Es scheint, als ob die Regierung von Nicolás Maduro trotz offensichtlicher Wahlfälschungen, breiter Proteste und internationaler Kritik, z um B eispiel von den Regierungen Kolumbiens, Chiles und Brasiliens, an der Macht bleiben kann. Wie siehst Du die Situation heute in Venezuela?
Die aktuelle Situation in Venezuela ist durch das Zusammenwirken verschiedener Ereignisse gekennzeichnet. Erstens haben der Wahlbetrug vom 28. Juli und die Geschehnisse rund um die Wahl die venezolanische Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttert. Die Wahlbeteiligung war mit 73 Prozent sehr hoch. Unabhängige Wahlbeobachter:innen achteten darauf, dass es keine Unregelmäßigkeiten gab. Am Ende des Wahltages gab es nicht den geringsten Zweifel daran, dass die Regierung die Wahl verloren hatte, und zwar eindeutig. Der Mythos, die venezolanische Gesellschaft würde mehrheitlich hinter dem Chavismus stehen, wurde an diesem Tag ein für alle Mal zerstört. Die Regierung hat nicht die geringste Chance, wieder Vertrauen von der Bevölkerung zu erhalten. Maduro hat sich mit der Behauptung, er habe die Wahlen gewonnen, gegen die Bevölkerung gestellt und für den Weg der Repression entschieden. In den Tagen nach der Wahl wurden mehr als 2000 Personen inhaftiert, etwa 100 Jugendliche wurden mit Vorwurf des Terrorismus inhaftiert. Dieses brutale Vorgehen hat Angst, Unsicherheit und Verwirrung in der Bevölkerung ausgelöst. Es ist immer noch unklar, wie der repressiven und autoritären Haltung der Regierung begegnet werden soll. Ein Aufstand der Bevölkerung, der die Regierung bedrohen könnte, ist keine Option. Die venezolanische Gesellschaft verfügt schlichtweg über keinen Organisationsgrad, mit dem er gelingen könnte. Zudem haben die Leute Angst.
Zweitens ist das, was die Regierung gerade inszeniert, nicht einfach nur die Nichtanerkennung einer Wahlniederlage unter Beibehaltung der bestehenden institutionellen Ordnung. Was in Venezuela gerade passiert, ist die schrittweise Etablierung einer zunehmend autoritären Rechtsordnung. Die Negation der Wahlniederlage ist ein weiterer Schritt in einem Prozess, der sich bereits länger angekündigt hat. In den letzten Jahren hat die Regierung eine Reihe von Gesetzen verabschiedet, etwa das Gesetz gegen Hass, das Gesetz gegen Terrorismus oder das Gesetz gegen Faschismus. Mit diesen Gesetzen wurden die demokratischen Grundrechte immer mehr eingeschränkt und die Befugnisse der Regierung und des Präsidenten mehr und mehr ausgeweitet. Mit diesen neuen Gesetzen hat die Regierung die politische Debatte im Land verändert, der Ton ist zunehmend autoritär. Konzepte wie Hass oder Terrorismus werden wahllos eingesetzt, um politische Gegner:innen auszuschalten. Der Vorwurf des Terrorismus kann Haftstrafen von 20-30 Jahren zur Folge haben. Was wir gerade beobachten, ist keine improvisierte Reaktion auf eine Wahlniederlage, sondern die schrittweise Durchsetzung eines autoritären Projektes. Allerdings markiert der 28. Juli 2024 einen profunden Wendepunkt in diesem Prozess: Wenn die Souveränität der Bevölkerung und die Verfassung missachtet werden, dann hört die Demokratie auf zu existieren.
Hast Du die Reaktion der Regierung so erwartet oder bist Du davon ausgegangen, dass Maduro einen Sieg der Opposition akzeptieren würde?
Die Erfahrungen von Übergängen vom Autoritarismus zur Demokratie in den verschiedenen Teilen der Welt haben gezeigt, dass Übergänge meistens ausgehandelt werden, vor allem dann, wenn es keine Kraft gibt, die in der Lage ist, eine Regierung zu besiegen. Es kommt zu einem paktierten Übergang, einem Pakt zwischen alten und neuen politischen Eliten. Das war in Chile zum Ende der Pinochet-Diktatur so, in Spanien, in Griechenland. In Venezuela gab es im Vorfeld zurückliegender Wahlen Diskussionen hierzu. Diesmal war es anders. Anders als sonst, entschied sich die Opposition für die Teilnahme an den Wahlen. In den Jahren zuvor hatte sie zur Wahlenthaltung aufgerufen mit dem Ziel, die Regierung zu delegitimieren, nach dem Motto, „die Regierung betrügt eh, eine Wahlbeteiligung lohnt sich nicht“. Einige Oppositionelle forderten sogar die USA auf, in Venezuela zu intervenieren. Das war diesmal anders. Die Opposition begann sich zu organisieren und für die Wahl zu mobilisieren. Nachdem den meisten der möglichen Oppositionskandidat:innen die Einschreibung zur Wahl verweigert wurde, blieb am Ende fast zufällig Edmundo González als Präsidentschaftskandidat der Opposition übrig. Zu diesem Zeitpunkt ging es für die Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr darum, wer der Kandidat der Opposition war, sondern darum, Maduro zu besiegen. Das politische Programm war vollkommen egal. Und zwar so sehr, dass innerhalb von zwei Wochen eine Person, die der großen Mehrheit der Bevölkerung völlig unbekannt war, viel mehr Unterstützung in der Bevölkerung erhielt als Maduro. González wurde zu dem Kandidat, der Maduro besiegen konnte.
Um auf das Thema der ausgehandelten Übergänge zurückzukommen: In den vergangenen Jahren und besonders in den Monaten vor Wahlen, wurde in Venezuela immer viel über die Möglichkeit von Verhandlungen diskutiert. Gefragt wurde, wie sich die Kosten des Verbleibs für die Regierung erhöhen oder die Kosten des Ausstiegs senken ließen. Das gab es diesmal nicht. María Corina Machado [Anführerin der rechten Opposition, der 2023 die Ausübung politischer Ämter für 15 Jahre seitens der Maduro-Regierung untersagt wurde] sprach stattdessen davon, Maduro inhaftiert sehen zu wollen. Die US-Regierung lobte eine Belohnung von 15 Millionen Dollar für Informationen aus, die es erlauben würden, diesen „Kriminellen“ [Maduro] zu fassen. All das machte jeden Raum für Verhandlungen zu. Der Diskurs der Opposition und die US-Politik haben in gewisser Weise dazu beigetragen, dass Maduro sich radikalisierte. Nach dem Motto: „Wenn die Aufgabe der Präsidentschaft bedeutet, dass sie mich inhaftieren, meine Ersparnisse konfiszieren und der Chavismus als Bewegung zerstört wird, dann bleibt nur eins: Bis zum Ende an der Macht festhalten“. Weder in den Positionen der rechtsgerichteten nationalen Kräfte, noch in jenen der US-Regierung eröffneten sich Chancen für einen Verhandlungsübergang.
Du sprichst von der Regierung Maduro als von einem „zivil-militärisch-polizeilichen Regime“. Was meinst Du damit?
