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Am Schauplatz Chile: Colonia Dignidad

  • von Robert Lessmann Dr. ©
  • 08 März, 2020

Bayrische Gastlichkeit und monströse Menschenrechtsverbrechen





Als Paul Schäfer geflohen war – im November 1996 – und die Polizei hierher kam, haben einige von uns die Straßen blockiert, wollten ihn 'verteidigen'. Wir waren wie Waisen“, sagt Erika, unsere Führerin: „Vom Leben draußen hatten wir keine Ahnung.“


Parral: 39.000 Einwohner, 340 Kilometer südlich von Santiago de Chile an der Panamericana gelegen. Pablo Neruda wurde hier im Jahr 1904 geboren, der chilenische Literaturnobelpreisträger, der zwölf Tage nach dem Putsch von General Augusto Pinochet vom 11. September 1973 unter bis heute ungeklärten Umständen verstarb. Erlag er seiner Krebserkrankung, oder hatte man ihn mit einer Giftspritze getötet?


Von Parral führt eine Straße durch fruchtbare Felder und kleine Ortschaften, Wiesen und zuletzt auch Wälder nach Osten, geradewegs auf die Andenkette zu. Eine romantische Idylle in der Abendsonne. Irritierend nur der Stacheldrahtzaun, der den Fahrweg auf den letzten Kilometern begleitet, mit einem 30 Meter hohen Wachtturm, der aus dem Wald ragt. Wie am „Eisernen Vorhang“ zwischen Ost und West früher, wird er von massiven Betonpfosten getragen, die oben nach innen geneigt sind, um ein Überklettern zu erschweren. Das ist kein Weidezaun. Dass hier etwas „nicht stimmt“, fällt spätestens am Eingang zur „Villa Baviera“ auf, wo eine ältere Dame, wohl Ende 70, aus dem Pförtnerhäuschen tritt, die aussieht und spricht, als sei sie aus der Zeit gefallen – aus einem 50er- oder 60er-Jahre-Film. Die Haare hinten zu einem Dutt verknotet, Strickweste, wadenlanger Rock, Kniestrümpfe. Zimmer seien frei und das Restaurant offen, sagt sie und hebt den Schlagbaum.


Eine gepflegte Allee führt durch eine Parklandschaft zu einer Ansammlung von Häusern. Alles blitzsauber. Architektur der 1960er Jahre. Im Restaurant „Zippelhaus“ gibt es Selbstgebackenes, Eisbein mit Sauerkraut, Kaiserschnitzel nach „Zippel-Art“, Leberkäs', Bratwurst, Münchener Weißwurst und Bier von „Kunstmann“. An den Wänden hängen Musikinstrumente und deutsche Trachten. Bis Mitte der 90er Jahre soll hier auch ein handsigniertes Bild des bayrischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauss (CSU) gehangen haben. Die parteinahe Hanns-Seidel-Stiftung bestätigte dessen Besuch im Jahr 1977, dementierte ihn dann und gab ihn schließlich wieder zu. Draußen steht ein Bierzelt auf der Wiese. Ein „Oktoberfest“ wird vorbereitet. „Chilenische Opferverbände protestieren“, sagt Erika. Sie wollen kein solches Fest auf den Gebeinen ihrer Angehörigen, sagen sie.


Deutsches Wesen in Südamerika

Der Name „Villa Baviera“ stammt aus dem Jahr 1988, die Umbenennung erfolgte also noch unter Paul Schäfer. Davor nannte sich die Gemeinschaft „Colonia Dignidad“ (amtlich: Sociedad Benefactora y Educacional Dignidad; Wohltätigkeits- und Bildungsgemeinschaft Würde – gemeinnützig, steuer- und zollbefreit). Doch Würde und Selbstbestimmung waren das erste, was ihren Bewohnern genommen wurde. Als der deutsche Laienprediger Paul Schäfer im Jahr 1961 hierher kam, um mit seinen Getreuen ein urchristliches Leben im gelobten Land zu führen und sie vor der angeblich unmittelbar bevorstehenden Invasion der Kommunisten zu retten, war dies bereits eine Flucht. Schäfer war wegen seiner pädophilen und sadistischen Veranlagung aus einer Reihe von Glaubensgemeinschaften geflogen und wurde seit 1960 von der Kriminalpolizei in Siegburg wegen Verführung Minderjähriger und Missbrauchs Schutzbefohlener gesucht. Am 18. April 1976 folgte ein internationaler Haftbefehl.


