Robert Lessmann
Zwei „Parteitage“, zwei Parlamentsfraktionen und – unausgesprochen – zwei Präsidentschaftskandidaten für die 2025 anstehenden Wahlen. Das ist das traurige Bild, das die MAS allen Aufrufen zur Einigkeit zum Trotz derzeit abgibt. Der innerparteiliche Streit paralysiert das Parlament. Die fragmentierte und inhaltsleere Rechtsopposition – einzelne ihrer Parteien sind ebenfalls gespalten – tritt so gut wie nicht in Erscheinung und braucht eigentlich nur abzuwarten. Der Streit innerhalb der Regierungspartei überlagert alles. Umfragen sehen die beiden MAS-Fraktionen derzeit, das heißt 22 Monate vor den Wahlen, bei jeweils etwa 20 Prozent der Stimmen. Das reicht für keines der Lager, würde aber im Fall ihrer Einigung der Opposition reichen. Ein solches Szenario liegt näher, als es vielleicht aussehen mag. Mehrfach wurden in der Vergangenheit unter tätiger Mithilfe ausländischer Vertretungen solche Bündnisse auch über ideologische und programmatische Differenzen hinweg geschmiedet, um progressive Regierungen zu verhindern. Man denke nur an die Megakoalition unter dem Exdiktator Hugo Banzer (1997-2001). Die Protagonisten der MAS-Spaltung scheint das freilich wenig zu kümmern.
Was ist die MAS?
Was steht auf dem Spiel? Die bolivianische Gesellschaft ist hochgradig organisiert und die MAS verstand sich in Abgrenzung zu den Altparteien als politisches Instrument der sozialen Bewegungen: MAS/IPSP – Movimiento al Socialismo/ Instrumento Político para la Soberanía de los Pueblos. Hervorgegangen ist sie in den 1990er Jahren aus den kampfstarken Gewerkschaften der Kokabauern, die sich gegen die von den Vereinigten Staaten forcierte Zwangsvernichtung ihrer Felder wehrten. Ihr wichtigster Anführer war Evo Morales. Mit der Participación Popular von 1994 bekamen die Gemeinden auf dem Lande erstmals eigenen Rechtsstatus und Budgethoheit. Bereits 1995 beschloss die 12. Nationalkonferenz der Kokabauern die Schaffung eines eigenen Instrumento Político. Man empfand es als unbefriedigend, auf den Listen kleiner Linksparteien zu kandidieren. Bei den ersten Wahlen zu den neuen Gemeindevertretungen gewannen im Jahr 1996 Mitglieder der Kokabauerngewerkschaft alle Rathäuser im Anbaugebiet des Chapare. Bei den Parlamentswahlen 1997 gewann die kleine Izquierda Unida vier Direktmandate. Alle im Chapare, darunter mit 69 Prozent für Evo Morales das landesweit stimmenstärkste. Zwei Gründungskongresse scheiterten, bevor die MAS/IPSP im Jahr 1999 offiziell registriert wurde. Ihr gelang die Verknüpfung der sozialen mit der indigenen Frage und der nationalen Souveränität. Im krisengeschüttelten Andenstaat entwickelte sich die MAS in enger Verbindung mit dem Gewerkschaftsbund COB und der Landarbeitergewerkschaft CSUTCB rasch zum Kristallisationspunkt der Unzufriedenen und stand daneben mit ihrer Galionsfigur Evo Morales für die Verteidigung der nationalen Souveränität gegen die von außen oktroyierte Politik der Kokavernichtung und sonstige Bevormundungen. Die MAS wurde auf demokratische und organische Weise von unten zu einer Art Einheitspartei der sozialen Bewegungen. Bei den Parlamentswahlen vom 30. Juni 2002 wurde die MAS auf Anhieb zweitstärkste Partei, nur ganz knapp hinter dem neoliberalen Wahlsieger „Goni“ Sánchez de Lozada (heute im US-Exil wegen Menschenrechtsverbrechen verurteilt) – und war mithin in der Stichwahl um das Präsidentenamt. „Goni“ gewann und ging mit der gemäßigten Linken eine Koalitionsregierung ein. Doch die Krise dauerte an. Nach drei Präsidentenrücktritten ging schließlich die MAS mit einem Erdrutschsieg aus den Wahlen vom 18. Dezember 2005 hervor. Noch spektakulärer als deren absolute Mehrheit war der Absturz der Altparteien, von denen nur eine einzige noch den Sprung über die Dreiprozentklausel schaffte. Im Januar 2006 wurde Evo Morales als Präsident vereidigt. Vizepräsident wurde der Linksintellektuelle Álvaro García Linera.
