworten oder vor dem Hintergrund welchen Scheiterns sie auftauchen. Bevor man ihnen Etikette umhängt, sei es besser über die sozialen Bedingungen für ihr Auftauchen nachzudenken. Persönlich spricht er lieber von der extremen oder der autoritären Rechten.


Ob man Milei einen Faschisten nennen soll? Zuerst solle man sich fragen, warum er gewonnen hat, wer ihn gewählt hat, als Reaktion auf welche Sorgen. Ihm ein Etikett umzuhängen, erlaubt moralische Ablehnung, aber es hilft nicht, die Realität zu verstehen oder zu verändern. Wenn die Antwort ist, dass Milei sich auf die Ängste einer verarmten Gesellschaft beruft, dann ist klar, dass Armut das Thema ist. Darauf muss der p rogresismo und die Linke eine Antwort geben und die extreme Rechte oder (wenn man so will) den Faschismus stoppen. Man muss die Probleme erkennen, mit denen die extreme Rechte in der Gesellschaft Anklang findet, denn ihr Anwachsen ist auch ein Symptom für das Scheitern der Linken und der Progressiven. Sie tauchen nicht aus dem Nichts auf, nachdem die Progressiven nicht sahen, nicht bereit waren, konnten oder wollten, die Frage der Klasse, der prekären Jugend, die Bedeutung der Armut, der Wirtschaft zu verstehen und über jene des Rechts auf Identität zu stellen. Man müsse verstehen, dass das Grundproblem die Wirtschaft ist, die Inflation, „das Geld, das dir in der Tasche schmilzt“. Man dürfe nicht vergessen, dass auch die Identität eine Dimension der wirtschaftlichen und politischen Macht hat, die sie an Unterordnung bindet. In Bolivien eroberte beispielsweise die indigene Identität Anerkennung zunächst durch die Übernahme der politischen Macht und dann schrittweise wirtschaftlicher Macht innerhalb der Gesellschaft.


Schlüsselfrage Informalität

Das grundlegende soziale Verhältnis der modernen Welt ist Geld, entfremdet, aber immer noch fundamental, das, wenn es dir wegschmilzt, auch deinen Glauben und deine Treue auflöst. Das ist das Problem, das die Linke zuerst lösen muss. Dann komme der Rest, befindet García Linera. Wir befinden uns in einer historischen Zeit, wo der p rogresismo auftaucht und die extreme Rechte. Die klassische, neoliberale, universalistische Rechte verfällt, und zwar wegen der Wirtschaft. Aber die Gesellschaft, deren wirtschaftliche Probleme die alte Linke der 50er und 60er Jahre und der p rogresismo der ersten Welle (im neuen Jahrtausend) anging, hat sich verändert. Die Linke hat sich immer um die formale, entlohnte, arbeitende Klasse gekümmert. Heute ist die informelle arbeitende Klasse für den p rogresismo eine große Unbekannte. Die Welt der Informalität, die man auch unter dem Begriff „la economía popular“ versteht, ist für die Linke ein schwarzes Loch. Dafür hat sie keine produktiven Vorschläge. In Lateinamerika umfasst dieser Sektor aber bis zu 60 Prozent der Bevölkerung. Und es handelt sich nicht um eine vorübergehende Erscheinung, die bald in der formellen Wirtschaft aufgehen würde. Nein, die gesellschaftliche Zukunft wird eine mit Informalität sein, mit diesen kleinen Arbeitern, diesen kleinen Bauern, diesen kleinen Unternehmern, verbunden durch familiäre Bindungen und kuriose lokale und regionale Wurzeln, wo die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit nicht so klar sind wie im formellen Unternehmen. Diese Welt wird noch in den nächsten 50 Jahren existieren und sie schließt in Lateinamerika die Mehrheit der Bevölkerung ein. „Was sagst Du diesen Menschen? In welcher Weise kümmerst du dich um ihr Leben, ihr Einkommen, ihre Lebensbedingungen, ihren Konsum? Das sind die Schlüsselthemen für die Progressiven und die zeitgenössische Linke in Lateinamerika. Was bedeutet das? Mit welchen Werkzeugen macht man das?“, fragt der Politiker und Soziologe. Natürlich mit Enteignungen, Nationalisierungen, mit Umverteilung des Reichtums, Erweiterung der Rechte. Das sind die Werkzeuge, aber das Ziel muss die Verbesserung der Lebensbedingungen dieser 80 Prozent der Bevölkerung sein, gewerkschaftlich organisiert oder nicht, formell oder informell, die „lo popular“ in Lateinamerika darstellen, meint García Linera. Und das außerdem mit einer größeren Beteiligung an den Entscheidungen. Die Leute wollen gehört werden, wollen teilnehmen. Das vierte Thema ist die Umwelt, Umweltgerechtigkeit mit sozialer und ökonomischer Gerechtigkeit, nie getrennt und nie vorweg.


Kolumbien als Vorreiter

Zur Frage nach dem Kontext und der Rolle des Gastlandes, Kolumbien, sagt García Linera: „Wenn man sich die Vorgeschichte Kolumbiens ansieht, wo wenigstens zwei Generationen von Aktivisten und Kämpfern für soziale Gerechtigkeit von Ermordung bedroht waren und ins Exil gehen mussten, wo Formen legaler kollektiver Aktionen vom Paramilitarismus in die Enge getrieben wurden und wo die USA versuchten, nicht nur aus dem Staat eine Militärbasis zu machen, sondern das Land auch kulturell zu vereinnahmen, ist es nur heroisch zu nennen, dass ein Kandidat der Linken hier an die Regierung gewählt worden ist. Und klar, wenn man das machtvolle Sediment des ‚tiefen Kolumbien‘ (colombia profunda) erfühlt, das in den Gemeinschaften und den Stadtteilen keimt, versteht man die soziale Explosion von 2021 und das „Warum“ dieses Wahlsiegs.“ Dass ihm kollektive soziale Mobilisierungen vorausgingen, habe einen gesellschaftlichen Raum für Reformen geschaffen. Daher sei die Regierung von Präsident Gustavo Petro heute die radikalste dieser zweiten progressistischen Welle auf dem Halbkontinent.


Zwei Aktionen machen die Regierung von Gustavo Petro zur Vorhut: Eine Steuerreform mit progressivem Charakter, womit jene, die mehr haben auch höhere Steuern bezahlen. In der Mehrzahl der lateinamerikanischen Staaten ist die wichtigste Steuer die Mehrwertsteuer, die eine höhere Last für die darstellt, die am wenigsten haben. An zweiter Stelle steht die Energiewende. Kein Land auf der Welt, schon gar nicht die, die sie am meisten kontaminieren – die USA, Europa, China – hat über Nacht die fossilen Brennstoffe aufgegeben. Man hat sich vielmehr Jahrzehnte zum Übergang vorgenommen und will immer noch einige Jahre lang mit einer Rekordproduktion dieser Brennstoffe leben. Kolumbien gehört zusammen mit Dänemark, Spanien und Irland zu den einzigen Ländern auf der Welt, die neue Exploration von Erdöl verbieten. Im Fall Kolumbiens ist es besonders relevant, weil Erdölexporte mehr als die Hälfte des Exportvolumens ausmachen, was diese Entscheidung zu einer sehr kühnen und weltweit sehr fortschrittlichen macht. „Es handelt sich um Reformen, die dem Leben verpflichtet sind und die den Weg ausleuchten, den andere Progressive über kurz oder lang auch gehen müssen.“ Man dürfe jedoch die kontinuierliche Verbesserung der Einkommen der kolumbianischen Unterschichten nicht aus dem Blick verlieren, weil jede Klimagerechtigkeit ohne soziale Gerechtigkeit nichts als liberale Umwelttümelei sei. Das verlange eine millimetergenaue Abstimmung zwischen dem, was die Regierung in den nächsten Jahren an Einkommen verlieren wird, und der Erschließung neuer Einkommen, sei es durch andere Exporte, höhere Steuern für die Reichen und spürbaren Verbesserungen der Lebensbedingungen für die Mehrheit des Volkes.


Was die Rolle Lateinamerikas und der Karibik in der Welt betrifft, meint García Linera: Am Beginn des 21. Jahrhunderts habe Lateinamerika den ersten Gongschlag für die Erschöpfung des neoliberalen Zyklus gegeben. Hier lag der Beginn der Suche nach einer hybriden Mischung aus Protektionismus und Freihandel. „Heute ist die Welt im Wandel hin zu einem Regime der Akkumulation und der Legitimation, das den neoliberalen Globalismus ablöst – trotz der melancholischen Rückfälle in einen Paleo-Neoliberalismus wie in Brasilien unter Bolsonaro und in Argentinien unter Milei.“ Trotzdem sei der Halbkontinent heute etwas zu erschöpft. Es scheint, als müsse der postneoliberale Übergang erst im globalen Maßstab voranschreiten, damit Lateinamerika seine Kräfte erneuert, um den ursprünglichen Antrieb wieder aufzunehmen. Die Möglichkeit postneoliberaler Strukturreformen der zweiten Generation – oder noch radikalerer – die die transformatorische Kraft auf dem Kontinent wiedererlangen, wird auf größeren Wandel in der Welt warten müssen, und natürlich auf eine Welle kollektiver Aktionen von unten, die das Feld der denkbaren und der möglichen Transformationen verändern. Soweit dies nicht geschieht, würde Lateinamerika ein Szenario von Pendelschläge zwischen kurzfristigen Siegen des Volkes und kurzfristigen Siegen der Konservativen, zwischen kurzfristigen Niederlagen des Volkes und solcher der Oligarchien sein.


