Was passiert mit den einstigen Hoffnungsmodellen Lateinamerikas? Kuba und Venezuela läuft die Bevölkerung davon. In Nicaragua herrscht Ortega wie ein abschreckender Diktator. Und in Bolivien arbeitet der erfolgreichste Präsident, den das Land je hatte, heute mit Nachdruck an der Zerstörung seines Erbes und seines Ansehens. Die Berichterstattung unserer Medien – sofern sie von diesen Ländern überhaupt berichten – goutiert Wirtschaftskrisen und die Glaubwürdigkeit von Wahlen. Selten geht es darum, wie es den Menschen geht. Die Solidaritätsbewegung, Freunde und Sympathisanten sehen konsterniert zu – und schweigen.
Tobias Lambert blickt aus linker Perspektive hinter die Kulissen Venezuelas, das mit seinem „bolivarianischen“ Ansatz im neuen Jahrtausend ganz Lateinamerika mitreißen wollte. Er bereist das Land seit mehr als 20 Jahren und berichtet darüber. Kenntnis- und detailreich rekapituliert er die Vorgeschichte und den politischen Prozess unter Hugo Chávez (im Bild auf der Klimakonferenz von Cochabamba, 2010) und danach, bespricht Wahlergebnisse und politische Trends auf der Linken wie auf der Rechten. An vielen Stellen vermisst man im Text regelmäßige Jahreszahlen, die helfen würden, in der Komplexität den roten Faden nicht zu verlieren. Eine Zeittafel wäre eine hilfreiche Ergänzung bei allen weiteren Auflagen.
Drei Linien treten in Lamberts Analyse als Erklärung hervor: erstens der fragile Extraktivismus. Man könnte auch sagen, ein auf die Einkommen aus dem Export nicht erneuerbarer Rohstoffe (Erdöl im konkreten Fall) gestützter politischer und gesellschaftlicher Voluntarismus. Man hat zwar immer gewusst: „hay que sembrar el petroleo“ (man muss die Öleinnahmen säen, die Wirtschaft diversifizieren), es aber nicht getan. Die Korruption im Land wurde durch den Exportboom noch gefördert. Mit sinkenden Weltmarktpreisen bracht die Krise aus.
Zweitens: Die zentrale Rolle einer charismatischen Führungsperson, auf die sich das Projekt stützt und ins Wanken gerät, wenn diese wegbricht. Je stärker das Modell wirtschaftlich und politisch unter Druck geriet, desto mehr reagierte es mit antidemokratischen und repressiven Praktiken, intransparenten Privatisierungen, Teilliberalisierungen unter Beibehaltung staatlicher Kontrollen, steuerfreien Importen von denen eine neue, sogenannte „Bolibourgeoisie“ profitierte. Vom Sozialismus des 21. Jahrhunderts ist nur gelegentlich noch die Rede.
Und drittens die unverbrüchliche Feindschaft der alten Eliten, der nationalen wie der internationalen. In diesem Zusammenhang wird in Lamberts Buch deutlich, wie desolat und zerstritten die venezolanische Opposition zumeist war (und ist), und wie sie trotzdem von Washington und seinen Verbündeten unterstützt wird, egal wie chaotisch sie daherkommt. Man denke nur an die Anerkennung der „Präsidentschaft“ von Juan Guaidó. Nebenbei wirft das auch ein Schlaglicht auf viel kritisierte Allianzen mit Schurkenstaaten wie dem Iran oder Weißrussland. Mit wem, so könnte man sich in europäischen Hauptstädten fragen, sollte ein Präsident denn Beziehungen anknüpfen, auf den Washington ein millionenschweres Kopfgeld aussetzt?
Das Buch behandelt zuletzt sogar noch das umstrittene Wahlergebnis von 2024. Regierung und Opposition reklamieren den Wahlsieg für sich. Washington und seine Verbündeten glauben der Opposition. Beide Seiten behaupten, dass sie ihn dokumentieren können. Wer es definitiv und lückenlos könnte, wäre die Regierung Maduro, woran Lambert keinen Zweifel lässt. Dass sie es nicht tut, schmälert einmal mehr ihre Glaubwürdigkeit, nun auch für die befreundeten Regierungen in Kolumbien und Brasilien, die von der venezolanischen Krise ja mit betroffen sind. Das katastrophale Patt (Antonio Gramsci) zwischen einer repressiv sich an der Macht haltenden Regierung und einer Opposition, von der leider auch nichts zu erwarten ist, können nur die Venezolanerinnen und Venezolaner selbst aufheben. Und darauf besteht vorerst leider wenig Hoffnung.