Die Allianz zwischen Regierung, Militär und Polizei wird zunehmend deutlich. Das war vor den Wahlen bereits so, aber eher diskret, nun wird es immer klarer und öffentlich sichtbar. Nach den Wahlen gab es eine gemeinsame Pressekonferenz des Oberkommandos des Militärs und des Oberkommandos der Polizei, die Maduro absolute Rückendeckung gaben und den Wahlsieg Maduros anerkannten. Das bedeutete einen Bruch. Dass die Militärs autoritäre Regierungen vorbehaltlos unterstützen, ist ein trauriger Teil der Geschichte Lateinamerikas. Aber dass die Polizei sich dem öffentlich anschließt ist ein Novum und weist eindeutig in Richtung Autoritarismus. Als Chávez zum ersten Mal für die Präsidentschaft kandidierte, appellierte er an die zivil-militärische Union, denn er war ein Vertreter des Militärs. Er appellierte an die Idee, dass das Militär zusammen mit zivilen Kräften die Gesellschaft verändern könnte. Das Thema der zivil-militärischen Union gab es also schon vor der ersten Wahl von Chávez zum Präsidenten. Aber wenn zu dieser Union jetzt noch die Polizei hinzugefügt wird, ist das so, wie einen Polizeistaat auszurufen. Das ist sehr ernst.
Wie ist die wirtschaftliche Situation im Land? Welche wirtschaftlichen Interessen stehen hinter diesem Bündnis?
Die allgemeine Situation des Landes ist katastrophal. Es gibt einen bekannten venezolanischen Wirtschaftswissenschaftler, der vor Kurzem zynisch bemerkte, dass die Situation der venezolanischen Wirtschaft sehr stabil sei. Stabil im Graben, sie bewege sich nicht. Das Inlandsprodukt beträgt etwa 20 Prozent dessen, was es vor 10 Jahren war – ein Einbruch von 80 Prozent der Wertschöpfung in zehn Jahren. So etwas kommt nicht mal in Kriegszeiten vor. Und das bedeutet, dass die Beschäftigungslage katastrophal ist. Der Mindestlohn liegt bei drei Dollar im Monat, das Bildungs- und das Gesundheitssystem brechen zusammen. In den Grundschulen kommen die Lehrer:innen manchmal zwei Tage in der Woche zum Unterrichten. An den anderen Tagen versuchen sie, andere Einkommensquellen zu erschließen, um zu überleben. Die Krankenhäuser erfüllen nicht die Anforderungen des öffentlichen Gesundheitswesens, die Zahl der Krankenschwestern, die das Land verlassen haben, ist extrem hoch. Die Löhne reichen nicht zum Überleben. Insgesamt haben 25-30 Prozent der Bevölkerung das Land verlassen. Die jungen Leute haben das Gefühl, dass sie ihrer Zukunft beraubt wurden, dass wir uns in einem Land befinden, in dem es keine Zukunft gibt. Das Land zu verlassen stellt für viele die einzige reale Alternative dar. Aber wenn die Alternative für die Jüngeren nicht der politische Aktivismus, der soziale Kampf und die Konfrontation mit der Regierung ist, sondern das Verlassen des Landes, weil sie die Hoffnung verloren haben, dann ist das dramatisch.
Wie viele Menschen haben ungefähr das Land verlassen?
Die Schätzungen variieren, sie liegen zwischen sieben und acht Millionen Menschen in einem Land mit vormals 30 Millionen Einwohner:innen. Die Emigration begann langsam vor etwa zehn Jahren und hat in den letzten sechs Jahren stark zugenommen. Die zweitgrößte Stadt Maracaibo ist wahrscheinlich die Stadt mit der höchsten Abwanderungsrate. Manche schätzen, dass bereits 40 Prozent der ehemaligen Bewohner:innen die Stadt verlassen haben. Das hat natürlich Auswirkungen auf die soziale und materielle Infrastruktur, die Gebäude, den sozialen Zusammenhalt. Alles bricht zusammen.
Inwieweit zieht der politisch-militärisch-polizeiliche Block auch wirtschaftliche Vorteile aus der aktuellen Situation?
Wie gesagt, die Regierung Chávez war eine zivil-militärische Regierung. Das Militär hatte viel Macht und hatte wichtige Positionen inne, was schon damals zu viel Korruption führte. Eine entscheidende Institution in diesem Zusammenhang war in den Jahren der Chávez-Regierung die Stelle, die für den Kauf von Devisen zuständig war. Der Unterschied zwischen dem offiziellen Dollar, der dort ausgegeben wurde, und dem Marktdollar betrug in einigen Fällen 10 zu 1. Wer also an die Devisen des offiziellen Dollars kam, konnte sich bereichern. Mit einem Wechsel im Direktorium der venezolanischen Zentralbank flog das alles auf. Die neue Direktorin begann die Konten zu überprüfen und stellte fest, dass in jenem Jahr die Ausgaben von 20 Milliarden Dollar nicht belegt waren. Es handelte sich angeblich um Importe des Staates, aber es gab keine Belege dafür, dass sie tatsächlich getätigt worden waren. Allein in einem Jahr.
Und sie wurde bald entlassen.
Natürlich. Mit Maduro hat sich diese Korruption deutlich verschlimmert. Chávez kam aus dem Militär, er hatte von dort politisch-ideologische Unterstützung und seine Führung war anerkannt. Nicht so bei Maduro, der Zivilist aus einer linken Partei war, der Sozialistischen Einheitspartei Venezuelas. Er musste seine eigene Unterstützung durch das Militär aufbauen, und das tat er im Wesentlichen, indem er die Macht mit dem Militär teilte und viele öffentliche Führungspositionen an das Militär gab. Schon unter Chávez und unter dem Einfluss Kubas wurden viele Unternehmen verstaatlicht, was zur wirtschaftlichen Krise beitrug, denn es fehlte oft ein angemessenes Management, das Interesse an einer Entwicklung der Produktion hatte. Sie wurden staatlich subventioniert. Der Hintergrund der fehlenden Produktivität ist dramatisch: Die Regierung hat in den letzten 25 Jahren nie ein eigenständiges wirtschaftliches Projekt entwickelt. Im Zentrum stand immer die Verteilung des Ölüberschusses. Als diese Überschüsse und die Subventionen nachließen, fehlten die Möglichkeiten eigenständig zu investieren, sich technologisch zu erneuern, Betriebsmittel zu kaufen. Dazu kommen Wirtschaftssanktionen der USA. Beides zusammen hat die Wirtschaft des Landes zerstört. Eine Wirtschaft, die 100 Jahre lang auf der Grundlage von Öl funktioniert hat. Der Staat war der große Verteiler der Öleinnahmen, was die gesamte Wirtschaftstätigkeit aufrechterhielt.
Vor ein paar Jahren gab es ein Projekt der Regierung, dem wirtschaftlichen Zusammenbruch mit der Erschließung des sogenannten Orinoco-Bergbaubogens ( Arco Minero del Orinoco ) entgegenzuwirken. Zusätzlich zum Öl sollten mit Bergbau Devisen ins Land kommen. Wie hat sich dieses super-extraktivistische Projekt entwickelt?
Erstens wurde erkannt, dass die Ölförderung als Grundlage der Volkswirtschaft erschöpft ist. Die Fördermöglichkeiten nahmen ab, die starken Preisschwankungen auf dem Weltmarkt führten immer wieder zu Einbrüchen bei den Devisen- und Staatseinnahmen. Gleichzeitig gab es seitens der Bevölkerung die Erwartung, dass die Wirtschaft weiter wachsen würde, der Staat genug Mittel hätte und sich die Lebensbedingungen verbessern würden. Doch es wurde, wie gesagt, kein alternatives Projekt zur Schaffung von Wohlstand entwickelt. So etwas benötigt ja auch Zeit. Stattdessen verkündete die Regierung im Februar 2016, den Bergbau massiv zu fördern. Gerechtfertigt wurde das damit, dass der illegale Kleinbergbau verschwinden müsse, Ordnung zu schaffen sei und große Unternehmen, vor allem Goldfirmen aus Kanada, investieren sollten. Das Gold sollte das Öl ersetzen. Aber das ist nie passiert, unter anderem weil den internationalen Unternehmen die Rechtssicherheit fehlte.