Das ursprüngliche Interview führte die kolumbianische Politologin, Feministin und Aktivistin Tamara Ospina Posse. Übersetzung und Zusammenfassung: Robert Lessmann

Zahlreiche Beiträge zur politischen Situation in Bolivien, dem Heimatland von García Linera, finden sich weiter unten in diesem Blog.

von © Robert Lessmann Dr 07 Jan., 2024

Es war Anfang des letzten Jahrzehnts in der Wiener UNO City. Juri Fedotow, ehemaliger Vizeaußenminister Russlands und diplomatisches Schwergewicht, war unlängst Chef des Drogenkontrollprogramms der Vereinten Nationen (UNODC – United Nations Office on Drugs and Crime) geworden, ein Posten, den er von 2010 bis 2020 innehatte. Als solcher leitete er höchstpersönlich eine Pressekonferenz, auf der eine internationale Initiative zur Drogenbekämpfung in Afghanistan vorgestellt wurde. Mit 123.000 Hektar war das Land am Hindukusch zum mit Abstand größten Produzenten geworden. Mit einem ausgewogenen Ansatz („balanced approach“) sollten unter anderem die Bauern vom Schlafmohn weg zur Produktion legaler Alternativen geleitet werden. Vielversprechend war vor allem die Beteiligung der Nachbarländer an Kontrollmaßnahmen und Fahndung, denn Afghanistan ist ein Binnenland. Der Weg auf die lukrativen Absatzmärkte führt über die Grenzen. Von den wichtigsten Anbauregionen im Süden (Provinzen Helmand und Kandahar) wurde der Export zu etwa zwei Dritteln nach Westen in den Iran und die Türkei abgewickelt, und dann über die Balkanroute nach Europa. Zu etwa einem Drittel  ging die illegale Ware über Hunderte von Kilometern auf einem prekären, gleichwohl aber übersichtlichen Straßensystem (Dschungel gibt es keinen) und über eine Handvoll Grenzübergänge in die ehemaligen Sowjetrepubliken Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan nach Norden. Ehemalige Ostblockländer – allen voran Russland – waren inzwischen ebenfalls zu wichtigen Absatzmärkten vor allem für minderwertige Ware („Kompott“) geworden. Kein Vergleich also zu südamerikanischen Kokainspediteuren, die mit Flugzeugen, Hubschraubern und U-Booten operieren. Doch nicht einmal dies zu unterbinden gelang: Beschlagnahmungen in Afghanistan gingen gegen Null und Korruption spielte eine wesentliche Rolle dabei.


Fundamentales Scheitern

Zurück zur Pressekonferenz, an deren Ende niemand eine Frage stellte. Um das peinliche Schweigen zu durchbrechen, fragte ich, wer sich denn mit welchen Summen der Initiative angeschlossen habe - und vergrößerte damit die Verlegenheit. Bislang hatte die neue Strategie nämlich noch keinerlei zählbare Unterstützung verbuchen können.


Dass die westliche Sicherheitskooperation fundamental scheitern würde, hatte man im Drogenbereich lange vor der „überraschenden“ Machtübernahme durch die Taliban im Sommer 2021 sehen können. Als Juri Fedotow den Chefsessel des UNODC übernahm, war Afghanistan mit 123.000 Hektar bereits der mit Abstand wichtigste Schlafmohnproduzent. Und während die legale (Land-) Wirtschaft keinerlei Dynamik­ entfaltete, kletterte der Anbau weiter von einem Rekord zum nächsten, gebremst nur durch Marktsättigung und gelegentliche Missernten, etwa durch Trockenheit, wie in den Jahren nach dem Allzeithoch von 2017.


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Schlafmohnproduktion in Afghanistan (Hektar in ausgewählten Jahren)

1995  2000  2001 2002    2010     2017    2020   2022  2023

55.759 82.171 7.606  74.100   123.000   328.000  224.000 233.000 10.800

Quelle: UNODC: World Drug Report, Vienna, verschiedene Jahrgänge und UNODC: Afghanistan Opium survey 2023.

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Heute wirbt das UNODC abermals um Unterstützung für Afghanistans Bauern, um den drogenpolitischen Erfolg zu stabilisieren. Beides hat freilich nur geringe Aussichten auf Erfolg, denn das Emirat der Taliban ist Schlusslicht bei allen Menschenrechtsstandards, bekanntermaßen insbesondere was die Lage der Frauen betrifft, und wird von Gebern gemieden. Ihr Dekret „Prohibition of Poppy Cultivation and All Types of Narcotics“ vom 3. April 2022 umfasst nicht nur Anbau, sondern auch Konsum, Transport, Verarbeitung, Handel, Import und Export – und zwar aller Drogen. Am 8. März 2023 wurde es durch ein explizites Cannabis-Verbot noch einmal bekräftigt. Ein solches Verbot galt zwar auch schon vorher unter westlicher Aufsicht. Offenbar aber verfügten die Machthaber damals über geringe Autorität, Legitimität oder politischen Willen. Jedenfalls sind nach dem Dekret der Taliban die Anbauflächen von 233.000 Hektar (2022) auf 10.800 Hektar (2023) zurückgegangen. Umgerechnet in Opium entspricht das einem Rückgang von 6.200 Tonnen auf 333 Tonnen, in Heroin rein rechnerisch von 350-480 Tonnen auf 24-38 Tonnen (bei einer durchschnittlichen Reinheit der Exportware von 50-70 Prozent).


Für die leidgeprüften Menschen und die kollabierte Volkswirtschaft bedeutet das eine riesige Herausforderung. Schon vor der abermaligen Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 war die Hälfte der Bevölkerung auf externe Hilfe angewiesen, und die Nahrungsmittelimporte waren genauso hoch wie die Eigenproduktion. Doch für diese Importe fehlt nun das Geld. Afghanistans Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ist während der Herrschaft der Taliban gesunken: Um 20,7 Prozent im Jahr 2021 und um weitere 3,6 Prozent in 2022. Fast 80 Prozent der Bevölkerung leben von der Landwirtschaft, die in den letzten Jahren auch noch von Wasserknappheit betroffen war. Man durchlebt dort gerade einen weiteren Hungerwinter. Die Vereinten Nationen schätzen, dass der Rückgang der Schlafmohnproduktion für die bäuerlichen Produzenten Einkommenseinbußen von 1.360 Mio. US Dollar (USD – 2022) auf nunmehr 110 Mio. USD (2023) bedeutet. Eine schnelle Umstellung auf Weizen wäre problemlos möglich, für die defizitäre Nahrungsmittelversorgung wichtig und lässt sich in der Tat auch vielfach beobachten, brächte aber Einkommenseinbußen von rund 1 Mrd. USD mit sich. Im Jahr 2022 machten die Einkommen aus dem Opiumanbau 29 Prozent des gesamten Agrarsektors aus. Für die krisengeschüttelte afghanische Volkswirtschaft lagen die Exporterlöse des Opiumsektors stets über denen der legalen Exporte von Gütern und Dienstleistungen. Im Jahr 2021 betrugen sie schätzungsweise zwischen 1,4-2,7 Mrd. USD, was 9-14 Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukts entsprach, heute liegen sie bei 190-260 Mio. USD. Ob sich diese Einbußen auf Dauer verkraften lassen? Bei einer Gesamtbevölkerung von rund 40 Millionen Menschen stellt die Abschiebung von 4,4 Millionen aus Pakistan in ihr Heimatland eine zusätzliche Herausforderung dar. Und nun will auch der Iran afghanische Flüchtlinge loswerden. Das Opiumgeschäft war Afghanistans wichtigster und sicherster Wirtschaftszweig und fungierte so auch als Kreditsicherheit. Die Vereinten Nationen berichten, dass Bauern nun eine im Rahmen der „Alternativen Entwicklung“ geplante Umstellung auf einträglichere Produkte als Weizen, wie zum Beispiel Granatapfel, Mandeln, Pistazien und Asant, mangels Liquidität nicht mehr schaffen, denn die erfordert Investitionen und Geduld.