Wie auch immer: Wer zu Venezuela mitreden will, sollte Lamberts Buch lesen.
Tobias Lambert: „Gescheiterte Utopie? Venezuela ein Jahrzehnt nach Hugo Chávez“, Mandelbaum Verlag, Wien, 2024, 238 S., € 23.-
Vorweg: Außenpolitik spielt im US-Wahlkampf eine Nebenrolle und Lateinamerika so gut wie gar keine, sieht man von Migration, Drogen und Rohstoffen (Öl, Lithium) ab. Das ist nicht neu: Coletta Youngers, bis vor Kurzem jahrzehntelange Mitarbeiterin des renommierten Washington Office on Latin America nennt auch die Lateinamerikapolitik der Regierung Biden-Harris „awful“ (heillos – um hier die schwächstmögliche Übersetzung zu gebrauchen).
Ausgerechnet General Laura Richardson, Chefin des für Südamerika zuständigen US Southern Command der Streitkräfte, beklagte im letzten Jahr mehrfach öffentlichkeitswirksam, dass die Vereinigten Staaten im Ringen um Rohstoffe ins Hintertreffen geraten seien, insbesondere im Lithiumdreieck: Argentinien, Bolivien, Chile. Ziel müsse es sein (wörtlich) „to box out our adversaries, box out our competitors“ (Widersacher und Konkurrenten wegzuboxen). Diplomatie stellt man sich in den betroffenen Ländern anders vor.
Vizepräsidentin Harris führte eine Initiative zur Eindämmung des Migrantenstroms an und konnte in diesem Zusammenhang mehr US-Hilfen für zentralamerikanische Länder durchsetzen sowie Direktinivestitionen von US-Unternehmen einfädeln. Auch wenn für viele NGOs, die in den USA zu diesem Thema arbeiten, die ganze Strategie fragwürdig ist: Der Ansatz, in Zusammenarbeit mit lokalen Akteuren Fluchtursachen zu bekämpfen, unterscheidet sich deutlich von der menschenverachtenden Mauerbaurhetorik der Vorgängerregierung unter Trump. Harris gilt als besonnene, abwägende Politikerin, die langfristig denkt und nachhaltige Lösungen anstrebt statt publicityträchtige Schnellschüsse. Den frischgebackenen guatemaltekischen Präsident Bernardo Arévalo hatte sie im Weißen Haus empfangen.
Harris war allem Anschein nach direkt in die Verhandlungen zum Häftlings-/Geiselaustausch mit Moskau eingebunden, was ein Plus auf der Habenseite für sie und Präsident Biden darstellt. Und sie ist deutlich kritischer gegenüber der israelischen Kampagne in Gaza und lauter in ihrer Forderung nach humanitärer Hilfe für die Menschen dort. Doch sicherlich kann sie nicht allzu kritisch gegenüber ihrer eigenen Regierung sein. Und was in näherer Zukunft mit dem Pulverfass Nahost geschehen wird, weiß niemand.
Kamala Harris prägte den Begriff „smart on crime“ (klug oder clever bei der Kriminalitätsbekämpfung), galt als Staatsanwältin aber eher als Hardlinerin. Zum Thema Drogen hat sie sich nicht explizit geäußert. Man darf annehmen, dass sie hier für Kontinuität der Biden-Administration steht und eine Fortsetzung der Angebotsbekämpfung. Und obwohl hier heutzutage Fentanyl und andere künstliche Opioide mit jährlich mehr als 100.000 Toten durch Überdosen klar das Hauptproblem darstellen – sie sind die häufigste Todesursache für Männer zwischen 18 und 50 Jahren in den USA und Opioide werden überwiegend aus Mexiko importiert – gilt das auch für die klassischen, pflanzengestützten Substanzen wie Kokain, wobei hier die Hoffnung besteht, dass eine über Jahrzehnte ergebnislose Politik mit hohen Nebenkosten für die betroffenen Länder stillschweigend einschläft. Seit Beginn der Opioid-Krise im Jahr 2020 starben laut World Drug Report der UN rund eine halbe Million Menschen an Überdosen – und auch wenn hier aktuell die Zahlen leicht rückläufig sind, bleibt die Situation sehr ernst und die Verfügbarkeit noch potenterer illegaler Drogen, sogenannter Nitazene, gibt zu neuer Besorgnis Anlass (UNODC, World Drug Report 2024).
