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Flucht und Politik im Sommerloch: Großes Theater, kleine Politik

  • von Robert Lessmann Dr
  • 29 Aug., 2018

Flucht und Politik im Sommerloch: Großes Theater, kleine Politik

Mit dem Massenexodus aus Venezuela hat das Thema „Flucht und Migration“ eine neue, lateinamerikanische Dimension erhalten. Auch hier gibt es Xenophobie, kommt es zu Übergriffen (Brasilien) und Debatten um Grenzschließungen, auch wenn sich die Lateinamerikaner insgesamt generöser zeigen als die „reichen“ Europäer. Auch hier sind die Grenzen zwischen „politisch Verfolgten“ und „Wirtschaftsflüchtlingen“ unklar. Deutlich ist hingegen vor allem eines: Die Weltgemeinschaft muss besser auf solche Ereignisse vorbereitet sein. Es braucht strukturelle und multilaterale Lösungen. Doch was wir haben ist vor allem populistisches Gezeter. Bedrückende Zahlen und ein Kommentar von Robert Lessmann



Politik sei immer auch ein Stück großes Theater, sagte schon Macchiavelli (1449-1516). Der vergangene Sommer bestätigte ihn einmal mehr: „Flüchtlingskrise“ auf allen Kanälen. Ein neuer Generalstabschef nannte bei seiner Angelobung Massenmigration und Terrorismus als wichtigste Bedrohungen und verlangte im gleichen Atemzug Geld für neue Abfangjäger. Ein Landeshauptmann trat alarmistisch mit Phantasiezahlen über Flüchtlinge hinter dem Leithagebirge hervor, die nicht einmal das FPÖ-geführte Innenministerium bestätigen mochte. Kurz darauf trat sein Landesrat für Kultur und Finanzen völlig ohne Not eine Richtungsdebatte in der SPÖ los. In Deutschland irrlichterte wochenlang ein wahlkämpfender CSU-Innenminister mit einem „Masterplan Migration“ durch die Schlagzeilen, den zunächst niemand kannte, der vielleicht auch noch gar nicht fertig war - und der als Kernstück sogenannte Ankerzentren (spricht: Internierungslager) beinhaltet, wie man heute weiß. Weil es dazu keinen Konsens gibt, werden die vorerst nur in Bayern geschaffen. Die Union war gespalteten und die Regierungskoalition drohte zu zerbrechen. Der Bayerische Ministerpräsident Markus Söder, Spitzenkandidat im Umfragetief, inzenierte sich währenddessen vor den Pressefotografen wahlweise als entschlossener Grenzschützer mit Feldstecher vor den Augen, oder als Drakulatöter Van Helsing mit einem Kruzifix vor der Brust. Man glaubt es kaum...


Dies alles geschah, während das Klima die tollsten Kapriolen schlug und rund um den Globus Wälder brannten, die Finanzkrise seit 2008 weiterschwelt, im hochverschuldeten Italien die Faschisten im Aufwind sind und die Facebook-Aktie wegen schlechter Quartalszahlen in einer Nacht 150 Milliarden Dollar (!) an Wert verlor – und vor dem Hintergrund deutlich sinkender Flüchtlingszahlen. Sicher: Flucht und Migration werden noch viele Jahre lang Herausforderungen bleiben. Doch man fragt sich: Soll da wirklich nur auf verantwortungslose Weise politisches Kleingeld gemacht werden? Oder wofür wird hier letztlich eigentlich der Boden bereitet?


Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) ist nicht die einzige Organisation, die Flüchtlingen hilft. Aber sie ist weltumspannendste, vor Ort aktiv und hat wohl die meiste Expertise. So kümmert sich das UNHCR nicht nur um Flüchtlingslager in der Türkei, Jordanien und Afrika, sondern etwa auch um den Massenexodus aus Venezuela und die Menschen, die vor der Repression in Nicaragua nach Costa Rica flüchten. Als die Debatte um die „Flüchtlingskrise“ im Jahr 2016 die „Willkommenskultur“ verdrängte, hatte ich Zahlen dazu recherchiert.* Was ich fand war erschütternd: Das Budget des UNHCR für seine weltweite Flüchtlingsarbeit lag bei 3,4 Milliarden US-Dollar (USD), was etwa einem Viertel des Budgets der Stadt Wien entsprach. Die Zahlen bezogen sich auf das Jahr 2015, als die Flüchtlingskrise „ausbrach“. Doch die Entwicklung war längst absehbar. Mein Fazit damals: Es fehle sowohl an Weitblick als auch am politischen Willen, die Herausforderungen ernsthaft anzugehen.