Die großen Investoren blieben also aus. Stattdessen entwickelte sich ein informeller Goldbergbau im Orinoco-Gebiet, an dem sich Teile des Militär, die kolumbianische Guerilla ELN, kolumbianische Paramilitärs und verschiedene venezolanische nichtstaatliche Akteure bereichern. Unter diesen Akteuren bildeten sich so genannte Syndikate, also nicht staatliche Gewaltakteure heraus, die die Herrschaft in der Orinoco-Region übernahmen. Sie kontrollieren weite Teile der Region, schlichten lokale Streitigkeiten, kontrollieren den Goldbergbau, bestimmen den Preis, zu dem Gold verkauft werden kann.
Kommen denn überhaupt internationale Investitionen nach Venezuela? Welche Rolle spielt dabei die US-Regierung?
Aktuell kommen nur sehr wenige ausländische Investitionen ins Land. Anfang Oktober war in der Presse zu lesen, dass die Regierung Biden die Genehmigung für Chevron, in Venezuela Öl zu fördern und in die USA zu exportieren, bis April nächsten Jahres verlängert. Die Venezuela-Politik der US-Regierung ist durch kurzfristige und langfristige Interessen gekennzeichnet, die nicht unbedingt übereinstimmen. Zum einen verfolgt die US-Regierung die Strategie der kurzfristigen Stabilisierung der venezolanischen Situation, das heißt größtmögliche Stabilität im Inneren Venezuelas, um die politischen Kosten einer steigenden venezolanischen Migration im US-Wahlkampf gering zu halten. Nur so ist zu erklären, dass die US-Regierung auf den Wahlbetrug nicht mit mehr Sanktionen reagiert hat. Sie weiß, dass weitere Sanktionen zu verstärkter Migration, weiterer Verschlechterung und größerer Instabilität führen würden. Nach den Wahlen könnte sich dies also ändern. Zum anderen bestimmt der langfristige geopolitische Wettbewerb mit China und der Krieg in der Ukraine die US-Außenpolitik in Bezug auf Venezuela. Die Vereinigten Staaten sind daran interessiert, mehr Öl auf den Markt zu bringen, zur Not eben aus Venezuela, damit die europäischen Staaten nicht in die Versuchung geraten, fossile Energien wieder aus Russland zu kaufen.
Gleichzeitig haben die Chinesen die Geduld mit Venezuela verloren. Venezuela schuldet China etwa 60 Milliarden Dollar an Krediten, die es seit einiger Zeit nicht bezahlt hat, die es vermutlich auch nicht bezahlen wird. Eine ökonomische Unterstützung aus China gibt es praktisch nicht mehr. Zwar arbeiten auch weiterhin chinesische Unternehmen in Venezuela, etwa im Bereich Infrastruktur oder Ölförderung. Die unterscheiden sich in Bezug auf Ausbeutung aber nicht von anderen transnationalen Unternehmen.
Welche Rolle spielen die Rücküberweisungen der Migrant:innen für die Stabilität der Wirtschaft?
Ich kenne keine verlässlichen Schätzungen. Ein beträchtlicher Teil der Menschen, die das Land verlassen haben, stammen aus sozialen Schichten mit niedrigen Einkommen. Ihre Einkommensmöglichkeiten in den Ankunftsländern sind begrenzt. Entsprechend gering sind die Überweisungen nach Venezuela. Dennoch ist natürlich der Unterschied für Familien, die zwischen einem Mindestlohn von 3 Dollar pro Monat in Venezuela und einer Überweisung von 50 Dollar liegen, sehr groß. Das Thema Migration hat in Venezuela eine tiefe gesellschaftliche Wunde erzeugt. Alle sind betroffen; da ist etwa das Drama der Großmütter, die davon überzeugt sind, dass sie ihre Enkel:innen nie wieder sehen werden. Eines der Dinge, die die Kandidatin der Opposition, María Corina Machado, in ihrer Wahlkampagne vorgeschlagen hat, ist, dass die Kinder zurückkehren können sollten, damit die Mütter ihre Kinder sehen können. Das ist etwas, was die Gefühle der Menschen direkt anspricht. Die Migration ist eine Realität, die das soziale Gefüge der venezolanischen Gesellschaft und der Familien zerreißt.
Wie fühlt sich die enorme Auswanderung im Alltag an? Was bedeutet das für das soziale Gefüge?
Für die verschiedenen sozialen Schichten bedeutet es natürlich Unterschiedliches. Die mittleren und oberen sozialen Schichten haben die Möglichkeit zu reisen und können ihre Verwandten besuchen. In den ärmeren Schichten wird es als eine Art Herzschmerz empfunden, dass etwa Enkelkinder geboren werden und die Großeltern sie nie kennen lernen werden. Da ist dieses Gefühl, dass es sich um einen unumkehrbaren Prozess handelt.
Was macht aktuell die Opposition und was machen die sozialen Bewegungen?
Bei der Opposition handelt es sich um ein heterogenes Spektrum verschiedener Sektoren. Was in Venezuela als Opposition bezeichnet wird ist ein Bündnis rechter Parteien, das Edmundo González Urrutia und María Corina Machado unterstützte. Offensichtlich dachte dieser Sektor, dass den Umfragen und den Mobilisierungen zufolge die Niederlage der Regierung so absolut vernichtend sein würde, dass die Regierung keine andere Wahl hätte, als die Macht abzugeben. Doch, wie bereits weiter oben erwähnt, war das nicht möglich. Sie hatten viele Beobachter:innen bei den Wahlen, Zeugen bei der Abstimmung, Kopien der Protokolle, die sie veröffentlichten, um die Niederlage zu belegen. Aber anscheinend gab es keinen Plan, wie man den Kampf fortsetzen könnte, falls die Regierung so reagieren würde, wie sie reagiert. Also sind sie gelähmt. María Machado traut sich nicht, die Leute zum Straßenprotest zu mobilisieren, weil es zu viele Repressionen gibt. Sie ist quasi untergetaucht, man hat sie schon lange nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen. Sie ist zwar ständig auf Pressekonferenzen, aber die sind alle virtuell. Es ist schwer zu sagen, wie lange es dauert, bis ihr Aufenthaltsort bekannt wird. Edmundo González hat das Land verlassen und ist mittlerweile in Spanien.
Jenseits der rechten Opposition gibt es Sektoren und Gruppen, die die Notwendigkeit der Bildung eines breiten Bündnisses gegen die Regierung erkennen. Die emanzipatorische Linke alleine wird den Widerstand nicht leisten können. Es bedarf einer Art breiten Front zur Verteidigung der Demokratie und der Verfassung. Es gibt einige Schritte in diese Richtung, aber das wird nicht von heute auf morgen geschehen. So hat zum Beispiel einer der Präsidentschaftskandidaten einer Partei, die sich für soziale Fragen einsetzt aber nur sehr wenig Stimmen erhalten hat, eine sehr aktive öffentliche Rolle in den letzten Wochen eingenommen und alle zur Verfügung stehenden rechtlichen Instrumente genutzt, um den Wahlbetrug anzuprangern. Ende September hat er bei der höchsten Berufungsinstanz Venezuelas, der Verfassungskammer des Obersten Gerichtshofs, einen Antrag auf Aufhebung der Entscheidung der Wahlkammer gestellt, die den Betrug besiegelte. Dafür hat er ein 80-seitiges Papier vorgelegt, in dem er sehr präzise und minutiös alle Artikel der Verfassung, von Wahlgesetzen und gesetzlich geregelter Verfahrensabläufe auflistet, die während der Wahlen verletzt wurden. Eine kleine, mehr oder weniger repräsentative Gruppe der Zivilgesellschaft hat das Dokument unterschrieben, unter anderem wir als Bürger:innen-Plattform zur Verteidigung der Verfassung in Venezuela. Das hat viel Aufmerksamkeit in den sozialen Medien erzeugt, was sehr gut war. Die Idee im Moment ist, viele kleinere Aktionen zu unternehmen, um die Kritik und den Druck aufrechtzuerhalten, auch wenn es keinen Masterplan zum Sturz einer Diktatur gibt. Es geht vielmehr darum Kanäle offen zu halten, über die die Menschen ihre Unzufriedenheit ausdrücken, ihren Protest formulieren und artikulieren können. Und es geht aktuell darum, überhaupt wieder Vertrauen herzustellen zum Beispiel mit den konservativen politischen Sektoren, zu denen es viel Misstrauen gibt. Es gibt viele Leute, die schnell von Ultrarechten oder Faschismus sprechen. Ich denke, wir müssen stärker differenzieren und sprachlich abrüsten, wenn wir irgendwie eine breite Allianz aufbauen wollen, bei allen politischen Differenzen, die es klarer Weise gibt.