Außenminister Antony Blinken sprach bei seiner Intervention auf der UN Commission on Narcotic Drugs im vergangenen Frühjahr in Wien ausschließlich über die Opioidkrise in seinem Land. Unterdessen ist im aktuellen Wildlife Crime Report desselben UNODC (ebenfalls 2024) zu lesen, dass mexikanische Drogenorganisationen auch im illegalen Fischfang involviert sind, wo sie einen Teil ihrer Gewinne investiert haben. Würde man die Dinge in der Zusammenschau betrachten, könnte man sehen: Ob Kokain oder Fentanyl, längst sind wichtige Akteure zu multidivisionalen kriminellen Unternehmen geworden, denen mit den herkömmlichen, eindimensionalen Ansätzen nicht beizukommen ist. Wann besinnt man sich auf Giovanni Falcone, der im Fall der italienischen Mafia forderte: „ Follow the money!“ ? Und zwar konsequent.
Damm gegen Rechts
Als sich Anfang Juli die Präsidenten der MERCOSUR-Mitgliedsländer in Asunción/ Paraguay trafen, um die Aufnahme Boliviens als Vollmitglied der Wirtschaftsgemeinschaft zu feiern, fehlte Argentiniens Javier Milei. Der selbsternannte Anarchokapitalist nahm lieber neben Jair Bolsonaro, dessen Sohn Eduardo (der als Bindeglied zu rechtsextremen Parteien Europas fungiert) und dem gescheiterten Präsidentschaftskandidaten Antonio Kast aus Chile an einem zeitgleich stattfindenden Treffen der Confederación de Acción Política Conservadora (CPAC) im brasilianischen Santa Catalina teil. Die internationale Rechte ist vernetzt. Ebendort verkündete der notorische Speiseöl-Tykoon Branco Marinkovic seine Absicht, bei den im nächsten Jahr in Bolivien angesetzten Präsidentschaftswahlen zu kandidieren. Marinkovic ist eine langjährige Schlüsselfigur der extremen Rechten in Bolivien. Er war dort wesentlich am Zivilputsch von Santa Cruz 2008 beteiligt und nach der Machtergreifung der Rechten (2019) im Jahr 2020 kurzzeitig auch Wirtschaftsminister in der sogenannten „Interimsregierung“ von Jeanine Añez.
Bedauert wurde in Santa Catalina die Abwesenheit des wahlkämpfenden Expräsidenten Donald Trump, doch dessen ehemaliger Chefstratege Steve Bannon, der seit 1. Juli eine Haftstrafe wegen Missachtung des Kongresses absitzt, gilt als Koordinator rechter Netzwerke weltweit. Der Horror vor einer erneuten Präsidentschaft von Donald Trump ist womöglich die größte Stütze der demokratischen Kandidatin, gerade bei frustrierten, aber politisch wachen jungen Wählerinnen und Wählern, um deren Reaktivierung an den Wahlurnen sie sich besonders bemüht. Auch wenn die progressiven Kräfte eines Tages womöglich von einer Harris-Adminstration enttäuscht sein werden – so, wie sie es auch von Clinton und Obama waren –, ist es doch das Gebot der Stunde, einen weiteren Vormarsch der gesellschaftspolitisch reaktionären, neonationalistischen und xenophoben Kräfte von Putin über Orban und Erdogan bis hin zu Bolsonaro und eben Trump zu verhindern. Da steht einiges auf dem Spiel – wie wir wissen auch in europäischen Ländern wie Frankreich oder Österreich.
Unterschätzte Vizepräsidentschaft
In den Vereinigten Staaten kursiert ein Witz: Fragt ein Mann den anderen: „Was ist eigentlich aus Ihren Kindern geworden? Man hat lange nichts von ihnen gehört!“ Antwort: „Der eine ist Matrose, der andere Vizepräsident.“ Eine Vizepräsidentschaft gilt als undankbarer Job, der wenig Aufmerksamkeit verspricht. Dem oder der Vize werden gerne unlösbare Aufgaben übertragen. Insofern mag Kamala Harris als Präsidentin im Amt womöglich für viel mehr stehen als für eine ehemalige Staatsanwältin, die nun die erneute Präsidentschaft eines verurteilten Straftäters verhindert. Eine Vizepräsidentschaft ist jedenfalls alles andere als das Tor in die politische Versenkung. Immerhin 15 von 49 US-Vizepräsidenten wurden später Präsident. Manche durch Tod, wie Lyndon B. Johnson für den ermordeten John F. Kennedy, oder wegen eines Rücktritts, wie Gerald Ford für Richard Nixon. Der wiederum hatte es als ehemaliger Vize im zweiten Anlauf geschafft, zum Präsidenten gewählt zu werden. George Bush (sen.) schaffte es nach zwei Amtszeiten von Ronald Reagan direkt, Joe Biden nach einer Amtszeit von Donald Trump. Unter den bisher 49 Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten ist Kamala Harris die erste und einzige Frau. Sie hat gute Chancen, die sechzehnte ehemalige Vizepräsidentin unter dann 47 Präsidenten zu werden und damit die historische erste Frau in diesem Amt.