Das kleine Land im Herzen des Halbkontinents wurde zum vielbeachteten Hoffnungsträger. Könnte die Entwicklung dort ein Vorbild sein? Nichts weniger als die „Neugründung Boliviens“ hatte man sich vorgenommen. Eine Regierung der sozialen Bewegungen wollte man sein. Bereits sechs Wochen nach Amtsantritt wurde ein Einberufungsgesetz zu einer verfassunggebenden Versammlung verabschiedet. Die neue Verfassung wurde dann 2009 erstmals durch eine Volksabstimmung angenommen. Bolivien wurde durch sie zum „plurinationalen Staat“. Soziale Rechte, Indígena-Rechte und die Rechte der Pachamama wurden darin festgeschrieben. Indigene Sprachen wurden auch Amtssprachen und die bunte Wiphala-Fahne gleichwertig neben die rot-gelb-grüne Nationalflagge gestellt. Die Nationalisierung der Kohlenwasserstoffressourcen vom 1. Mai 2006 spülte bei günstiger Konjunktur Devisen in die Staatskasse, die für eine Umverteilungs- und Sozialpolitik verwendet wurden. Die Armutsquote sank deutlich, die durchschnittliche Lebenserwartung stieg um Jahre. Ein bedeutender Teil der Unterschicht stieg in die untere Mittelschicht auf. Deren Binnennachfrage stabilisierte die Wirtschaft, auch als die Exporteinnahmen nach 2015 einbrachen. Grundlage war der Extraktivismus, insbesondere die Exporte von Erdgas. Grundlegende Strukturreformen unterblieben. Die Präsidentschaft von Morales war von einer Serie von Wahlen und Abstimmungen begleitet, was manche Beobachter als referenditis bezeichneten. Er hat sie alle mit absoluter Mehrheit gewonnen: eine bis dato in Bolivien unbekannte politische Stabilität.
Bis zum Februar 2016, als Morales durch ein Referendum den Artikel 168 der Verfassung ändern lassen wollte, der nur zwei Amtsperioden in Folge zulässt. Das Referendum ging knapp verloren. Morales ignorierte das Resultat und kandidierte 2019 erneut. Viele Bolivianerinnen und Bolivianer sahen sich nun durch ihn um das einmalige Demokratieerlebnis betrogen, das er ihnen zuvor beschert hatte. Die zersplitterte und inhaltsleere Opposition witterte Morgenluft.
Anfang vom Ende?
Trotz herber Verluste von etwa 14 Prozent gewann die MAS auch die Wahlen vom 20. Oktober 2019 mit deutlicher (rund 47 Prozent), aber nicht mehr mit absoluter Mehrheit. Die Frage war nun, ob sie zehn Prozentpunkte vor dem Zweitplatzierten liegen würde, was nötig ist, um eine Stichwahl zu vermeiden. Man fürchtete, die Opposition würde in diesem Fall geschlossen auftreten. Als am Wahlabend die Schnellauszählung angehalten wurde (nicht die amtliche), rief die Opposition: „Wahlbetrug!“. Büros der Wahlbehörde in verschiedenen Departements wurden angezündet. Ein vorschneller Bericht der OAS-Wahlbeobachter unterstützte diese Sicht. Proteste weiteten sich aus. Schließlich meuterte die Polizei und der Armeechef legte Morales den Rücktritt nahe. Am 10. November floh dieser zusammen mit dem Vizepräsidenten ins Exil nach Mexiko. Zwei Tage später füllte eine selbsternannte „Interimsregierung“ der politischen Rechten das Vakuum, an dessen Entstehung sie tatkräftig mitgearbeitet hatte. Das geschah unter Missachtung des vorgesehenen Prozederes, ohne ordentlich einberufene Sitzung und ohne Quorum. Abgeordnete der MAS, die im Parlament über eine Zweidrittelmehrheit verfügte, wurden am Betreten des Gebäudes gehindert. Einige junge MAS-Abgeordnete, darunter der nun amtierende Innenminister, versuchten es unter körperlichem Einsatz dennoch. Die junge Parlamentspräsidentin Eva Copa hielt das Fähnlein der MAS dann monatelang gegen die repressive de facto-Regierung hoch, sah sich aber zu Kompromissen gezwungen, was ihr später zum Vorwurf gemacht wurde.