Unklare Konsequenzen

Bei der verbleibenden Schlafmohnproduktion im Land, vor allem in der Provinz Kandahar, lässt sich ein Trend zu kleineren, versteckten Flächen beobachten. In den vergangenen Jahren wurden 40-60 Prozent der Ernte in Form von Rohopium exportiert. Über die Qualität der Weiterverarbeitung zu Heroin im Lande selbst ist wenig bekannt. Sie dürfte stark variieren. Während die Herstellung von Heroin in Afghanistan allem Anschein nach zurückgeht, deutet vieles darauf hin, dass Händler nun Lagerbestände verkaufen – und die dürften nach Ansicht des UNODC nach mehreren aufeinanderfolgenden Rekordernten beträchtlich sein. Die allermeisten Bauern verkaufen ihre Ernte aber direkt und nur wenige verfügen über solche Bestände. Die Verknappung dürfte also nicht zuletzt größeren Produzenten und Drogenhändlern zugute kommen. In der Tat waren die farmgate-Preise für ein Kilogramm getrocknetes Opium im August 2023 mit 408 USD fünfmal höher als zwei Jahre vor der Machtübernahme durch die Taliban, als die Preise aufgrund immer neuer Rekordernten relativ niedrig waren.


Um die Auswirkungen auf den internationalen Drogenmärkten abzuschätzen sei es noch zu früh, sagt das UNODC. Normalerweise braucht es ein bis zwei Jahre, bis die Opiate zu den Konsumentenmärkten gelangen. Und auf dem Weg dorthin, dürfte es reichhaltige Lagerbestände geben. Theoretisch wäre eine Angebotsverknappung, ein Preisanstieg und sinkende Reinheit der Ware denkbar. Auch eine Hinwendung der Konsumenten zu billigeren und potenteren synthetischen Ersatzdrogen wie Fentalyl wäre zu befürchten. Fentanyl ist 100 Mal potenter als Morphin und wird häufig dem Heroin auch beigemischt. Fentanyl-Überdosen sind heute die häufigste Todesursache für US-Amerikaner zwischen 18 und 45 Jahren. Europa ist davon weit entfernt, doch Probleme mit Fentanyl nehmen auch hier zu.


Schließlich könnten mittelfristig andere Anbaugebiete die Lücke füllen. Bevor afghanische Mudschaheddin-Gruppen in den 1980er Jahren Opium als probates Produkt zur Finanzierung ihres Kampfes gegen die sowjetischen Besatzer entdeckten – und der Westen dies augenzwinkernd tolerierte – hatte der Anbau von Schlafmohn dort keine Rolle gespielt. Als die Taliban 1996 zum ersten Mal in Kabul einmarschierten erzeugte Afghanistan bereits zwei Drittel des Weltopiums. Beim vormaligen Marktführer Myanmar bröckelt heute die Herrschaft der Militärdiktatur. So erfreulich das ist, ein Machtvakuum würde ideale Bedingungen für eine mögliche Rückkehr der Drogenwirtschaft zu alter Größe dort schaffen. Myanmar ist schon heute wieder Nummer eins bei der Opiumproduktion. Und in Afghanistan selbst expandiert derweil die Produktion von Metamphetamin.


Wie dem auch sei: Ein erstes Anbauverbot durch die Taliban in den Jahren 2000/2001 hatte auf den Konsumentenmärkten keine Auswirkungen. Damals hatte man vermutet, die Taliban würden diese Maßnahme setzen, um auf der Grundlage voller Lagerbestände die Preise zu stabilisieren. Ob es ernst gemeint war, konnte man nicht mehr feststellen, denn Ende 2001 waren die Taliban durch die Operation „Enduring Freedom“ vertrieben und die Regierung Hamid Karzai auf der Petersberger Konferenz installiert. Der Opiumanbau war damals tatsächlich von 82.171 auf 7.606 Hektar gefallen. Aber 2002 hatte er bereits wieder alte Größenordnungen erreicht. Schlafmohn ist eine einjährige Pflanze. Zwischen Aussaat und Ernte liegen nur einige Monate. Weshalb also sollten die Taliban den dürren Halm kappen, an dem die Volkswirtschaft noch hängt? Aus religiösen Gründen, sagen sie heute wie damals. Vielleicht ist es einfach ein Versuch, mächtige Lokalfürsten und Warlords an die Kandare zu nehmen, die vom illegalen Geschäft profitier(t)en. Eine Frist erlaubte im letzten Jahr noch den Verkauf der Ernte 2022. Wie auch immer: Die Entscheidung ist problemlos reversibel.

von © Robert Lessmann Dr 26 Nov., 2023

Mit einer unerwartet deutlichen Mehrheit von 55,7 Prozent gewann der politische Newcomer Javier Milei die Stichwahl um das Präsidentenamt. Wenn der selbsternannte „Anarchokapitalist“ am 10. Dezember die Amtsgeschäfte in der Casa Rosada in Buenos Aires übernimmt, so ist zu befürchten, wird das Land am Rio de la Plata neben der wirtschaftlichen Dauerkrise noch den Höhepunkt einer politischen Krise erdulden müssen. Lateinamerikanische Bündnis- und Integrationssysteme werden wohl geschwächt.


Buenos Aires. Martín, ein cartonero , der bereits im Morgengrauen unterwegs ist, sammelt auf seinem Karren Papier und Kartons. ‚Nein‘, sagt er, Hoffnung habe er keine, dass es nach den Wahlen besser wird. Aber schlechter könne es ja auch nicht mehr werden.“ So hatte ich eine Reportage vor den letzten Wahlen 2019 begonnen. Martín hat sich leider getäuscht. Armut und Misere haben seither weiter zugenommen. Ich brauche hier eigentlich nur die Ziffern zu korrigieren: Die Inflation ist von damals 50 auf heute 143 Prozent geklettert, die offizielle Arbeitslosigkeit ist von damals 10 Prozent leicht gesunken, dafür liegt die verdeckte bei über 40 Prozent, und über 40 Prozent der Menschen gelten als arm. Der gemäßigt linke Präsident Alberto Fernández, Wahlsieger von 2019, konnte praktisch keines seiner Versprechen einlösen und trat aktuell gar nicht erst wieder an. Sein Wirtschaftsminister, Sergio Massa, ging mit dem Manko ins Rennen, dass er mit dem Niedergang identifiziert wird. Trotzdem war er überraschend als Sieger aus dem ersten Wahlgang hervorgegangen, konnte dann aber nicht mehr zulegen.


Argentinien in der Dauerkrise

„Wir rechnen in Dollars“, sagt Antonia, die eine kleine Reiseagentur betreibt. „Alles andere wäre verrückt bei dieser Inflation.“ Ein Dauerthema im Heimatland des Revolutionärs Ernesto „Che“ Guevara, der 1928 in der Industriestadt Rosario geboren wurde. Als der aufwuchs, zählte Argentinien zu den reichsten Ländern der Welt. Seine landwirtschaftlichen Exporte waren besonders in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gefragt. Eine Diversifizierung der Wirtschaft blieb aber aus. Die Militärdiktatur (1976-83) häufte einen Schuldenberg an. Aus der Schuldenfalle kam man nie mehr heraus. Als in den 1980er Jahren die „Verschuldungskrise der Dritten Welt“ das internationale Bankensystem an den Rand des Zusammenbruchs brachte, gehörte Argentinien zusammen mit Brasilien zu den meistverschuldeten Ländern. Die Auslandsguthaben reicher Argentinier waren schon damals höher als die Rekordverschuldung des Landes. Daran hat sich im Wesentlichen nichts geändert und so taumelt Argentinien von einer Krise in die nächste. Das neue Jahrtausend begann bereits mit dem Zusammenbruch des Finanzsystems. Unter Néstor Kirchner folgten ab 2003 auf der Grundlage hoher Rohstoffpreise stabile Jahre mit Lohnerhöhungen, Sozialprogrammen und Politiken der Importsubstitution. Dem Peronisten gelang 2005 auch eine spektakuläre Umschuldung eines Teils der Verbindlichkeiten, wobei Anleihegläubiger auf rund zwei Drittel ihrer Forderungen verzichten mussten. Die Auslandschulden hatten damals ein Rekordniveau von fast 200 Milliarden US Dollar erreicht. Heute sind sie mehr als doppelt so hoch. Unter seiner Frau Cristina kam es 2010 zu einer Neuauflage dieser Umschuldung in kleinerem Maßstab. Doch ab 2011 wurden bei sinkenden Exporteinnahmen die Budget- und Handelsbilanzdefizite wieder chronisch und 2014 schrammte Argentinien abermals knapp an der Staatspleite vorbei.