Ihren Vizepräsidentschaftskandidaten dürfte sie nach wahlstrategischen Überlegungen ausgewählt haben. Jedenfalls wird das gegenwärtig so diskutiert. Doch Tim Walz mag darüber hinaus eine Rolle spielen, wenn es darum geht, in einer Harris-Walz-Administration stärker auf Diplomatie zu setzen statt auf militärischen Interventionismus. Seinen Wahlkampf zum Kongressabgeordneten führte er 2006 in Opposition zum Irakkrieg. Später führte er im Kongress eine Gruppe von Demokraten an, die Präsident Barack Obama vor einem Eintritt in einen Krieg in Syrien warnte, und er trat für eine Resolution zur Beendigung der Unterstützung Saudi Arabiens bei dessen Krieg im Jemen ein. Daneben unterstrich er anlässlich der Öffnungspolitik unter Präsident Obama 2016/17 die wechselseitigen Chancen eines möglichen Handels mit Kuba. Dazu kam es dann freilich nicht.
Kamala Harris’ National Security Advisor Philip H. Gordon schließlich beschreibt in seinem letzten Buch „Losing the Game: The False Promise of Regime Change in the Middle East“ von 2020, wie alle US-Versuche, im Mittleren Osten Regimewechsel herbeizuführen, scheiterten. In der Einführung zu diesem Buch nimmt er Bezug darauf, dass auch alle diesbezüglichen Versuche im 20. Jahrhundert in Lateinamerika im Fiasko endeten.
Dollardemokratie
Dass der Zustand der Demokratie in den Vereinigten Staaten besorgniserregend ist, weiß man nicht erst seit der Kandidatenwahl bei den Republikanern, die von sich selbst gern als von der „Grand Old Party (GOP)“ sprechen, und dem Sturm auf das Kapitol nach der von Trump verlorenen Wahl. Während man sich weltweit als Wächter der Demokratie geriert, spielt hier der Dollar eine entscheidende Rolle. In der Demokratischen Partei hielt man trotz aller Zweifel an einer Kandidatur Joe Bidens fest, bis die Wahlkampfspenden wegbrachen. Und Kamala Harris setzte zum Höhenflug an und wurde im Eilverfahren nominiert, als diese auf Rekordniveau kletterten. Da ist es einmal mehr alarmierend, wenn der steinreiche Gegenkandidat mit Elon Musk den reichsten Mann der Welt als glühenden Verehrer und Wahlkämpfer an seiner Seite hat, der für seine Extravaganzen bekannt ist und sich gleich auch noch selbst als möglichen Minister vorschlägt. Daher: The Kamalamania must go on. Nicht nur, weil die Alternative eine Katastrophe wäre. Es gibt auch Anlass zu vorsichtigem Optimismus.
Es hat ein „bisserl“ gedauert bis die deutsche Übersetzung erschienen ist. Schon bei Leonardo Paduras Wienbesuch im letzten Jahr war viel von „Personas decentes“ die Rede. Von zwei Kriminalfällen würde der Roman handeln und von zwei Hoffnungsmomenten. Havanna sei letztlich die Hauptperson.
In der Tat ist es wohl der kriminalistischste von Paduras Kriminalromanen, dessen Bücher darüber hinaus als die besten soziologischen Studien über seine Heimat Kuba gelten, wo es unabhängige soziologische Studien ja nicht gibt. Von der ersten Seite an wird man unentrinnbar in den Strudel der beiden Geschichten hineingezogen. Der Detektiv Mario Conde hilft seinen früheren Polizeikollegen bei der Aufklärung von zwei grausamen Morden, weil diese gerade alle Hände voll mit dem Besuch des US-Präsidenten Barack Obama und der Rolling Stones zu tun haben. Wir schreiben das Jahr 2016. Parallel dazu erzählt der Polizist Teniente Arturo Saborit von Prostituiertenmorden in Havanna von 1909/10, das nach der Unabhängigkeit von 1902 boomt und wo nichts unmöglich scheint.