Schäfer muss charismatisch und clever gewesen sein. Unter seinen Jüngern befanden sich Handwerksmeister aus allen Sparten, die für ein Pionier- und Kolonisierungsprojekt nützlich waren. Sie hatten Haus und Hof verkauft und den Erlös in die Colonia eingebracht, oder Maschinen und Werkzeuge gleich mit verschifft. So entstand eine deutsche Vorzeigesiedlung mit handwerklichen Musterbetrieben, deren Produkte sich bis nach Santiago verkauften und nicht zuletzt bei Mitarbeitern der Deutschen Botschaft dort beliebt waren. Deutsche Handwerkskunst und Zwangsarbeit – ein Erfolgsmodell.


Alsbald wurden Sonntag und Kirchgang abgeschafft. Arbeit sei der beste Gottesdienst. Familien wurden auseinandergerissen, Männer und Frauen, Jungen und Mädchen getrennt. Sex war allein dem Sektenführer vorbehalten, der sich dazu jeweils junge Männer auswählte, die „Sprinter“ genannt wurden und ihm in jeder Hinsicht zu Diensten sein mussten. Nach dem anderen Geschlecht nur zu gucken, überhaupt jede Art von Verfehlung war strafbar – und die Strafen waren hart. Der Alltag war optisch und akustisch sowie durch organisiertes Denunziantentum überwacht, eine Flucht durch diese Überwachung, den Zaun, Sensoren und scharfe Hunde so gut wie unmöglich. Nach innen dienten diese Vorkehrungen dem Schutz vor dem Teufel und dem Kommunismus. Ein hermetisch abgeriegeltes, parastaatliches System, wo systematische Denunziation, Entmündigung, Zwangsmedikation, Elektroschocks und Prügel zum Programm gehörten. Darüber hinaus herrschte wohl auch eine schwer begreifliche Gruppenloyalität – nicht zuletzt gegenüber dem Beichtvater für alle, dem tio permanente (dem immerwährenden Onkel), wie Schäfer sich nennen ließ.


Zu ihren Hochzeiten hatte die „Colonia Dignidad“ eine Ausdehnung von 14.000 Hektar (140 km2; was etwas kleiner ist als das Fürstentum Liechtenstein, oder etwa einem Drittel der Fläche der Stadt Wien entspricht), und es lebten bis zu 500 – amtlich sind 300 – Menschen dort, darunter auch 30 Mitglieder der früheren Grazer Pfingstgemeinde.


Obskurantismus – religiös und politisch

Derzeit sind es etwa 150 Menschen. Unter ihnen gibt es jene, die an einer Aufarbeitung interessiert sind, und jene, die den Mantel des Schweigens über die Vergangenheit breiten. Zu Ersteren gehört Erika, die wortreich durch die Anlagen der „Villa Baviera“ führt und vor allem durch eine Scheune, in der man ein kleines Museum zur „Colonia Dignidad“ eingerichtet hat. Auch Ausschnitte aus den Lateinamerika Nachrichten, EPD und Artikel von Amnesty finden sich dort. Es waren Organisationen der Zivilgesellschaft, die auf die Vorgänge in der deutschen Sektenenklave aufmerksam machten. Investigativjournalisten wie Gero Gemballa folgten, der 41-jährig im Jahr 2002 unter mysteriösen Umständen verstarb. Journalisten – und nicht die Behörden – waren es auch, die Schäfer im Jahr 2005 schließlich in seinem Versteck in Argentinien aufspürten. Die Justiz blieb untätig und die deutsche Botschaft in Santiago hielt schützend ihre Hand über die Colonia; die Pässe der Insassen lagen im Safe der Verwaltung und wurden stets en bloc konsularisch bearbeitet, ohne dass die Personen selbst erscheinen mussten. Sogar Rentenzahlungen erfolgten auf diese Weise „automatisch“. Und es gab seltene Fälle, wo eine Flucht gelang und die Flüchtlinge sich hilfesuchend an die Botschaft wandten, nur um postwendend in die Colonia zurückgeschickt zu werden.