Was bedeutet das? Wie kann das gelingen?
Aktuell müssen wir es schaffen vom Links-Rechts-Gegensatz zum Gegensatz zwischen Autoritarismus und Demokratie zu kommen. Wenn das erreicht ist, dann werden wir sehen, wie konkrete Alternativen weiter politisch diskutiert werden und welches Land wir wollen. Aber im Moment ist das einfach nicht möglich.
Seit 1999 war Venezuela eine Referenz für die globale Linke. Chávez erklärte um 2007 herum das Ziel, den Sozialismus im 21. Jahrhundert zu verwirklichen. Was können wir als internationalistische globale Linke aus den letzten 25 Jahren in Venezuela lernen?
Ich würde diese Frage aus zwei Perspektiven beantworten. Die erste bezieht sich auf die Notwendigkeit der Selbstkritik hinsichtlich der Bewertung der venezolanischen Entwicklungen. Rückblickend zeigt sich eine große politische Blindheit gegenüber den Entwicklungen in Venezuela. Das hat viel mit einem dogmatischen Glauben an die Revolution zu tun. Es gab in der Tat schon früh Anzeichen autoritärer Tendenzen, etwa den Messianismus von Chávez, die massive Präsenz des Militärs, die Betonung des Extraktivismus, das Fehlen eines alternativen Produktionsmodells. Später, als Chávez in 2007 die Revolution als sozialistisch deklarierte, identifizierte man Sozialismus mit Etatismus, mit jenen Konsequenzen für die Wirtschaft, auf die ich oben hingewiesen habe. Und mit Folgen für die demokratische Basisorganisation. Die erfolgte in den ersten Jahren der Regierung Chávez oft spontan, von unten, mit oder ohne Unterstützung der Regierung, inklusiv und vielfältig und mit umfassenden sozialen Errungenschaften wie der Alphabetisierung, Zugang zu Wasser, die Verbesserung der Gesundheitsversorgung. Spätestens die Entscheidung Chávez‘, eine sozialistische Einheitspartei zu gründen, der sich alle Koalitionspartner unterordnen sollten, stellte eine Zäsur dar. Das alles geschah mit einem völligen Mangel an historischem Problembewusstsein, nicht nur hinsichtlich des sowjetischen Sozialismus. In Venezuela gab es in den 1960er Jahren eine sehr ernsthafte Debatte über die Erfahrung des Sozialismus und der Einheitspartei, über Alternativen, über das Verhältnis von Partei und Bewegungen. Diese Diskussion verschwand aus dem politischen Bewusstsein der jüngeren Generationen. Als der Sozialismus des 21. Jahrhunderts ausgerufen wurde, war es, als würde man von Null beginnen, ohne irgendeinen Blick zurück. Wie kann man nach den Erfahrungen des sowjetischen Sozialismus zur Bildung einer Einheitspartei aufrufen? Irgendetwas aus dieser Geschichte muss man doch lernen im Sinne von „wie können wir verhindern, dass dieselben autoritären Tendenzen entstehen“? Als sich die Revolution für sozialistisch erklärte, nahm der kubanische Einfluss in einem außerordentlich Maße zu. Man schickte viele junge Leute zur ideologischen Schulung nach Kuba. Das waren junge Leute, die absolut an den Sozialismus glaubten, daran, dass dies die Wahrheit war und das, was getan werden musste.
Ein anderer wichtiger Aspekt ist, wie diese [etatistische] Vorstellung von sozialistisch und revolutionär die demokratischen Basisorganisationen beeinflusste. Nach und nach wurde ein umfassendes Institutionengefüge von oben aufgebaut, mit klaren Vorgaben, wie die Basisorganisationen, etwa die Gemeinderäte gebildet werden sollten. Es wurde ein ganzer Apparat geschaffen, der absolut vom Staat bestimmt und finanziert wurde.
Ab wann nahmen diese starken Regulierungen und Vereinheitlichungen zu?
Das war ab 2008 noch unter Chávez. Dann kam das Problem hinzu, dass es abgesehen vom Diskurs, kein alternatives Projekt zum Öl gab, das zur Schaffung von Wohlstand führte. Die angesprochenen lokalen Basisorganisationen wurden auch aus den Öleinnahmen finanziert. Und mit den finanziellen Ressourcen erfolgte die politische Loyalität. Die ehemals reiche Erfahrung der Vielfalt basisdemokratischer Organisation wurde schließlich Teil des Staates und der Partei. Ohne jegliche Autonomie.
Was sind die Lehren hieraus? Ist ein anderer, demokratischer „Sozialismus im 21. Jahrhundert“ möglich?
Ich bin überzeugt, dass wir die Verbindung zwischen links sein und dem Begriff des Sozialismus vollständig aufgeben müssen. Der Sozialismus als historische Erfahrung ist gescheitert – und zwar überall auf der Welt. In Afrika, in Asien, in Europa, in Osteuropa, in Lateinamerika. Und jede dieser Erfahrungen endete ausnahmslos in einem autoritären Regime. Das bedeutet natürlich nicht, dass wir denken sollten, der Kapitalismus sei für ewig. Die antikapitalistischen Kämpfe und die Kämpfe dessen, was wir historisch als Linke definiert haben, sind viel breiter angelegt. Viele der theoretischen Interpretationen eines Teils des Marxismus, diese Vorstellungen von Stufen, von der Linearität des historischen Seins, des historischen Subjekts, sind gescheitert. Dennoch haben sie zusammen mit dem Lagerdenken und der Logik des Kalten Krieges in Teilen der Linken weiterhin ein großes Gewicht. So unterstützt das Forum von São Paulo, das wichtigste Bündnis linker Parteien und Bewegungen in Lateinamerika, auch weiterhin die Regierung von Daniel Ortega in Nicaragua und natürlich auch die von Maduro. Damit schaden sie der Linken zutiefst. Denn wenn wir eine Regierung „links“ nennen, die autoritär, repressiv, korrupt und extraktivistisch ist, dann stehen wir auf der Seite der Rechten.
Ulrich Brand (Universität Wien) und Kristina Dietz (Universität Kassel) führten das Gespräch Anfang Oktober beim Treffen der vom Anden-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung finanzierten, seit 2011 bestehenden Permanenten Arbeitsgruppe „Alternativen zu Entwicklung“, deren Mitglied auch Lander ist, der darüber hinaus auch der erwähnten Plattform zur Verteidigung der Verfassung in Venezuela angehört.