Bis auf wenige Ausnahmen regierten die linkspopulistischen Peronisten, mit einem breiten Spektrum durchaus wandelbarer Positionen bis hin zum neoliberalen Carlos Menem (1989-1999). Ab Dezember 2015 war der konservative Unternehmer Mauricio Macri Staatspräsident. Unter ihm fielen Devisenkontrollen und andere Regulierungen, mit denen Steuerhinterziehung und Kapitalflucht verhindert werden sollten. Seine „boys“ sprachen dieselbe Sprache, trugen die gleichen Anzüge und hatten dieselben Universitäten besucht wie die Manager der Finanzzentren in Washington und London. Der Internationale Währungsfonds gewährte neue Kredite, 2018 in der Rekordhöhe von 50 Milliarden US Dollar. Mit fresh money sollte die Konjunktur Fahrt aufnehmen, argentinisches Auslandskapital zurück gelockt und im Land investiert werden. Doch die Erwartungen auf einen Investitionsboom erfüllten sich nicht. Vielmehr machten Zinserhöhungen in den USA Auslandsanlagen noch attraktiver und sinkende Rohstoffpreise plagen Argentinien wie andere Schwellenländer. Wieder setzte eine Abwärtsspirale ein. Die Staatsverschuldung liegt bei 85 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und auch wenn Argentinien regelmäßig seine Verpflichtungen nicht erfüllt (oder erfüllen kann) ist es für die Finanzwelt too big to fail. Die Verschuldungsspirale dürfte sich also fortsetzen. Nachdem die Bevölkerung auch von den Peronisten enttäuscht war, hatte man bereits 2019 befürchtet, dass die extreme Rechte zulegen könnte. Doch setzte sich der gemäßigt linke Peronist Alberto Fernández durch. Der recht unorganisierten extremen Rechten fehlten damals die konservativen Steigbügelhalter. Als „mugre“ – Dreck – bezeichnete mein Taxifahrer mit deutlich italienischem Akzent die bolivianischen Arbeitsmigranten, deren Hütten vor den Toren von Buenos Aires den Weg zum Flughafen säumen: „Ich hasse sie!“ In der Verzweiflung hat die Suche nach Sündenböcken auch im Einwandererland Argentinien Konjunktur.


Kettensägenpolitik

Nachdem der im ersten Wahlgang zweitplatzierte Javier Milei das Mitte-Rechts-Bündnis Juntos por el Cambio (JxC) deutlich hinter sich gelassen hatte, sprachen dessen Kandidatin Patricia Bullrich und Expräsident Mauricio Macri ihre Unterstützung für den politischen Newcomer aus, dem jedwede Regierungserfahrung fehlt. Diese Stimmen aus dem konservativen Milieu dürften mindestens ein Viertel der insgesamt 55,7 Prozent ausmachen und entscheidend gewesen sein. Schon vorher, so sehen es viele Beobachter, räumte das konservative Establishment Milei ungewohnt breiten medialen Raum ein, um den politischen Diskurs nach rechts zu verschieben. (Ein Phänomen, das man auch diesseits des Atlantiks zum Überdruss kennt und vor dem man nicht genug warnen kann.)


Ob ihre Rechnung nun aufgeht und sie den Chaoten einhegen können? Wenn ja, wird das Ergebnis ein radikaler Neoliberalismus ohne soziale Abfederung sein, wie er bereits in den 1990er Jahren in Regierungskollaps und Staatsbankrott mündete. Wenn nicht, dann ist es ein Kopfsprung ins Ungewisse. Milei ist erst vor fünf Jahren mit ultralibertären Slogans und Provokationen hervorgetreten. Seine „Bewegung“ verfügt kaum über Struktur und Fachpersonal, aber über Kontakte zur rechtsradikalen spanischen VOX. Wollte er ursprünglich „alles privatisieren“, die Bürokratie und öffentliche Ausgaben „mit der Kettensäge bescheiden“, den Dollar einführen und die „Zentralbank in die Luft sprengen“, so hat er sich in den Wochen vor der Stichwahl eine gewisse verbale Mäßigung auferlegt. Ungeachtet dessen reiht er sich unter die ultrarechten, nationalistischen Marktschreier à la Trump und Bolsonaro ein, die den frustrierten Menschen den Lautsprecher machen ohne Lösungen anzubieten. So beleidigte der Katholik Milei den Landsmann, Papst Franziskus. Lula da Silva, den Präsidenten des wichtigsten Handelspartners, Brasilien, hat er als „Kommunist“ und als „korrupt“ bezeichnet. Auch der zweitwichtigste Handelspartner, China, ist für Milei „kommunistisch“ und unberührbar. Da wird er in Kürze den wirtschaftspolitischen Realitäten ins Augen blicken müssen.


Aber die Befürchtung ist, dass er den Peso absichtlich weiter absacken lassen könnte, um „zur Rettung“, wie angekündigt, den Dollar einzuführen. Ganz sicher sind Wissenschaft und Kultur, Arbeits-, Frauen-, Menschen- und Minderheitenrechte sowie der Umweltschutz in Gefahr. Last but not least werden der Staatsterror und die Menschenrechtsverbrechen der argentinischen Militärdiktatur von Milei und seinen Gefolgsleuten als „gewisse Exzesse“ relativiert oder gar geleugnet. Die Medien, so kündigte Milei nach seinem Wahlsieg an, sollen als "Propagandainstrumente“ sogleich privatisiert werden. Den menschengemachten Klimawandel leugnet er. Als Partner für die Erreichung der Klimaziele dürfte Argentinien ausscheiden. Seine erste Auslandsreise will Milei folgerichtig nicht wie üblich ins Nachbarland Brasilien machen, sondern bereits vor der Amtseinführung in die USA. Das verheißt nichts Gutes für den gemeinsamen Wirtschaftsraum MERCOSUR an sich - und als potentieller Partner für Europa. Und auch nicht für die links regierten Nachbarländer Bolivien und Chile. Eine Lithiumachse der drei Länder dürfte damit unwahrscheinlicher werden. Besonders mit Chile gab es entlang der 4.000 Kilometer langen gemeinsamen Grenze in der Vergangenheit immer wieder Konflikte.


Politisches Erdbeben

Alberto Fernández rief zu einer gründlichen Aufarbeitung des Wahldebakels auf. Das Lager der klassisch Konservativen ist bereits gespalten, denn ein Teil von ihnen war nicht bereit, das politische Abenteuer der Macri- und Bullrich-Fraktion mitzumachen, darunter Horacio Rodríguez Larreta, der scheidende Bürgermeister von Buenos Aires, wo nahezu ein Drittel der 45 Millionen Argentinierinnen und Argentinier leben.


Milei hat im Parlament keine Mehrheit. Mit 39 Abgeordneten verfügt er nur über die drittstärkste Fraktion. Mehrheiten wird er sich zusammensuchen müssen oder per Dekret regieren, was seinem Naturell ohnehin besser entsprechen dürfte. In seinen Reden ist viel von Freiheit die Rede, aber nie von Demokratie. Ob Argentinien in die Unregierbarkeit taumelt? So oder so kann er mit starkem gewerkschaftlichem und zivilgesellschaftlichem Widerstand rechnen.

von © Robert Lessmann Dr 14 Nov., 2023

Zwei „Parteitage“, zwei Parlamentsfraktionen und – unausgesprochen – zwei Präsidentschaftskandidaten für die 2025 anstehenden Wahlen. Das ist das traurige Bild, das die MAS allen Aufrufen zur Einigkeit zum Trotz derzeit abgibt. Der innerparteiliche Streit paralysiert das Parlament. Die fragmentierte und inhaltsleere Rechtsopposition – einzelne ihrer Parteien sind ebenfalls gespalten – tritt so gut wie nicht in Erscheinung und braucht eigentlich nur abzuwarten. Der Streit innerhalb der Regierungspartei überlagert alles. Umfragen sehen die beiden MAS-Fraktionen derzeit, das heißt 22 Monate vor den Wahlen, bei jeweils etwa 20 Prozent der Stimmen. Das reicht für keines der Lager, würde aber im Fall ihrer Einigung der Opposition reichen. Ein solches Szenario liegt näher, als es vielleicht aussehen mag. Mehrfach wurden in der Vergangenheit unter tätiger Mithilfe ausländischer Vertretungen solche Bündnisse auch über ideologische und programmatische Differenzen hinweg geschmiedet, um progressive Regierungen zu verhindern. Man denke nur an die Megakoalition unter dem Exdiktator Hugo Banzer (1997-2001). Die Protagonisten der MAS-Spaltung scheint das freilich wenig zu kümmern.


Was ist die MAS?