Erika war als zweijähriges Mädchen mit ihren Eltern in die „Colonia Dignidad“ gekommen, erzählt sie. Sofort wurde die Familie auseinander gerissen. Sie wuchs unter der Obhut einer „Tante“ auf, wie die temporären Betreuerinnen genannt wurden. „Die harte Arbeit und das karge Leben, die Überwachung und die Strafen, das alles war für uns normal. Wir kannten nichts anderes“, sagt Erika: „Wenn wir als Musiker oder mit dem Chor auswärts Konzerte gaben, fuhren wir im abgedunkelten Bus dorthin, weil wir nichts sehen sollten“. Sie erzählt dann, dass sie nach der Flucht von Paul Schäfer und der Öffnung der „Villa Baviera“ einen Partner geheiratet habe. Doch als sie im Alter von 42 nach drei Ehejahren zum ersten Mal in ihrem Leben einen Frauenarzt aufsuchte, war sie noch immer Jungfrau gewesen: „Wir wussten auch nicht, woher die kleinen Kinder kommen.“ Es fällt ihr erkennbar nicht leicht, von diesen und anderen Dingen, wie Demütigungen und Misshandlungen, zu erzählen und sie berichtet von einem Kollegen, der ebenfalls diese Führungen macht und der hinterher manchmal gar nicht mehr ansprechbar sei. Für sie sei es eher befreiend, sagt sie.


Es ist wohl schwierig bis unmöglich, bei diesen traumatisierten Menschen zwischen Tätern und Opfern zu unterscheiden. Wer hat zu welchem Zeitpunkt welche Rolle gespielt und wer hat was gewusst?


Foltercamp der Pinochet-Diktatur

Nichts gewusst und erst später erfahren hat man angeblich davon, dass die Colonia Dignidad während der Pinochet-Diktatur von dessen Geheimdienst DINA fast 17 Jahre lang als Folterlager für politische Gefangene genutzt wurde. Nur, dass manchmal alle zusammengerufen wurden – auch Kranke – sodass auf dem Gelände unbemerkte Bewegungen hätten stattfinden können.


Doch die Erzählung vom bösen Alleintäter Schäfer ist schon auf den ersten Blick nicht belastbar. Eine Einzelperson kann eine so große Gruppe auf einem so großen Gelände alleine nicht kontrollieren. Unter anderen wurde der Lagerarzt Hartmut Hopp in Chile einschlägig verurteilt, lebt heute als alter Mann aber unbehelligt in Krefeld. Eben wurde dort ein Verfahren gegen ihn nach 30 Jahren eingestellt. Auch die Ärztin Gisela Seewald – ordentlich promoviert war niemand – hat mitgefoltert. Auf dem Gelände wurde später ein Massengrab für über 100 Opfer entdeckt, die exhumiert worden waren und an einen unbekannten Ort gebracht oder verbrannt. Von wem? Und wie sollte ein mäßig gebildeter Laienprediger in der tiefen chilenischen Provinz und lange vor Internet-Zeiten über Anschaffung und Handhabung moderner Überwachungstechnologie und zeitgemäßer Waffen Bescheid wissen? Es liegt auf der Hand, dass es Kontakte zu Geheimdiensten gab. Wohl auch schon vor der Pinochet-Diktatur zur Bewegung Patria y Libertad und zu ANDREA (Alianza Nacionalista de Repúblicas Americanas) – und gerade auch in die alte Heimat.