Foto Edgardo Lander © RLS
Cali, Baku, Rio. Es war ein Herbst der Gipfel. Der Gipfel ohne Höhepunkte, der Gipfel ohne Ankommen – im Sinne von angemessenen und glaubwürdigen Ergebnissen. Als ob die Welt Zeit hätte. Wirbelstürme in der Karibik und den USA, ja selbst in Südeuropa. Taifune in Taiwan und China. Unwetter kennen keine ideologischen - oder Landesgrenzen. Starkregen und Überflutungen in Nepal, Frankreich, in Spanien mit mehr als 200 Todesopfern, ja auch in Österreich. Brände in Griechenland und in Amazonien. In Indien fällt wegen Smog der Schulunterricht aus. Man soll im Haus bleiben. Die Besucher der COP 16 Artenschutz-Konferenz in Cali wurden dort von Ascheregen begrüßt, immer noch eine Begleiterscheinung der Zuckerrohrernte. Bolivien erlebte die schlimmste Naturkatastrophe seiner Geschichte und rief einen nationalen Notstand aus. Rund zehn Millionen Hektar – eine Fläche deutlich größer als Österreich – im amazonischen Umland sind abgebrannt. Im Vorjahr waren es „nur“ 6,3 Millionen Hektar. Es geht um’s Klima, es geht um die Welt. Und immer wieder geht es dabei um Amazonien, ihre „grüne Lunge“. Es geht darum, Kipppunkte zu vermeiden, points of no return , wo die Schäden irreversibel sind und selbst weitere Schäden hervorrufen. In dieser Lage lassen Berichte der Vereinten Nationen und von NGOs aufhorchen, die vor einer gefährlichen Verknüpfung von Umweltzerstörung, Menschenrechtsverletzungen und dem Organisierten Verbrechen in Amazonien warnen, wodurch eine neue Dynamik entsteht.
Es war bei einem Lokalaugenschein im TIPNIS, einem Natur- und Indígena-Schutzgebiet (Territorio Indígena y Parque Nacional Isiboro – Securé; letzteres sind zwei Flüsse, die das Schutzgebiet eingrenzen) am Fuße der Andenkette, wo die Berge enden und Amazonien beginnt. Damals waren Proteste von Umweltschützern und indigenen Vertretern gegen ein Straßenbauprojekt durch das unzugängliche Regenwaldgebiet von der Größe Tirols die erste große Herausforderung für die Regierung Morales in Bolivien, weil es ohne die verfassungsmäßig vorgeschriebene Konsultation der indigenen Bevölkerung und ohne Umweltverträglichkeitsprüfung in Angriff genommen wurde. Drei indigene Völker leben dort: Yuracaré, Moxeños und Chimanes. In der Tat findet die meiste Entwaldung im Umkreis von fünf Kilometern zu einer Straße statt. Im konkreten Fall befürchteten die Gegner des Projekts insbesondere ein weiteres Vordringen des Kokaanbaus und des Kokaingeschäfts im Schutzgebiet. Der oberste Drogenbekämpfer des Landes, in etwa im Rang eines Staatssekretärs, warnte beim Ortstermin vor Vereinfachungen. Das TIPNIS sei ein komplexes Universum. Siedler, unter ihnen Kokabauern, würden illegal vordringen, indigene Gemeinschaften ihren Lebensraum verteidigen. Es gebe aber auch Indígenaführer die selbst in den illegalen Export von Tropenhölzern verstrickt seien. Unlängst hätten seine Spezialkräfte im TIPNIS ein 24-stündiges Feuergefecht mit Kolumbianern gehabt, die dort ein Kokainlabor betrieben. Ich selbst war der Auffassung, dass jedenfalls das Drogengeschäft die Klandestinität suche und eine Straße eher das Vordringen der Sicherheitskräfte erleichtern würde. Das war im Jahr 2011.
Triebkraft Drogenhandel
Die Kokainproduktion ist für die daran beteiligten Länder sowohl ein wichtiger– wenn auch illegaler – Wirtschaftsfaktor, als auch ein ernstes gesellschaftspolitisches und ökologisches Problem. Kokablätter werden überwiegend an den Ostabhängen der Anden produziert, wo diese nach Amazonien hin abfallen. Bei der Weiterverarbeitung kommen große Mengen verschiedener Chemikalien zum Einsatz, beispielsweise rund 300 Liter Kerosin pro Kilo Kokain-Hydrochlorid. Die drei wichtigsten Produzenten haben jeweils Flächenanteile an Amazonien: Kolumbien (7 Prozent), Peru (13), und Bolivien (8), ergänzt noch durch Brasilien (59 Prozent), das eine wichtige Rolle beim Transit der fertigen Droge zu den Absatzmärkten spielt. Besonders verheerend wirkt sich die jahrzehntelang vorherrschende Politik der Vernichtung von Kokafeldern aus, teilweise durch Besprühen mit Pflanzengift aus der Luft. In Ermangelung tragfähiger Alternativen zogen die Bauern ins Hinterland und legten neue Felder an. Diese Drogenbekämpfungspolitik ohne Nachhaltigkeit brachte alljährlich tolle Ergebnisse in den Statistiken, doch unter dem Strich liegt die Koka- und Kokainproduktion nach beinahe fünf Jahrzehnten dieser Politik heute auf historischem Rekordniveau. Und während sie einerseits so erfolglos war, dass es das illegale Drogengeschäft nicht einmal nötig hatte mit der Produktion in andere Weltregionen auszuweichen* oder auf die Sorte Epadú, deren Blätter zwar weniger Kokain enthalten, die aber unter dem amazonischen Blätterdach gedeihen kann und insofern kaum aufspürbar ist, hat die Kokavernichtung ohne Nachhaltigkeit im Laufe der Jahre wohl an sich schon Millionen von Hektar (Sub-) Tropischen Regenwald gekostet.
Nachdem man in der internationalen Drogenpolitik langsam dabei ist, jahrzehntelang getragene Scheuklappen abzulegen und ganzheitlicher zu denken, öffnete das Drogenkontrollprogramm der Vereinten Nationen (UNODC – United Nations Office on Drugs and Crime) mit seinem World Drug Report 2023 noch eine andere Perspektive: Ein ganzes Kapitel 4 ist dort der Verschränkung verschiedener krimineller Aktivitäten und der Umweltzerstörung in Amazonien gewidmet. Die Drogenökonomie, so heißt es dort, wirke als Antrieb für andere illegale Aktivitäten und Umweltzerstörung: illegale Landnahme, Abholzung, illegalen Bergbau, illegalen Handel mit Tieren und Pflanzen (Wildlife Crime). Geringe staatliche Präsenz, Armut und Korruption in Amazonien wirken als fruchtbare Nährlösung dafür und als Katalysator für Sekundärkriminalität: Steuer- und Finanzdelikte, Korruption, Totschlag, Überfälle, sexuelle Gewalt, Ausbeutung von Arbeitern und Minderjährigen sowie Gewalt, Mord und Totschlag gegenüber Umweltschützern, Menschenrechtlern und indigenen Völkern. Größer als der Umwelteffekt der Drogenproduktion an sich seien die Folgeschäden der dadurch angefachten Drogenökonomie, zum Beispiel die Anlage von Profiten in Viehzucht, Sojaanbau, im Holzgeschäft und in Goldminen, die oftmals zu Konflikten mit der indigenen Bevölkerung führen.
Katalysator Gold
Vor 35 Jahren durfte ich als Referent bei einer Menschenrechtsorganisation für das Volk der Yanomami kämpfen und habe dabei einen Film des bekannten Survival-Experten Rüdiger Nehberg und des Filmemachers Wolfgang Brög gegen Puristen in unserem Verband verteidigt. Die beiden hatten sich unter dem Vorwand, für einen deutschen Unterweltler Schwarzgeld investieren zu wollen, bei illegalen Goldsuchern eingeschlichen. Resultat war eine bedrückende Dokumentation über Umwelt- und Menschenrechtsverbrechen sowie die Untätigkeit der zuständigen brasilianischen Regionalbehörden. Sie hatten dabei auch Yanomami gefilmt, die dies offensichtlich nicht wollten, was kritisiert worden war. Der Film war zur Hauptsendezeit im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ausgestrahlt worden und ich verteidigte ihn mit dem Argument, ich könne wohl hunderte politisch korrekter Pressmitteilungen schreiben ohne ein vergleichbar großes Publikum zu erreichen. Genützt hat das alles ohnehin nichts. Die Lage ist heute schlimmer denn je.