Was steht auf dem Spiel? Die bolivianische Gesellschaft ist hochgradig organisiert und die MAS verstand sich in Abgrenzung zu den Altparteien als politisches Instrument der sozialen Bewegungen: MAS/IPSP – Movimiento al Socialismo/ Instrumento Pol ítico para la Soberanía de los Pueblos . Hervorgegangen ist sie in den 1990er Jahren aus den kampfstarken Gewerkschaften der Kokabauern, die sich gegen die von den Vereinigten Staaten forcierte Zwangsvernichtung ihrer Felder wehrten. Ihr wichtigster Anführer war Evo Morales. Mit der Participación Popular von 1994 bekamen die Gemeinden auf dem Lande erstmals eigenen Rechtsstatus und Budgethoheit. Bereits 1995 beschloss die 12. Nationalkonferenz der Kokabauern die Schaffung eines eigenen Instrumento Político. Man empfand es als unbefriedigend, auf den Listen kleiner Linksparteien zu kandidieren. Bei den ersten Wahlen zu den neuen Gemeindevertretungen gewannen im Jahr 1996 Mitglieder der Kokabauerngewerkschaft alle Rathäuser im Anbaugebiet des Chapare. Bei den Parlamentswahlen 1997 gewann die kleine Izquierda Unida vier Direktmandate. Alle im Chapare, darunter mit 69 Prozent für Evo Morales das landesweit stimmenstärkste. Zwei Gründungskongresse scheiterten, bevor die MAS/IPSP im Jahr 1999 offiziell registriert wurde. Ihr gelang die Verknüpfung der sozialen mit der indigenen Frage und der nationalen Souveränität. Im krisengeschüttelten Andenstaat entwickelte sich die MAS in enger Verbindung mit dem Gewerkschaftsbund COB und der Landarbeitergewerkschaft CSUTCB rasch zum Kristallisationspunkt der Unzufriedenen und stand daneben mit ihrer Galionsfigur Evo Morales für die Verteidigung der nationalen Souveränität gegen die von außen oktroyierte Politik der Kokavernichtung und sonstige Bevormundungen. Die MAS wurde auf demokratische und organische Weise von unten zu einer Art Einheitspartei der sozialen Bewegungen. Bei den Parlamentswahlen vom 30. Juni 2002 wurde die MAS auf Anhieb zweitstärkste Partei, nur ganz knapp hinter dem neoliberalen Wahlsieger „Goni“ Sánchez de Lozada (heute im US-Exil wegen Menschenrechtsverbrechen verurteilt) – und war mithin in der Stichwahl um das Präsidentenamt. „Goni“ gewann und ging mit der gemäßigten Linken eine Koalitionsregierung ein. Doch die Krise dauerte an. Nach drei Präsidentenrücktritten ging schließlich die MAS mit einem Erdrutschsieg aus den Wahlen vom 18. Dezember 2005 hervor. Noch spektakulärer als deren absolute Mehrheit war der Absturz der Altparteien, von denen nur eine einzige noch den Sprung über die Dreiprozentklausel schaffte. Im Januar 2006 wurde Evo Morales als Präsident vereidigt. Vizepräsident wurde der Linksintellektuelle Álvaro García Linera.


Das kleine Land im Herzen des Halbkontinents wurde zum vielbeachteten Hoffnungsträger. Könnte die Entwicklung dort ein Vorbild sein? Nichts weniger als die „Neugründung Boliviens“ hatte man sich vorgenommen. Eine Regierung der sozialen Bewegungen wollte man sein. Bereits sechs Wochen nach Amtsantritt wurde ein Einberufungsgesetz zu einer verfassunggebenden Versammlung verabschiedet. Die neue Verfassung wurde dann 2009 erstmals durch eine Volksabstimmung angenommen. Bolivien wurde durch sie zum „plurinationalen Staat“. Soziale Rechte, Indígena-Rechte und die Rechte der Pachamama wurden darin festgeschrieben. Indigene Sprachen wurden auch Amtssprachen und die bunte Wiphala-Fahne gleichwertig neben die rot-gelb-grüne Nationalflagge gestellt. Die Nationalisierung der Kohlenwasserstoffressourcen vom 1. Mai 2006 spülte bei günstiger Konjunktur Devisen in die Staatskasse, die für eine Umverteilungs- und Sozialpolitik verwendet wurden. Die Armutsquote sank deutlich, die durchschnittliche Lebenserwartung stieg um Jahre. Ein bedeutender Teil der Unterschicht stieg in die untere Mittelschicht auf. Deren Binnennachfrage stabilisierte die Wirtschaft, auch als die Exporteinnahmen nach 2015 einbrachen. Grundlage war der Extraktivismus, insbesondere die Exporte von Erdgas. Grundlegende Strukturreformen unterblieben. Die Präsidentschaft von Morales war von einer Serie von Wahlen und Abstimmungen begleitet, was manche Beobachter als referenditis bezeichneten. Er hat sie alle mit absoluter Mehrheit gewonnen: eine bis dato in Bolivien unbekannte politische Stabilität.


Bis zum Februar 2016, als Morales durch ein Referendum den Artikel 168 der Verfassung ändern lassen wollte, der nur zwei Amtsperioden in Folge zulässt. Das Referendum ging knapp verloren. Morales ignorierte das Resultat und kandidierte 2019 erneut. Viele Bolivianerinnen und Bolivianer sahen sich nun durch ihn um das einmalige Demokratieerlebnis betrogen, das er ihnen zuvor beschert hatte. Die zersplitterte und inhaltsleere Opposition witterte Morgenluft.


Anfang vom Ende?

Trotz herber Verluste von etwa 14 Prozent gewann die MAS auch die Wahlen vom 20. Oktober 2019 mit deutlicher (rund 47 Prozent), aber nicht mehr mit absoluter Mehrheit. Die Frage war nun, ob sie zehn Prozentpunkte vor dem Zweitplatzierten liegen würde, was nötig ist, um eine Stichwahl zu vermeiden. Man fürchtete, die Opposition würde in diesem Fall geschlossen auftreten. Als am Wahlabend die Schnellauszählung angehalten wurde (nicht die amtliche), rief die Opposition: „Wahlbetrug!“. Büros der Wahlbehörde in verschiedenen Departements wurden angezündet. Ein vorschneller Bericht der OAS-Wahlbeobachter unterstützte diese Sicht. Proteste weiteten sich aus. Schließlich meuterte die Polizei und der Armeechef legte Morales den Rücktritt nahe. Am 10. November floh dieser zusammen mit dem Vizepräsidenten ins Exil nach Mexiko. Zwei Tage später füllte eine selbsternannte „Interimsregierung“ der politischen Rechten das Vakuum, an dessen Entstehung sie tatkräftig mitgearbeitet hatte. Das geschah unter Missachtung des vorgesehenen Prozederes, ohne ordentlich einberufene Sitzung und ohne Quorum. Abgeordnete der MAS, die im Parlament über eine Zweidrittelmehrheit verfügte, wurden am Betreten des Gebäudes gehindert. Einige junge MAS-Abgeordnete, darunter der nun amtierende Innenminister, versuchten es unter körperlichem Einsatz dennoch. Die junge Parlamentspräsidentin Eva Copa hielt das Fähnlein der MAS dann monatelang gegen die repressive de facto-Regierung hoch, sah sich aber zu Kompromissen gezwungen, was ihr später zum Vorwurf gemacht wurde.


Die „Interimsregierung“ Añez machte keine Anstalten, Neuwahlen abzuhalten, und war ein Desaster auf der ganzen Linie. Sie ist heute Gegenstand mehrerer Strafverfahren. Ihr Innenminister ist bereits wegen Korruption verurteilt – und zwar in den USA. Schließlich erkämpften die sozialen Bewegungen durch Straßenblockaden Neuwahlen, aus denen am 18. Oktober 2020 erneut die MAS mit 55 Prozent der Stimmen und fast 27 Prozentpunkten Vorsprung als Sieger hervorging. Morales hatte aus dem Exil die Spitzenkandidaten nominiert. Sein langjähriger Superminister für Wirtschaft und Finanzen, Luis Arce, wurde Präsident. Sein früherer Außenminister David Choquehuanca Vize. (Die Basis hätte Choquehuanca favorisiert, doch den hatte Morales Anfang 2017 abgesägt, weil er sich nach dem verlorenen Referendum von 2016 als Kandidat ins Spiel gebracht hatte.) Nach deren Amtsübernahme kehrte Morales im Triumphzug aus dem Exil zurück und blieb Parteichef. Als solcher versuchte er in gewohnter Manier, die Geschicke des Landes und seiner Regierung zu lenken. Das konnte nicht gutgehen. Schon die Regionalwahlen von Anfang 2021 wurden für die MAS zum Misserfolg. Stichwahlen wurden durch MAS-Dissidenten gewonnen, die Morales nicht genehm gewesen waren. Und Eva Copa, die keinen aussichtsreichen Platz für eine Kandidatur erhalten hatte, weil Morales ihr vorwarf, mit der Regierung Añez zusammengearbeitet zu haben, wurde auf der Liste einer anderen Partei mit einem Rekordergebnis zur Bürgermeisterin der zweitgrößten Stadt, El Alto, gewählt.


In dem Maße, wie die Kritik am Expräsidenten wuchs, der aus dem sicheren Exil heraus jene kritisiert hatte, die daheim für ihn den Kopf hinhielten, wurde Morales’ Kritik an „seiner“ Regierung immer direkter und schriller. Morales warf ihr einen Rechtsruck und Paktieren mit der Opposition vor, nachdem man sich auf ein Verfahren zur Volkszählung geeinigt hatte. Zwölf Abgeordnete wurden aus der Partei ausgeschlossen, jegliche Kritik als „Verrat“ diffamiert. Als sich der junge Innenminister Eduardo del Castillo (Bild) im Jänner 2022 „erdreistete“, Maximiliano Dávila zu verhaften, der unter Morales Chef der Spezialkräfte für den Kampf gegen den Drogenhandel gewesen war, nun aber von der DEA gesucht wurde und sich auf der Flucht nach Argentinien befand, wurde er neben Vizepräsident Choquehuanca und zusammen mit dem Justizminister zum Lieblingsfeind. Morales verlangte immer wieder deren Rücktritt. Man beschuldigte sich gegenseitig, mit dem Drogengeschäft unter einer Decke zu stecken. Als die MAS-Parlamentsfraktion mit der Opposition ein Amtsenthebungsverfahren gegen del Castillo durchsetzte, wurde er von Präsident Arce umgehend wieder berufen. Schließlich hatte er sich nicht nur aktiv gegen die Machtergreifung der Rechten gewehrt. Er hatte zusammen mit dem Justizminister auch dafür gesorgt, dass die maßgeblich Verantwortlichen vor Gericht gestellt wurden, darunter eine ganze Reihe hoher Militärs.