Die „Interimsregierung“ Añez machte keine Anstalten, Neuwahlen abzuhalten, und war ein Desaster auf der ganzen Linie. Sie ist heute Gegenstand mehrerer Strafverfahren. Ihr Innenminister ist bereits wegen Korruption verurteilt – und zwar in den USA. Schließlich erkämpften die sozialen Bewegungen durch Straßenblockaden Neuwahlen, aus denen am 18. Oktober 2020 erneut die MAS mit 55 Prozent der Stimmen und fast 27 Prozentpunkten Vorsprung als Sieger hervorging. Morales hatte aus dem Exil die Spitzenkandidaten nominiert. Sein langjähriger Superminister für Wirtschaft und Finanzen, Luis Arce, wurde Präsident. Sein früherer Außenminister David Choquehuanca Vize. (Die Basis hätte Choquehuanca favorisiert, doch den hatte Morales Anfang 2017 abgesägt, weil er sich nach dem verlorenen Referendum von 2016 als Kandidat ins Spiel gebracht hatte.) Nach deren Amtsübernahme kehrte Morales im Triumphzug aus dem Exil zurück und blieb Parteichef. Als solcher versuchte er in gewohnter Manier, die Geschicke des Landes und seiner Regierung zu lenken. Das konnte nicht gutgehen. Schon die Regionalwahlen von Anfang 2021 wurden für die MAS zum Misserfolg. Stichwahlen wurden durch MAS-Dissidenten gewonnen, die Morales nicht genehm gewesen waren. Und Eva Copa, die keinen aussichtsreichen Platz für eine Kandidatur erhalten hatte, weil Morales ihr vorwarf, mit der Regierung Añez zusammengearbeitet zu haben, wurde auf der Liste einer anderen Partei mit einem Rekordergebnis zur Bürgermeisterin der zweitgrößten Stadt, El Alto, gewählt.
In dem Maße, wie die Kritik am Expräsidenten wuchs, der aus dem sicheren Exil heraus jene kritisiert hatte, die daheim für ihn den Kopf hinhielten, wurde Morales’ Kritik an „seiner“ Regierung immer direkter und schriller. Morales warf ihr einen Rechtsruck und Paktieren mit der Opposition vor, nachdem man sich auf ein Verfahren zur Volkszählung geeinigt hatte. Zwölf Abgeordnete wurden aus der Partei ausgeschlossen, jegliche Kritik als „Verrat“ diffamiert. Als sich der junge Innenminister Eduardo del Castillo (Bild) im Jänner 2022 „erdreistete“, Maximiliano Dávila zu verhaften, der unter Morales Chef der Spezialkräfte für den Kampf gegen den Drogenhandel gewesen war, nun aber von der DEA gesucht wurde und sich auf der Flucht nach Argentinien befand, wurde er neben Vizepräsident Choquehuanca und zusammen mit dem Justizminister zum Lieblingsfeind. Morales verlangte immer wieder deren Rücktritt. Man beschuldigte sich gegenseitig, mit dem Drogengeschäft unter einer Decke zu stecken. Als die MAS-Parlamentsfraktion mit der Opposition ein Amtsenthebungsverfahren gegen del Castillo durchsetzte, wurde er von Präsident Arce umgehend wieder berufen. Schließlich hatte er sich nicht nur aktiv gegen die Machtergreifung der Rechten gewehrt. Er hatte zusammen mit dem Justizminister auch dafür gesorgt, dass die maßgeblich Verantwortlichen vor Gericht gestellt wurden, darunter eine ganze Reihe hoher Militärs.