Es ist schwierig, gegen den Markt anzukämpfen. Das wissen nicht nur Drogenfahnder. Der Goldpreis hat sich seit 2008 verdreifacht. Die größten Produzenten sind China (370 Tonnen), Australien (310); Russland (310), Kanada (200), die USA (170). Erst an 6. Stelle folgt mit Mexiko (120) ein lateinamerikanisches Land, an 11. Peru (90) und an 14. Brasilien (60). Brasilien soll über einige der größten Goldvorkommen verfügen, hauptsächlich im Norden, in Amazonien, auf dem Gebiet der Yanomami. Die Goldförderung in den Andenländern und in Amazonien ist häufig illegal – geht also allenfalls indirekt in die Statistik ein – und ist mit großen Umweltverheerungen verbunden. Oft kommt dabei das giftige Schwermetall Quecksilber zum Einsatz. In Brasilien dürfte die Hälfte der Goldförderung illegal sein und findet – zum Beispiel im Yanomami-Gebiet an der Grenze zu Venezuela – unter Kontrolle der großen brasilianischen Drogenorganisationen, wie dem Primeiro Comando da Capital (PCC) statt, das den Schürfern „Schutz“ anbietet, „Steuern“ verlangt, Schürfstellen kontrolliert und manchmal Maschinen stellt und wartet. In Peru und Bolivien mischt das Comando Vermelho mit, die älteste brasilianische Drogenorganisation, die 1979 in Rio gegründet worden war.
Zwischen 2011 und 2021 sei es in Brasilien zu einem Anstieg des Abbaus auf indigenen Territorien um 625 Prozent gekommen, besonders stark seit 2019. Während der Covid-19-Pandemie sei es bei abnehmenden Kontrollen und gekürzten Budgets zu einem regelrechten Goldrausch gekommen, berichtet das UNODC. Von Januar 2019 bis Dezember 2022 war dort der rechtsextreme Jair Bolsonaro Präsident, dem Indianerschutzrechte und Umweltschutz wenig und die Erschließung der „grünen Hölle“ Amazoniens viel bedeuten. Mit desaströsen Folgen, verheerenden Ausbrüchen von Unterernährung und Krankheiten. Besonders betroffen sind die Schutzgebiete der Yanomami mit etwa 30.000 Menschen. 50-90 Prozent von ihnen leiden unter Quecksilbervergiftungen unterschiedlichen Grades sowie unter der Zunahme von Gewalt.
In Kolumbien, Peru und Bolivien findet man Gold häufig in den Flüssen an den Ostabhängen der Anden, wo auch die wichtigen Kokaanbaugebiete liegen. In allen diesen Gebieten ist ein signifikanter Anstieg der Mord- und Totschlagsraten festzustellen.
Der Preis für einen Barren (ein Kilogramm) liegt mit rund 82.000 € rund doppelt so hoch wie der für ein Kilo Kokain zu Großhandelspreisen in europäischen Metropolen. Wobei mit Kokain im Straßenverkauf dann doch noch weit höhere Preise erzielt werden. Gold stinkt nicht. Im Vergleich zu Kokain ist es viel leichter verkehrsfähig. Ideal zur Geldwäsche.
Kolumbien – Ecuador – Connection
Machtvolle Drogenorganisationen sind besonders im Dreiländereck zwischen Brasilien, Kolumbien und Peru aktiv, einschließlich in und um die benachbarten Städte Leticia in Kolumbien und Tabatinga in Brasilien sowie Santa Rosa de Yavarí in Peru. Mit ihrer Kontrollfunktion für das Kokaingeschäft und dem Reichtum an ausbeutbaren Ressourcen weist diese Region heute möglicherweise die höchste Dichte von Gruppen der Organisierten Kriminalität auf, vermutet das UNODC. Menschenrechtsorganisationen beziffern die Mord- und Totschlagsrate in Tabatinga mit 106,6, in Leticia mit 60 und in Manaus mit 45 (pro 100.000 Einwohnern; in Deutschland liegt sie bei 0,8, in Österreich bei 0,9).
Nördlich davon fließt der Río Putumayo, der weiter östlich in den Amazonas mündet und im Oberlauf über hunderte von Kilometern die Grenze zwischen Kolumbien und Peru beziehungsweise Ecuador bildet. Der Vektor des Kokaingeschäfts verläuft hier stromaufwärts nach Ecuador, das Anfang 2024 in einer Welle der Gewalt versank, weil sich dort die Statthalter mexikanischer Organisationen blutige Revierkämpfe lieferten. Ein Vierteljahrhundert militarisierter Drogenkrieg und Milliarden von US-Hilfen im Rahmen des Plan Colombia haben nichts daran geändert, dass laut dem World Drug Report des UNODC 230.028 Hektar Koka (von insgesamt rund 300.000) in Kolumbien angebaut werden und nach wie vor auch etwa zwei Drittel der Kokainlabore in Kolumbien entdeckt und zerstört werden – fast die Hälfte davon in den südlichen Departments Putumayo und Nariño im Grenzgebiet zu Ecuador. Die Verlagerung des Kokaanbaus in den Süden wird ebenso als Konsequenz des Plan Colombia angesehen wie der Friedensprozess mit der ältesten Guerilla, den 1964 gegründeten Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC), vor einem Jahrzehnt. Präsident Juan Manuel Santos bekam dafür im Oktober 2016 den Friedensnobelpreis. Der Friedensplan wurde jedoch nur halbherzig vollzogen. Nachfolger Iván Duque lehnte ihn ab. Hunderte früherer Guerillakämpfer, die ihre Waffen abgelegt hatten, wurden später ermordet. Verschiedene ihrer frentes (Fronten i.S. von Abteilungen) , die große Autonomie genossen , hatten sich schon vorher mit dem Drogengeschäft finanziert und machten einfach weiter. Letztlich gelang es dem kolumbianischen Staat nicht, in den früheren Guerillagebieten rechtsstaatliche Präsenz zu schaffen. Durch den Einsatz verbesserter Sorten und Anbaumethoden soll die Ernte nach Berechnungen des UNODC um durchschnittlich 24 Prozent angestiegen sein und durch Optimierung der Weiterverarbeitung auch der Kokainertrag. Solche neuen Hochproduktivitätszonen befinden sich unter Kontrolle rechter Narcoparamilitares , FARC-Dissidenten beziehungsweise des noch aktiven Ejercito de la Liberación Nacional ( ELN ) , einer weiteren Guerilla. Alle zusammen werden sie Grupos Armados Ilegales ( GAI ) genannt. 35 Prozent der Kokaanbaufläche Kolumbiens befinden sich in Zonen, in denen GAI präsent sind. Diese arbeiten fallweise zusammen oder bekriegen sich. Aber alle sind um strikte Kontrolle des Produktionsprozesses bemüht. Im Department Putumayo lassen sich sechs Gruppen identifizieren, die nahezu umfassende Kontrolle ausüben. Die größten sind ehemalige f rentes der FARC , das Comando Frontera und die Frente Carolina Ramírez – und sie bekämpfen sich.