Ernüchternde Nachschau

Bei der heftigen Präsenz des Themas, sollte sich das inzwischen geändert haben. Die Realität ist indessen ebenso ernüchternd wie erhellend: Das UNHCR-Budget für 2017 lag inklusive Umschichtungen aus anderen UNO-Töpfen bei 3,9 Mrd. USD. Davon finanzierten die USA (mit 1.450 Mio.) und die Bundesrepublik (476 Mio.) im Alleingang nahezu die Hälfte; nimmt man die EU, Japan, UK, Schweden und Norwegen mit dazu, so finanzierten sieben Geber drei Viertel des UNHCR-Budgets.


Bereits an neunter Stelle der Liste steht mit 80 Mio. USD ein privater Geber aus Spanien. Zuwendungen privater Stiftungen oder Unternehmen füllen zunehmend die Löcher in einer zunehmend unwilligen Staatengemeinschaft. Das gilt übrigens auch für andere UNO-Organisationen, wie zum Beispiel die Weltgesundheitsorganisation WHO.


Lateinamerikanische Länder liegen mit Platz 60 für Brasilien (mit 0,6 Mio), 78 Argentinien (0,1), 89 Mexiko (0,08), 90 Chile (0,07), 104 Uruguay (0,03) und Costa Rica (0,01) allesamt in der unteren Hälfte der Geberliste. Bei der Zahl der Binnenflüchtlinge hält allerdings noch immer Kolumbien vor Syrien den traurigen Spitzenrang.


Die selbsternannten Verteidiger des christlichen Abendlandes aus Budapest (2,8 Mio), Prag (2,4 Mio), Warschau (0,6) und Bratislava (0,01) bewegen sich mit ihren Beiträgen tendenziell unterhalb der Schamgrenze. Wien belegt mit 9,3 Mio noch Platz 33. Beunruhigend: Wie im Falle der USA wurden diese Mittel noch von der alten Regierung bewilligt. Das verheißt nichts Gutes für die Zukunft.


Mehr als 50 Prozent der Flüchtlinge kommen aus nur drei Konfliktregionen: Syrien, Afghanistan und Südsudan. Es fällt auf, dass sich - mit Ausnahme der USA – die wichtigsten Drahtzieher und Akteure dieser Konflikte aus der Bewältigung ihrer Folgen weitgehend heraushalten: etwa Saudi Arabien (mit 18 Mio), die Russische Föderation (mit 2 Mio), die Türkei (0,3 Mio) und Israel (mit 0,1 Mio); der Iran taucht erst gar nicht als Geber auf, beherbergt aber, wie auch die Türkei, selbst viele Flüchtlinge.


Fazit: Nach wie vor ist kein politischer Wille erkennbar, das „Flüchtlingsproblem“ strukturell anzugehen, geschweige denn mit der Absicht, primär den Betroffenen zu helfen. Beides wird nur zusammen gehen und multilateral. Die selbsternannten Retter des christlichen Abendlandes erweisen sich als Maulhelden, wenn's ans Geldbörsel geht. Ihr permanentes Gezeter um Auffangzentren, Grenzzäume und neue Gesetze kostet nämlich nichts. Außer, dass es das politische und das zwischenmenschliche Klima nachhaltig vergiftet. Die zuständigen Behörden und kompetenten Organisationen personell und materiell in die Lage zu versetzen, ihren Job zufriedenstellend zu erledigen, wäre dagegen sehr wohl mit Kosten verbunden.


* (nachzulesen: „Flucht aus der Spirale von Armut und Gewalt“ in meinem Blog www.robert-lessmann.com bzw. PANO Nr. 4, November 2016).



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