Spaltung um jeden Preis?

So spalteten sich die MAS-Fraktionen in Senat und Abgeordnetenkammer und Meinungsverschiedenheiten wurden auch mal mit den Fäusten ausgetragen. Gleiches gilt seit August dieses Jahres für die sozialen Bewegungen, wo es heute jeweils eine Fraktion von evistas beziehungsweise arcistas gibt, stets mit Alleinvertretungsanspruch. Ihre Kongresse führten teilweise zu Tumulten.


Am 3. und 4. Oktober fand ein Parteitag der MAS statt, der erneut Evo Morales zum Parteichef und Spitzenkandidaten für die Wahlen 2025 nominierte. Die Parteiführung hatte ihn in Llauca Ñ anberaumt, Morales’ Hochburg im Chapare. Vom Selbstausschluss von Präsident und Vizepräsident war dort die Rede. Der „lider indiscutible“, wie ihn seine Anhänger nennen, hatte bereits zwei Wochen vorher erklärt, dass er „auf Druck der Basis“ wieder kandidieren werde. Die regierungsnahen Teile der MAS und der sozialen Bewegungen wiederum hielten Mitte Oktober in El Alto, ein cabildo (Rat, kein Parteitag) ab, bei dem sie der Regierung von Präsident Arce ihre Unterstützung versicherten und ihm eine Liste von Forderungen übergaben. Der Parteitag von Llauca Ñ wurde für nichtig erklärt. Der Gewerkschaftsbund COB hatte bereits unmittelbar danach erklärt, dass er dessen Beschlüsse nicht anerkennen würde. Schon am 7. September hatte der „Einheitspakt“ der sozialen Bewegungen die Einladung dazu für nichtig erklärt. Inzwischen wurde er vom Obersten Wahlgerichtshof auch für ungültig erklärt, weil die Einladung nicht gemäß der Parteistatuten erfolgt sei.


Der ehemalige Vizepräsident Álvaro García Linera sagte in einem Interview, man solle die Regierung Arce arbeiten lassen und warnte vor „elektoralem Selbstmord“. Morales bezeichnete ihn daraufhin als „falschen Analytiker“, der sich die indigene Bewegung zunutze mache und als „neuen Feind“. Andere Analysten hatten schon vor einiger Zeit vorgeschlagen, dass die alte Garde das Feld einer neuen Generation überlassen solle, die 2019/20 vor Ort die Demokratie verteidigt hatte: Adriana Salvatierra, Eva Copa, Gabriela Montaño und Diego Pary sind Namen, die dabei fallen. Der Prominenteste von ihnen, Senatspräsident Andrónico Rodríguez, gilt als evista , ist aber stets eher zurückhaltend und ausgleichend aufgetreten. Auseinandersetzungen um seine Wiederwahl hatten wochenlang das Parlament blockiert – unter anderem die Verabschiedung des Budgets. Die arcistas hatten eine Gegenkandidatin nominiert, aus Gründen der Genderparität, wie es hieß. Nunmehr ist er mit den Stimmen der evistas und der Opposition wiedergewählt, wobei man als Gegenleistung eine Neun-Punkte-Agenda der Opposition angenommen hat. Schon vorher war das Parlament paralysiert, während draußen Bürgermeister die Verabschiedung ihres Budgets verlangten. Unter anderem blockierten Opposition und evistas Mitte September einen Gesetzesentwurf gegen sexuelle Gewalt, der als Reaktion auf den Missbrauchsskandal des verstorbenen Jesuiten Alfonso Pedrajas eingebracht worden war, der in seinen Aufzeichnugen dutzendfachen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen zugegeben hatte. Eva Copa sprach schon damals von einem golpe legislativo (einem parlamentarischen Putsch). Hoffnungsträger und Vorbilder sehen anders aus. Die Geschichte Boliviens und Lateinamerikas ist voll von fortschrittlichen Projekten, die durch caudillismo und Sektierertum gescheitert sind. Ob sich die Akteure ihrer Verantwortung vor der Gesellschaft und der Geschichte bewusst sind?

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von Robert Lessmann Dr 13 Nov., 2024


Was passiert mit den einstigen Hoffnungsmodellen Lateinamerikas? Kuba und Venezuela läuft die Bevölkerung davon. In Nicaragua herrscht Ortega wie ein abschreckender Diktator. Und in Bolivien arbeitet der erfolgreichste Präsident, den das Land je hatte, heute mit Nachdruck an der Zerstörung seines Erbes und seines Ansehens. Die Berichterstattung unserer Medien – sofern sie von diesen Ländern überhaupt berichten – goutiert Wirtschaftskrisen und die Glaubwürdigkeit von Wahlen. Selten geht es darum, wie es den Menschen geht. Die Solidaritätsbewegung, Freunde und Sympathisanten sehen konsterniert zu – und schweigen.


Tobias Lambert blickt aus linker Perspektive hinter die Kulissen Venezuelas, das mit seinem „bolivarianischen“ Ansatz im neuen Jahrtausend ganz Lateinamerika mitreißen wollte. Er bereist das Land seit mehr als 20 Jahren und berichtet darüber. Kenntnis- und detailreich rekapituliert er die Vorgeschichte und den politischen Prozess unter Hugo Chávez (im Bild auf der Klimakonferenz von Cochabamba, 2010) und danach, bespricht Wahlergebnisse und politische Trends auf der Linken wie auf der Rechten. An vielen Stellen vermisst man im Text regelmäßige Jahreszahlen, die helfen würden, in der Komplexität den roten Faden nicht zu verlieren. Eine Zeittafel wäre eine hilfreiche Ergänzung bei allen weiteren Auflagen.


Drei Linien treten in Lamberts Analyse als Erklärung hervor: erstens der fragile Extraktivismus. Man könnte auch sagen, ein auf die Einkommen aus dem Export nicht erneuerbarer Rohstoffe (Erdöl im konkreten Fall) gestützter politischer und gesellschaftlicher Voluntarismus. Man hat zwar immer gewusst: „hay que sembrar el petroleo“ (man muss die Öleinnahmen säen, die Wirtschaft diversifizieren), es aber nicht getan. Die Korruption im Land wurde durch den Exportboom noch gefördert. Mit sinkenden Weltmarktpreisen bracht die Krise aus.


Zweitens: Die zentrale Rolle einer charismatischen Führungsperson, auf die sich das Projekt stützt und ins Wanken gerät, wenn diese wegbricht. Je stärker das Modell wirtschaftlich und politisch unter Druck geriet, desto mehr reagierte es mit antidemokratischen und repressiven Praktiken, intransparenten Privatisierungen, Teilliberalisierungen unter Beibehaltung staatlicher Kontrollen, steuerfreien Importen von denen eine neue, sogenannte „Bolibourgeoisie“ profitierte. Vom Sozialismus des 21. Jahrhunderts ist nur gelegentlich noch die Rede.


Und drittens die unverbrüchliche Feindschaft der alten Eliten, der nationalen wie der internationalen. In diesem Zusammenhang wird in Lamberts Buch deutlich, wie desolat und zerstritten die venezolanische Opposition zumeist war (und ist), und wie sie trotzdem von Washington und seinen Verbündeten unterstützt wird, egal wie chaotisch sie daherkommt. Man denke nur an die Anerkennung der „Präsidentschaft“ von Juan Guaidó. Nebenbei wirft das auch ein Schlaglicht auf viel kritisierte Allianzen mit Schurkenstaaten wie dem Iran oder Weißrussland. Mit wem, so könnte man sich in europäischen Hauptstädten fragen, sollte ein Präsident denn Beziehungen anknüpfen, auf den Washington ein millionenschweres Kopfgeld aussetzt?


Das Buch behandelt zuletzt sogar noch das umstrittene Wahlergebnis von 2024. Regierung und Opposition reklamieren den Wahlsieg für sich. Washington und seine Verbündeten glauben der Opposition. Beide Seiten behaupten, dass sie ihn dokumentieren können. Wer es definitiv und lückenlos könnte, wäre die Regierung Maduro, woran Lambert keinen Zweifel lässt. Dass sie es nicht tut, schmälert einmal mehr ihre Glaubwürdigkeit, nun auch für die befreundeten Regierungen in Kolumbien und Brasilien, die von der venezolanischen Krise ja mit betroffen sind. Das katastrophale Patt (Antonio Gramsci) zwischen einer repressiv sich an der Macht haltenden Regierung und einer Opposition, von der leider auch nichts zu erwarten ist, können nur die Venezolanerinnen und Venezolaner selbst aufheben. Und darauf besteht vorerst leider wenig Hoffnung.


Wie auch immer: Wer zu Venezuela mitreden will, sollte Lamberts Buch lesen.