Amazon Underworld
Im Rahmen des 20. Treffens der Mitgliedsstaaten der UN Konvention gegen das Organisierte Verbrechen treffe ich im Herbst 2024 den NGO-Vertreter Raphael Hoetmer und zwei Indígena-Vertreter aus dem peruanischen Amazonien, die ihre Namen besser nicht veröffentlicht wissen wollen. In ihre Heimatdörfer trauen sie sich nicht zurück. Das Hauptproblem dort sei der Kokainhandel, erzählen sie. Die drei sind in die Wiener UNO-City gekommen, um das Projekt Amazon Underworld vorzustellen, an dem mehrere NGOs und Investigativjournalisten teilgenommen haben. Amazon Underworld machte unter anderem mit Interviews von Behördenvertretern, Sicherheitskräften, Indígenas und verschiedenen illegalen Akteuren vor Ort dort weiter, wo der UN-Bericht aufhört, um zu einem kompletteren Bild der Dynamik des Geschehens zu kommen. In ihrem Bericht erscheint Amazonien als Karte, in der die Grenzgebiete von Brasilien, Französisch Guayana, Surinam, Venezuela, über Kolumbien, Ecuador, Peru bis Bolivien und Paraguay von einem dicken Halbmond verschiedener illegaler Aktivitäten und Akteure umgeben sind. Aus der Nähe besehen handelt es sich dabei um einen bunten Flickenteppich krimineller Akteure; selten besteht Hegemonie, häufig gibt es Konflikte. In 70 Prozent der untersuchten Gemeinden waren irreguläre bewaffnete Gruppen präsent: kolumbianische Guerillas, brasilianische kriminelle Organisationen, venezolanische und peruanische Banden, nicht selten auch unter Duldung oder in Komplizenschaft mit den lokalen Behörden. Dabei komme es auch zu Fällen moderner Sklaverei und Menschenhandel.
Die dort lebenden indigenen Gemeinschaften und ihre Territorien spielen eine fundamentale Rolle beim Schutz der Regenwälder und sind gleichzeitig den Attacken der Organisierten Kriminalität ausgesetzt. Im letzten Jahrzehnt, so der Bericht in der Einleitung, sei Amazonien zu einer der gefährlichsten Regionen Lateinamerikas geworden und die marginalisierten Gemeinschaften litten am meisten unter der Gewalt. In Brasilien seien indigene Gemeinden systematisch zum Opfer gewalttätiger Invasionen von Goldsuchern geworden, während man in den neun amazonischen Departments Kolumbiens seit 2020 43 Massaker dokumentiert habe und bewaffnete Gruppen die ländlichen Gemeinden terrorisierten. In Peru rekrutieren Drogenhändler indigene Kinder, um in den Kokapflanzungen zu arbeiten. Guerillagruppen schicken ganze Familien in die illegalen Goldminen. Laut der Menschenrechtsorganisation Global Witness sei einer von fünf Morden, die im Jahr 2022 weltweit gegen Umweltschützer oder Verteidiger ihres Territoriums verübt wurden, in Amazonien geschehen, nämlich 39.
Rember Yahuarcani aus dem Volk der Huitoto im peruanischen Amazonien wies auf der Biennale 2024 in Venedig in einem seiner farbenfrohen Großgemälde (Titelbild) darauf hin, dass dort zwischen 2013 und 2023 insgesamt 32 indigene Führer und Führerinnen von Eindringlingen, Drogenhändlern und der Holzmafia ermordet wurden. Ihre amazonische Heimat sei für Indigene einer der gefährlichsten Orte.
Eine entscheidende Rolle spielen Straßen. Wie erwähnt, findet die meiste Entwaldung im Umkreis von fünf Kilometern zu einer Straße statt – und in Amazonien entfallen auf einen legalen Straßenkilometer drei illegale. Aber auch andere Infrastruktur erleichtert das Vordringen: illegale Landepisten, desgleichen Flüsse, bevorzugt zur Regenzeit. In Gegenden, wo indigene Territorien fragmentiert, von Straßen durchschnitten oder wirtschaftlich und sozial sehr von städtischen Märkten abhängig sind, wachsen illegale Märkte rasch und machen die indigenen Völker sehr verwundbar, mit der Gefahr einer Desintegration ihrer Gemeinden. In den peruanischen Departments Ucayali und Madre de Dios beispielsweise, wo alle sozialen und politischen Aktivitäten sich mit der illegalen Ökonomie überlappen und sich gegenseitig unterstützen, werden die indigenen Gemeinden dieser Dynamik unterworfen, und wenn sie in der Lage sind Widerstand zu leisten, werden sie bis zu dem Punkt isoliert, dass der Zugang zu ihrem Territorium gefährdet ist. Der Preis, den indigene Organisationen und ihre Führer bezahlen, ist sehr hoch. Sie sind mit Drohungen gegen sich und ihre Familien konfrontiert. Fälle von Gewalt gegen sie werden häufig nicht gut untersucht und bleiben straflos, warnt Amazonia Underworld.
Panorama der kriminellen Akteure
Das Jahr 2016 brachte in mehrfacher Hinsicht neue kriminelle Dynamiken. Das Friedensabkommen mit der ältesten Guerilla des Halbkontinents, den Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC), führte dazu, dass Tausende ihre Waffen niederlegten. Die Guerilla hinterließ vielerorts ein Machtvakuum, das nicht mit rechtsstaatlicher Präsenz gefüllt wurde, sondern von rechtsextremen Paramilitärs, kriminellen Banden und FARC-Dissidenten.
In Venezuela wurde 2016 ein Gesetz zur Erschließung des Grenzgebiets zu Kolumbien, Brasilien und Guyana verabschiedet, des sogenannten Arco Minero Orinoco . Doch die Regierung Maduro ließ keine Initiativen zur Erschließung durch legalen Bergbau folgen. Das Vakuum füllten venezolanische kriminelle Gruppen, häufig in Kooperation mit lokalen Behörden und Sicherheitskräften, aber auch FARC-Dissidenten und ELN-Guerilleros, die schon länger beim Drogentransit in Venezuela tätig waren.
Ebenfalls 2016 wurde auch ein Pakt zwischen drei großen brasilianischen Gruppen der Organisierten Kriminalität aufgekündigt: dem Primero Comando da Capital , dem Comando Vermelho und der Familia do Norte , was zu Revierkämpfen führte. Mit Kleinkriminellen überfüllte Gefängnisse bildeten eine ideale Rekrutierungsquelle.
Die kolumbianische ELN hat eine strategische Präsenz zu beiden Seiten der venezolanischen Grenze. Sie kontrolliert die illegale Goldförderung in den venezolanischen Bundesstaaten Amazonas, Bolívar und Delta Amacuro, wie auch die Routen des Drogenhandels nach Guyana und Brasilien entlang des Cayuní-Flusses und des Río Negro.
Die FARC hatten historisch eine starke Präsenz im kolumbianischen Amazonien, wo sie die Entwaldung begrenzten, weil sie den Schutz des Blätterdaches suchten. FARC-Dissidenten tun dies wieder. Die Entwaldung ist 2022/23 in den Departments Meta, Caquetá und Guaviare drastisch zurückgegangen. Dort operieren La Segunda Marquetalía (unter Luciano Marín Arango alias Iván Marquez) und Estado Mayor Central – FARC (unter Néstor Gregorio Vera Fernandez alias Iván Mordisco). In Venezuela arbeitet die Frente Acacio Medina im Drogentransfer.
Das Primero Comando da Capital (PCC) wurde 1993 im Gefängnis in São Paulo gegründet und ist inzwischen das wichtigste Drogenunternehmen Brasiliens. Traditionell wurden Drogen aus Bolivien und Peru über Paraguay importiert. Mittlerweile ist das PCC auch ins Grenzgebiet zu Venezuela expandiert, wo es über 2.000 Mann verfügen soll und Drogengewinne in die Goldförderung steckt. Verschiedene Quellen berichteten Amazon Underworld, dass das Engagement des PCC dort Supervision, Steuererhebung sowie Dienstleistungen einschließlich Bordellen umfasst.