Eine Symbiose von Päderastie und Antikommunismus?

Eine Schlüsselfigur scheint dabei der Waffen-SS-Mann und Ritterkreuzträger Gerhard Mertins gewesen zu sein, der mit seiner Firma Merex AG Waffen verkaufte, auch in Krisengebiete und auch in Koordination mit dem BND und anderen Geheimdiensten. Im benachbarten Bolivien vertrat Mitte der 60er Jahre Klaus Barbie alias Altmann, der Schlächter von Lyon und damals ebenfalls kurzzeitig BND-Mitarbeiter, die Interessen von Merex. Mertins wurde ab 1956 vom BND unter dem Decknamem Uranus als Mitarbeiter geführt. Er war mehrfach in der „Colonia Dignidad“ zu Besuch, war ein Busenfreund von Pinochets Geheimdienstchef Manuel Contreras und hat im Jahr 1978 den „Freundeskreis Colonia Dignidad“ gegründet, dem zeitweilig 120 Personen angehörten, vor allem aus der CSU, der CDU und ihrem Umfeld; auch der Fernsehmoderator und antikommunistische Eiferer Gerhard Löwenthal („ZDF Magazin“) stand dem „Freundeskreis“ nahe. Dagegen setzten sich die Unionspolitiker Norbert Blüm und Heiner Geissler für eine Aufklärung der Vorwürfe gegen die „Colonia Dignidad“ ein. Übrigens: Außenminister waren zur fraglichen Zeit im Kabinett von Willy Brandt (SPD) Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher (FDP).


Die zoll- und steuerbefreite deutsche Sektenenklave wäre mit ihren zwei Landepisten ein ideales Trampolin zur Versorgung konservativ-reaktionärer Kreise gewesen, wie sie – unterstützt von der CIA - im Rahmen der Domino-Theorie angetreten waren, um Linksregierungen zu verhindern, und wie sie dann unter Salvador Allende (1970-73) durch Terror und Sabotage aktiv dessen Sturz vorbereiteten. Hat der BND hier einem befreundeten Geheimdienst über die „Colonia Dignidad“ Hilfe geleistet? Ist so das mehr als seltsame Verhalten deutscher Behörden und der Botschaft erklärbar? Jedenfalls war der BND durch die CIA schon einige Tage vorab über den bevorstehenden Putsch gegen Allende informiert worden, ohne die Information an Willy Brandt weiter zu geben. Hatten sich die „Dienste“ verselbständigt?


Frank Walter Steinmeier ordnete noch in seiner Funktion als Außenminister die vorzeitige Öffnung der Archive des Auswärtigen Amtes an. Interessant wäre indessen vor allem eine Öffnung der BND-Archive, um die sich die Journalistin Gaby Weber vergeblich bemühte. Nach einem positiven Urteil des Bundesverwaltungsgerichts gab der BND nur 22 relativ nichtssagende Seiten an das Bundesarchiv in Koblenz. Der Rest befindet sich – mit dem Segen des Bundeskanzleramts - in den Beständen der sogenannten Notvernichtungshandlung, wo beispielsweise auf Kriegsschiffen Dokumente liegen, die keinesfalls dem Feind in die Hände fallen dürfen.


Die „Geschichte“ der Colonia Dignidad ist nach wie vor aktuell. Der Deutsche Bundestag beschäftigt sich mit Rentenansprüchen und Schadenersatzforderungen von Mitgliedern. An der FU-Berlin läuft ein Oral History-Projekt, bei dem Mitglieder und Nachbarn befragt werden. Ein weiteres Projekt zur Geschichte des BND wird hoffentlich neue Erkenntnisse liefern. In Deutschland endete kein einziges Gerichtsverfahren mit einem Schuldspruch. Alle verliefen im Sande. In Chile gehörten mit Innenminister André Chatwick und Justizminister Hernán Larraín zwei frühere Freunde von Paul Schäfer und der Colonia Dignidad bis vor Kurzem dem Kabinett von Präsident Piñera an.


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