Spaltung um jeden Preis?
So spalteten sich die MAS-Fraktionen in Senat und Abgeordnetenkammer und Meinungsverschiedenheiten wurden auch mal mit den Fäusten ausgetragen. Gleiches gilt seit August dieses Jahres für die sozialen Bewegungen, wo es heute jeweils eine Fraktion von evistas beziehungsweise arcistas gibt, stets mit Alleinvertretungsanspruch. Ihre Kongresse führten teilweise zu Tumulten.
Am 3. und 4. Oktober fand ein Parteitag der MAS statt, der erneut Evo Morales zum Parteichef und Spitzenkandidaten für die Wahlen 2025 nominierte. Die Parteiführung hatte ihn in Llauca Ñ anberaumt, Morales’ Hochburg im Chapare. Vom Selbstausschluss von Präsident und Vizepräsident war dort die Rede. Der „lider indiscutible“, wie ihn seine Anhänger nennen, hatte bereits zwei Wochen vorher erklärt, dass er „auf Druck der Basis“ wieder kandidieren werde. Die regierungsnahen Teile der MAS und der sozialen Bewegungen wiederum hielten Mitte Oktober in El Alto, ein cabildo (Rat, kein Parteitag) ab, bei dem sie der Regierung von Präsident Arce ihre Unterstützung versicherten und ihm eine Liste von Forderungen übergaben. Der Parteitag von Llauca Ñ wurde für nichtig erklärt. Der Gewerkschaftsbund COB hatte bereits unmittelbar danach erklärt, dass er dessen Beschlüsse nicht anerkennen würde. Schon am 7. September hatte der „Einheitspakt“ der sozialen Bewegungen die Einladung dazu für nichtig erklärt. Inzwischen wurde er vom Obersten Wahlgerichtshof auch für ungültig erklärt, weil die Einladung nicht gemäß der Parteistatuten erfolgt sei.
Der ehemalige Vizepräsident Álvaro García Linera sagte in einem Interview, man solle die Regierung Arce arbeiten lassen und warnte vor „elektoralem Selbstmord“. Morales bezeichnete ihn daraufhin als „falschen Analytiker“, der sich die indigene Bewegung zunutze mache und als „neuen Feind“. Andere Analysten hatten schon vor einiger Zeit vorgeschlagen, dass die alte Garde das Feld einer neuen Generation überlassen solle, die 2019/20 vor Ort die Demokratie verteidigt hatte: Adriana Salvatierra, Eva Copa, Gabriela Montaño und Diego Pary sind Namen, die dabei fallen. Der Prominenteste von ihnen, Senatspräsident Andrónico Rodríguez, gilt als evista, ist aber stets eher zurückhaltend und ausgleichend aufgetreten. Auseinandersetzungen um seine Wiederwahl hatten wochenlang das Parlament blockiert – unter anderem die Verabschiedung des Budgets. Die arcistas hatten eine Gegenkandidatin nominiert, aus Gründen der Genderparität, wie es hieß. Nunmehr ist er mit den Stimmen der evistas und der Opposition wiedergewählt, wobei man als Gegenleistung eine Neun-Punkte-Agenda der Opposition angenommen hat. Schon vorher war das Parlament paralysiert, während draußen Bürgermeister die Verabschiedung ihres Budgets verlangten. Unter anderem blockierten Opposition und evistas Mitte September einen Gesetzesentwurf gegen sexuelle Gewalt, der als Reaktion auf den Missbrauchsskandal des verstorbenen Jesuiten Alfonso Pedrajas eingebracht worden war, der in seinen Aufzeichnugen dutzendfachen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen zugegeben hatte. Eva Copa sprach schon damals von einem golpe legislativo (einem parlamentarischen Putsch). Hoffnungsträger und Vorbilder sehen anders aus. Die Geschichte Boliviens und Lateinamerikas ist voll von fortschrittlichen Projekten, die durch caudillismo und Sektierertum gescheitert sind. Ob sich die Akteure ihrer Verantwortung vor der Gesellschaft und der Geschichte bewusst sind?