Tobias Lambert: „Gescheiterte Utopie? Venezuela ein Jahrzehnt nach Hugo Chávez“, Mandelbaum Verlag, Wien, 2024, 238 S., € 23.-



von Robert Lessmann Dr 15 Aug., 2024

Vorweg: Außenpolitik spielt im US-Wahlkampf eine Nebenrolle und Lateinamerika so gut wie gar keine, sieht man von Migration, Drogen und Rohstoffen (Öl, Lithium) ab. Das ist nicht neu: Coletta Youngers, bis vor Kurzem jahrzehntelange Mitarbeiterin des renommierten Washington Office on Latin America nennt auch die Lateinamerikapolitik der Regierung Biden-Harris „awful“ (heillos – um hier die schwächstmögliche Übersetzung zu gebrauchen).


Ausgerechnet General Laura Richardson, Chefin des für Südamerika zuständigen US Southern Command der Streitkräfte, beklagte im letzten Jahr mehrfach öffentlichkeitswirksam, dass die Vereinigten Staaten im Ringen um Rohstoffe ins Hintertreffen geraten seien, insbesondere im Lithiumdreieck: Argentinien, Bolivien, Chile. Ziel müsse es sein (wörtlich) „to box out our adversaries, box out our competitors“ (Widersacher und Konkurrenten wegzuboxen). Diplomatie stellt man sich in den betroffenen Ländern anders vor.


Vizepräsidentin Harris führte eine Initiative zur Eindämmung des Migrantenstroms an und konnte in diesem Zusammenhang mehr US-Hilfen für zentralamerikanische Länder durchsetzen sowie Direktinivestitionen von US-Unternehmen einfädeln. Auch wenn für viele NGOs, die in den USA zu diesem Thema arbeiten, die ganze Strategie fragwürdig ist: Der Ansatz, in Zusammenarbeit mit lokalen Akteuren Fluchtursachen zu bekämpfen, unterscheidet sich deutlich von der menschenverachtenden Mauerbaurhetorik der Vorgängerregierung unter Trump. Harris gilt als besonnene, abwägende Politikerin, die langfristig denkt und nachhaltige Lösungen anstrebt statt publicityträchtige Schnellschüsse. Den frischgebackenen guatemaltekischen Präsident Bernardo Arévalo hatte sie im Weißen Haus empfangen.


Harris war allem Anschein nach direkt in die Verhandlungen zum Häftlings-/Geiselaustausch mit Moskau eingebunden, was ein Plus auf der Habenseite für sie und Präsident Biden darstellt. Und sie ist deutlich kritischer gegenüber der israelischen Kampagne in Gaza und lauter in ihrer Forderung nach humanitärer Hilfe für die Menschen dort. Doch sicherlich kann sie nicht allzu kritisch gegenüber ihrer eigenen Regierung sein. Und was in näherer Zukunft mit dem Pulverfass Nahost geschehen wird, weiß niemand.


Kamala Harris prägte den Begriff „smart on crime“ (klug oder clever bei der Kriminalitätsbekämpfung), galt als Staatsanwältin aber eher als Hardlinerin. Zum Thema Drogen hat sie sich nicht explizit geäußert. Man darf annehmen, dass sie hier für Kontinuität der Biden-Administration steht und eine Fortsetzung der Angebotsbekämpfung. Und obwohl hier heutzutage Fentanyl und andere künstliche Opioide mit jährlich mehr als 100.000 Toten durch Überdosen klar das Hauptproblem darstellen – sie sind die häufigste Todesursache für Männer zwischen 18 und 50 Jahren in den USA und Opioide werden überwiegend aus Mexiko importiert – gilt das auch für die klassischen, pflanzengestützten Substanzen wie Kokain, wobei hier die Hoffnung besteht, dass eine über Jahrzehnte ergebnislose Politik mit hohen Nebenkosten für die betroffenen Länder stillschweigend einschläft. Seit Beginn der Opioid-Krise im Jahr 2020 starben laut World Drug Report der UN rund eine halbe Million Menschen an Überdosen – und auch wenn hier aktuell die Zahlen leicht rückläufig sind, bleibt die Situation sehr ernst und die Verfügbarkeit noch potenterer illegaler Drogen, sogenannter Nitazene, gibt zu neuer Besorgnis Anlass (UNODC, World Drug Report 2024).


Außenminister Antony Blinken sprach bei seiner Intervention auf der UN Commission on Narcotic Drugs im vergangenen Frühjahr in Wien ausschließlich über die Opioidkrise in seinem Land. Unterdessen ist im aktuellen Wildlife Crime Report desselben UNODC (ebenfalls 2024) zu lesen, dass mexikanische Drogenorganisationen auch im illegalen Fischfang involviert sind, wo sie einen Teil ihrer Gewinne investiert haben. Würde man die Dinge in der Zusammenschau betrachten, könnte man sehen: Ob Kokain oder Fentanyl, längst sind wichtige Akteure zu multidivisionalen kriminellen Unternehmen geworden, denen mit den herkömmlichen, eindimensionalen Ansätzen nicht beizukommen ist. Wann besinnt man sich auf Giovanni Falcone, der im Fall der italienischen Mafia forderte: „ Follow the money!“ ? Und zwar konsequent.


Damm gegen Rechts

Als sich Anfang Juli die Präsidenten der MERCOSUR-Mitgliedsländer in Asunción/ Paraguay trafen, um die Aufnahme Boliviens als Vollmitglied der Wirtschaftsgemeinschaft zu feiern, fehlte Argentiniens Javier Milei. Der selbsternannte Anarchokapitalist nahm lieber neben Jair Bolsonaro, dessen Sohn Eduardo (der als Bindeglied zu rechtsextremen Parteien Europas fungiert) und dem gescheiterten Präsidentschaftskandidaten Antonio Kast aus Chile an einem zeitgleich stattfindenden Treffen der Confederación de Acción Política Conservadora (CPAC) im brasilianischen Santa Catalina teil. Die internationale Rechte ist vernetzt. Ebendort verkündete der notorische Speiseöl-Tykoon Branco Marinkovic seine Absicht, bei den im nächsten Jahr in Bolivien angesetzten Präsidentschaftswahlen zu kandidieren. Marinkovic ist eine langjährige Schlüsselfigur der extremen Rechten in Bolivien. Er war dort wesentlich am Zivilputsch von Santa Cruz 2008 beteiligt und nach der Machtergreifung der Rechten (2019) im Jahr 2020 kurzzeitig auch Wirtschaftsminister in der sogenannten „Interimsregierung“ von Jeanine Añez.


Bedauert wurde in Santa Catalina die Abwesenheit des wahlkämpfenden Expräsidenten Donald Trump, doch dessen ehemaliger Chefstratege Steve Bannon, der seit 1. Juli eine Haftstrafe wegen Missachtung des Kongresses absitzt, gilt als Koordinator rechter Netzwerke weltweit. Der Horror vor einer erneuten Präsidentschaft von Donald Trump ist womöglich die größte Stütze der demokratischen Kandidatin, gerade bei frustrierten, aber politisch wachen jungen Wählerinnen und Wählern, um deren Reaktivierung an den Wahlurnen sie sich besonders bemüht. Auch wenn die progressiven Kräfte eines Tages womöglich von einer Harris-Adminstration enttäuscht sein werden – so, wie sie es auch von Clinton und Obama waren –, ist es doch das Gebot der Stunde, einen weiteren Vormarsch der gesellschaftspolitisch reaktionären, neonationalistischen und xenophoben Kräfte von Putin über Orban und Erdogan bis hin zu Bolsonaro und eben Trump zu verhindern. Da steht einiges auf dem Spiel – wie wir wissen auch in europäischen Ländern wie Frankreich oder Österreich.


Unterschätzte Vizepräsidentschaft

In den Vereinigten Staaten kursiert ein Witz: Fragt ein Mann den anderen: „Was ist eigentlich aus Ihren Kindern geworden? Man hat lange nichts von ihnen gehört!“ Antwort: „Der eine ist Matrose, der andere Vizepräsident.“ Eine Vizepräsidentschaft gilt als undankbarer Job, der wenig Aufmerksamkeit verspricht. Dem oder der Vize werden gerne unlösbare Aufgaben übertragen. Insofern mag Kamala Harris als Präsidentin im Amt womöglich für viel mehr stehen als für eine ehemalige Staatsanwältin, die nun die erneute Präsidentschaft eines verurteilten Straftäters verhindert. Eine Vizepräsidentschaft ist jedenfalls alles andere als das Tor in die politische Versenkung. Immerhin 15 von 49 US-Vizepräsidenten wurden später Präsident. Manche durch Tod, wie Lyndon B. Johnson für den ermordeten John F. Kennedy, oder wegen eines Rücktritts, wie Gerald Ford für Richard Nixon. Der wiederum hatte es als ehemaliger Vize im zweiten Anlauf geschafft, zum Präsidenten gewählt zu werden. George Bush (sen.) schaffte es nach zwei Amtszeiten von Ronald Reagan direkt, Joe Biden nach einer Amtszeit von Donald Trump. Unter den bisher 49 Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten ist Kamala Harris die erste und einzige Frau. Sie hat gute Chancen, die sechzehnte ehemalige Vizepräsidentin unter dann 47 Präsidenten zu werden und damit die historische erste Frau in diesem Amt.