Das Comando Vermelho (CV) ist das älteste Drogenunternehmen Brasiliens. Es wurde 1979 in Rio gegründet und ist in Paraguay und Kolumbien aktiv sowie neuerdings auch in Bolivien und Peru. Die Familia do Norte (FDN) als Drogenorganisation mit Sitz in Manaus wurde in der zweiten Hälfte der Nullerjahre im Zuge von Auseinandersetzungen weitgehend zerrieben und ist teilweise im CV aufgegangen.
In Ecuador bekriegen sich Los Lobos und die Choneros , die im Drogenexport tätig sind und jeweils mit unterschiedlichen mexikanischen Organisationen Beziehungen unterhalten.
Schlussfolgerungen
Amazonien wird im Zusammenhang mit der Klimakrise und einem möglichen ökologischen Kipppunkt diskutiert. Doch bis zu welchem Punkt muss Amazonien vom Organisierten Verbrechen durchdrungen sein um zu sagen, dass die illegalen Ökonomien die Oberhand haben? In manchen Regionen übersteigen die Gewinne aus illegalen Geschäften bereits die behördlichen Budgets. Mit schwacher Präsenz und geringen Mitteln ist der Kampf dagegen ein Ding der Unmöglichkeit, resümiert der Bericht von Amazon Underworld.
Seine Empfehlungen beziehen sich auf Kooperation und Informationsaustausch, Stärkung der Grenzsicherheit. Whistleblower und Zeugen müssten geschützt und Korruption bekämpft werden. Die Drogenfahndung einschließlich der zu ihrer Herstellung benötigten Chemikalien sollte intensiviert werden. Umweltprobleme und Gewaltakte sollten in einer grenzüberschreitend zugänglichen Datenbank unter besonderer Berücksichtigung der Erfassung Organisierter Kriminalität dokumentiert werden. Generell sei ganzheitliches Denken erforderlich. Umweltprobleme und Sicherheitsfragen müssten zusammen gedacht werden, Umweltschutzkonferenzen und Sicherheitskonferenzen zusammengeführt. Besonders wichtig sind der Schutz und die Stärkung indigener Gemeinschaften. Der Bericht empfiehlt ferner die Ausweisung grenzüberschreitender Schutzgebiete.
Immerhin ein Lichtblick: Mit Gustavo Petro (Kolumbien) und Lula da Silva (Brasilien) haben sich die Präsidenten der wichtigsten Staaten Amazoniens – was Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft betrifft – zu mehr Schutz und Zusammenarbeit bekannt.
* Koka kann überall dort gedeihen, wo auch Kaffee wächst; so war holländisch Indonesien einstmals ein wichtiger Produzent.
Was passiert mit den einstigen Hoffnungsmodellen Lateinamerikas? Kuba und Venezuela läuft die Bevölkerung davon. In Nicaragua herrscht Ortega wie ein abschreckender Diktator. Und in Bolivien arbeitet der erfolgreichste Präsident, den das Land je hatte, heute mit Nachdruck an der Zerstörung seines Erbes und seines Ansehens. Die Berichterstattung unserer Medien – sofern sie von diesen Ländern überhaupt berichten – goutiert Wirtschaftskrisen und die Glaubwürdigkeit von Wahlen. Selten geht es darum, wie es den Menschen geht. Die Solidaritätsbewegung, Freunde und Sympathisanten sehen konsterniert zu – und schweigen.
Tobias Lambert blickt aus linker Perspektive hinter die Kulissen Venezuelas, das mit seinem „bolivarianischen“ Ansatz im neuen Jahrtausend ganz Lateinamerika mitreißen wollte. Er bereist das Land seit mehr als 20 Jahren und berichtet darüber. Kenntnis- und detailreich rekapituliert er die Vorgeschichte und den politischen Prozess unter Hugo Chávez (im Bild auf der Klimakonferenz von Cochabamba, 2010) und danach, bespricht Wahlergebnisse und politische Trends auf der Linken wie auf der Rechten. An vielen Stellen vermisst man im Text regelmäßige Jahreszahlen, die helfen würden, in der Komplexität den roten Faden nicht zu verlieren. Eine Zeittafel wäre eine hilfreiche Ergänzung bei allen weiteren Auflagen.
Drei Linien treten in Lamberts Analyse als Erklärung hervor: erstens der fragile Extraktivismus. Man könnte auch sagen, ein auf die Einkommen aus dem Export nicht erneuerbarer Rohstoffe (Erdöl im konkreten Fall) gestützter politischer und gesellschaftlicher Voluntarismus. Man hat zwar immer gewusst: „hay que sembrar el petroleo“ (man muss die Öleinnahmen säen, die Wirtschaft diversifizieren), es aber nicht getan. Die Korruption im Land wurde durch den Exportboom noch gefördert. Mit sinkenden Weltmarktpreisen bracht die Krise aus.
Zweitens: Die zentrale Rolle einer charismatischen Führungsperson, auf die sich das Projekt stützt und ins Wanken gerät, wenn diese wegbricht. Je stärker das Modell wirtschaftlich und politisch unter Druck geriet, desto mehr reagierte es mit antidemokratischen und repressiven Praktiken, intransparenten Privatisierungen, Teilliberalisierungen unter Beibehaltung staatlicher Kontrollen, steuerfreien Importen von denen eine neue, sogenannte „Bolibourgeoisie“ profitierte. Vom Sozialismus des 21. Jahrhunderts ist nur gelegentlich noch die Rede.
Und drittens die unverbrüchliche Feindschaft der alten Eliten, der nationalen wie der internationalen. In diesem Zusammenhang wird in Lamberts Buch deutlich, wie desolat und zerstritten die venezolanische Opposition zumeist war (und ist), und wie sie trotzdem von Washington und seinen Verbündeten unterstützt wird, egal wie chaotisch sie daherkommt. Man denke nur an die Anerkennung der „Präsidentschaft“ von Juan Guaidó. Nebenbei wirft das auch ein Schlaglicht auf viel kritisierte Allianzen mit Schurkenstaaten wie dem Iran oder Weißrussland. Mit wem, so könnte man sich in europäischen Hauptstädten fragen, sollte ein Präsident denn Beziehungen anknüpfen, auf den Washington ein millionenschweres Kopfgeld aussetzt?
Das Buch behandelt zuletzt sogar noch das umstrittene Wahlergebnis von 2024. Regierung und Opposition reklamieren den Wahlsieg für sich. Washington und seine Verbündeten glauben der Opposition. Beide Seiten behaupten, dass sie ihn dokumentieren können. Wer es definitiv und lückenlos könnte, wäre die Regierung Maduro, woran Lambert keinen Zweifel lässt. Dass sie es nicht tut, schmälert einmal mehr ihre Glaubwürdigkeit, nun auch für die befreundeten Regierungen in Kolumbien und Brasilien, die von der venezolanischen Krise ja mit betroffen sind. Das katastrophale Patt (Antonio Gramsci) zwischen einer repressiv sich an der Macht haltenden Regierung und einer Opposition, von der leider auch nichts zu erwarten ist, können nur die Venezolanerinnen und Venezolaner selbst aufheben. Und darauf besteht vorerst leider wenig Hoffnung.
Wie auch immer: Wer zu Venezuela mitreden will, sollte Lamberts Buch lesen.
Tobias Lambert: „Gescheiterte Utopie? Venezuela ein Jahrzehnt nach Hugo Chávez“, Mandelbaum Verlag, Wien, 2024, 238 S., € 23.-