Interessant sind dabei die Parallelen der Hintergrundkulissen, die Padura mit großem historischen und soziologischen Wissen aufbaut. Hier atemberaubende Gegensätze zwischen Arm und Reich und ein Sumpf von Korruption und Intrigen, wo Zuhälterclans nach belieben schalten und walten, bis sie um die Vorherrschaft kämpfen. Im Rampenlicht der Erzählung steht hier der schillernde Zuhälter Alberto Yarini, eine reale Person. Dort zwei Mordopfer, die vor einem halben Jahrhundert, im sogenannten quinquenio gris (dem grauen Jahrfünft) für die schlimmste Willkür, für Spitzeltum und Repression gegen unangepasste Künstler verantwortlich waren – und die nebenbei in Kunstraub und Hehlerei verstrickt sind.
Der „Erzpessimist“ Mario Conde lässt sich von der Öffnungseuphorie nicht anstecken. Schon ganz zu Anfang des Buches erinnert er sich, wie in seiner Jugend heißbegehrte Raubkopien illegaler, „subversiver“ Musik in Umlauf waren: „ A hard days night “ – 1964 war das. Wieso sollte er heute, als „alter Knacker“ beim Besuch der Stones euphorisch werden? Der Autor dieser Rezension forschte vor dreißig Jahren zu den Wirtschaftsreformen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks („Empresas mixtas en Cuba“, 1994) und warnte auch angesichts der Halbherzigkeit ihrer Umsetzung vor Rechtsunsicherheit und der „Gefahr einer Generalisierung des Illegalen“, später vor einem entstehenden „Untergrundkapitalismus“. Heute ist dieser der Wachstumssektor in einer Wirtschaft, die ansonsten von Stillstand geprägt ist und von Depression in den Köpfen der Menschen. Seit 2021 sollen eine halbe Million Menschen die Insel verlassen haben. Überwiegend junge, gebildete. Ein gewaltiger Verlust in einer Elfmillionen-Gesellschaft mit sehr niedriger Geburtenrate. Inzwischen soll die Bevölkerungszahl auf unter 10 Millionen gesunken sein. (PS: Eine Studie vom Juli 2024 spricht gar von nur 8,6 Millionen.)
In der Bar, in der Mario Conde während des Booms von 2016 als Aufpasser arbeitet, spendiert er einem Polizeikollegen ein Bier, das soviel kostet wie der in zwei Tagen nicht verdient. Der Laden floriert nicht zuletzt, weil regelmäßig ein „großer Unbekannter“ mit seiner Entourage dort verkehrt, der ihn protegiert. Anspielung oder Fiktion? Noch zur Zeit Fidel Castros kursierten Gerüchte, wonach ein bestimmter Paladar (privat geführtes Restaurant) regelmäßig von einem prominenten Politiker besucht würde. Dort wurden auch Meeresfrüchte serviert, die eigentlich für Paladares damals strikt tabu waren. Jener prominente Politiker wurde später Präsident. Etwa zur selben Zeit sprach der Rezensent mit einer jungen Frau, der man die Lizenz für ihren Paladar entzogen hatte, weil sie zu Tagen der Hochkonjunktur (Exportmesse Expokuba) eine Nachbarin gebeten hatte, beim Putzen zu helfen. Die Mutter von zwei Kindern verdiente ihr Geld nunmehr als Gelegenheitsprostituierte. Die Parallelen zwischen Condes „großem Unbekannten“ und meinem prominenten Politiker mögen fiktiv sein. Verzweiflung und Depression der Menschen sind angesichts der wirtschaftlichen Dauerkrise sehr real. Leonardo Padura lässt sie spürbar werden ohne dass seine Protagonisten die Liebe zu ihrer Heimat verlieren.
Conde „drehte sich um. Ein grandioser Impala Cabriolet, Baujahr 1958, rollte langsam über die Avenida. Auf der Rückbank und den Türen saßen drei Frauen und zwei Männer, ausgestattet mit Strohhüten und Bierdosen, und brachten in voller Lautstärke ihre Begeisterung über die Spazierfahrt zum Ausdruck, die der Chauffeur ihnen ermöglichte. An der durch die Tropensonne bereits geröteten hellen Haut wie auch an ihrer Kleidung und dem betrunkenen Gegröle waren sie mühelos zu erkennen: es handelte sich um US-amerikanische Touristen, schließlich kehrten die Gringos jetzt auf die Insel zurück, um sich mit eigenen Augen einen Eindruck davon zu verschaffen, wie die Bewohner dieses realsozialistischen Themenparks ihren Alltag organisierten. Es war derselbe Ort, wo die Großeltern dieser Touristen einst dem Spaß an Rum, Musik und Sex gefrönt hatten, in den zahllosen Kabaretts, Kasinos, Bars und Bordellen dieser offenen, dem Laster verfallenen Stadt. (…) Jetzt waren sie also wieder da, und ihre Dollars waren mehr wert denn je.“ (S. 89)