Ihren Vizepräsidentschaftskandidaten dürfte sie nach wahlstrategischen Überlegungen ausgewählt haben. Jedenfalls wird das gegenwärtig so diskutiert. Doch Tim Walz mag darüber hinaus eine Rolle spielen, wenn es darum geht, in einer Harris-Walz-Administration stärker auf Diplomatie zu setzen statt auf militärischen Interventionismus. Seinen Wahlkampf zum Kongressabgeordneten führte er 2006 in Opposition zum Irakkrieg. Später führte er im Kongress eine Gruppe von Demokraten an, die Präsident Barack Obama vor einem Eintritt in einen Krieg in Syrien warnte, und er trat für eine Resolution zur Beendigung der Unterstützung Saudi Arabiens bei dessen Krieg im Jemen ein. Daneben unterstrich er anlässlich der Öffnungspolitik unter Präsident Obama 2016/17 die wechselseitigen Chancen eines möglichen Handels mit Kuba. Dazu kam es dann freilich nicht.


Kamala Harris’ National Security Advisor Philip H. Gordon schließlich beschreibt in seinem letzten Buch „Losing the Game: The False Promise of Regime Change in the Middle East“ von 2020, wie alle US-Versuche, im Mittleren Osten Regimewechsel herbeizuführen, scheiterten. In der Einführung zu diesem Buch nimmt er Bezug darauf, dass auch alle diesbezüglichen Versuche im 20. Jahrhundert in Lateinamerika im Fiasko endeten.


Dollardemokratie

Dass der Zustand der Demokratie in den Vereinigten Staaten besorgniserregend ist, weiß man nicht erst seit der Kandidatenwahl bei den Republikanern, die von sich selbst gern als von der „Grand Old Party (GOP)“ sprechen, und dem Sturm auf das Kapitol nach der von Trump verlorenen Wahl. Während man sich weltweit als Wächter der Demokratie geriert, spielt hier der Dollar eine entscheidende Rolle. In der Demokratischen Partei hielt man trotz aller Zweifel an einer Kandidatur Joe Bidens fest, bis die Wahlkampfspenden wegbrachen. Und Kamala Harris setzte zum Höhenflug an und wurde im Eilverfahren nominiert, als diese auf Rekordniveau kletterten. Da ist es einmal mehr alarmierend, wenn der steinreiche Gegenkandidat mit Elon Musk den reichsten Mann der Welt als glühenden Verehrer und Wahlkämpfer an seiner Seite hat, der für seine Extravaganzen bekannt ist und sich gleich auch noch selbst als möglichen Minister vorschlägt. Daher: The Kamalamania must go on. Nicht nur, weil die Alternative eine Katastrophe wäre. Es gibt auch Anlass zu vorsichtigem Optimismus.

von © Robert Lessmann Dr 12 Juli, 2024

Es hat ein „bisserl“ gedauert bis die deutsche Übersetzung erschienen ist. Schon bei Leonardo Paduras Wienbesuch im letzten Jahr war viel von „Personas decentes“ die Rede. Von zwei Kriminalfällen würde der Roman handeln und von zwei Hoffnungsmomenten. Havanna sei letztlich die Hauptperson.


In der Tat ist es wohl der kriminalistischste von Paduras Kriminalromanen, dessen Bücher darüber hinaus als die besten soziologischen Studien über seine Heimat Kuba gelten, wo es unabhängige soziologische Studien ja nicht gibt. Von der ersten Seite an wird man unentrinnbar in den Strudel der beiden Geschichten hineingezogen. Der Detektiv Mario Conde hilft seinen früheren Polizeikollegen bei der Aufklärung von zwei grausamen Morden, weil diese gerade alle Hände voll mit dem Besuch des US-Präsidenten Barack Obama und der Rolling Stones zu tun haben. Wir schreiben das Jahr 2016. Parallel dazu erzählt der Polizist Teniente Arturo Saborit von Prostituiertenmorden in Havanna von 1909/10, das nach der Unabhängigkeit von 1902 boomt und wo nichts unmöglich scheint.


Interessant sind dabei die Parallelen der Hintergrundkulissen, die Padura mit großem historischen und soziologischen Wissen aufbaut. Hier atemberaubende Gegensätze zwischen Arm und Reich und ein Sumpf von Korruption und Intrigen, wo Zuhälterclans nach belieben schalten und walten, bis sie um die Vorherrschaft kämpfen. Im Rampenlicht der Erzählung steht hier der schillernde Zuhälter Alberto Yarini, eine reale Person. Dort zwei Mordopfer, die vor einem halben Jahrhundert, im sogenannten quinquenio gris (dem grauen Jahrfünft) für die schlimmste Willkür, für Spitzeltum und Repression gegen unangepasste Künstler verantwortlich waren – und die nebenbei in Kunstraub und Hehlerei verstrickt sind.


Der „Erzpessimist“ Mario Conde lässt sich von der Öffnungseuphorie nicht anstecken. Schon ganz zu Anfang des Buches erinnert er sich, wie in seiner Jugend heißbegehrte Raubkopien illegaler, „subversiver“ Musik in Umlauf waren: „ A hard days night “ – 1964 war das. Wieso sollte er heute, als „alter Knacker“ beim Besuch der Stones euphorisch werden? Der Autor dieser Rezension forschte vor dreißig Jahren zu den Wirtschaftsreformen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks („Empresas mixtas en Cuba“, 1994) und warnte auch angesichts der Halbherzigkeit ihrer Umsetzung vor Rechtsunsicherheit und der „Gefahr einer Generalisierung des Illegalen“, später vor einem entstehenden „Untergrundkapitalismus“. Heute ist dieser der Wachstumssektor in einer Wirtschaft, die ansonsten von Stillstand geprägt ist und von Depression in den Köpfen der Menschen. Seit 2021 sollen eine halbe Million Menschen die Insel verlassen haben. Überwiegend junge, gebildete. Ein gewaltiger Verlust in einer Elfmillionen-Gesellschaft mit sehr niedriger Geburtenrate. Inzwischen soll die Bevölkerungszahl auf unter 10 Millionen gesunken sein. (PS: Eine Studie vom Juli 2024 spricht gar von nur 8,6 Millionen.)


In der Bar, in der Mario Conde während des Booms von 2016 als Aufpasser arbeitet, spendiert er einem Polizeikollegen ein Bier, das soviel kostet wie der in zwei Tagen nicht verdient. Der Laden floriert nicht zuletzt, weil regelmäßig ein „großer Unbekannter“ mit seiner Entourage dort verkehrt, der ihn protegiert. Anspielung oder Fiktion? Noch zur Zeit Fidel Castros kursierten Gerüchte, wonach ein bestimmter Paladar (privat geführtes Restaurant) regelmäßig von einem prominenten Politiker besucht würde. Dort wurden auch Meeresfrüchte serviert, die eigentlich für Paladares damals strikt tabu waren. Jener prominente Politiker wurde später Präsident. Etwa zur selben Zeit sprach der Rezensent mit einer jungen Frau, der man die Lizenz für ihren Paladar entzogen hatte, weil sie zu Tagen der Hochkonjunktur (Exportmesse Expokuba) eine Nachbarin gebeten hatte, beim Putzen zu helfen. Die Mutter von zwei Kindern verdiente ihr Geld nunmehr als Gelegenheitsprostituierte. Die Parallelen zwischen Condes „großem Unbekannten“ und meinem prominenten Politiker mögen fiktiv sein. Verzweiflung und Depression der Menschen sind angesichts der wirtschaftlichen Dauerkrise sehr real. Leonardo Padura lässt sie spürbar werden ohne dass seine Protagonisten die Liebe zu ihrer Heimat verlieren.

Conde „drehte sich um. Ein grandioser Impala Cabriolet, Baujahr 1958, rollte langsam über die Avenida. Auf der Rückbank und den Türen saßen drei Frauen und zwei Männer, ausgestattet mit Strohhüten und Bierdosen, und brachten in voller Lautstärke ihre Begeisterung über die Spazierfahrt zum Ausdruck, die der Chauffeur ihnen ermöglichte. An der durch die Tropensonne bereits geröteten hellen Haut wie auch an ihrer Kleidung und dem betrunkenen Gegröle waren sie mühelos zu erkennen: es handelte sich um US-amerikanische Touristen, schließlich kehrten die Gringos jetzt auf die Insel zurück, um sich mit eigenen Augen einen Eindruck davon zu verschaffen, wie die Bewohner dieses realsozialistischen Themenparks ihren Alltag organisierten. Es war derselbe Ort, wo die Großeltern dieser Touristen einst dem Spaß an Rum, Musik und Sex gefrönt hatten, in den zahllosen Kabaretts, Kasinos, Bars und Bordellen dieser offenen, dem Laster verfallenen Stadt. (…) Jetzt waren sie also wieder da, und ihre Dollars waren mehr wert denn je.“ (S. 89)

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