Robert Lessmann
Als
das Parlament das 310 Seiten starke Dokument schließlich billigte,
lagen bereits drei gescheiterte Anläufe (Bild:
San Vicente de Caguán, 2001) und
zuletzt vierjährige Verhandlungen mit Hilfe Kubas und Norwegens in
Havanna zurück. Kurz vorher noch war es in einem Referendum knapp
zurückgewiesen worden. Seit sich im Jahr 1964 zwei linksgerichtete
ländliche Guerillabewegungen gründeten (weitere sowie
rechtsgerichtete Paramiltärs folgten später) hatte der Konflikt
260.000 Todesopfer gefordert; 80.000 Menschen werden vermisst.
Kolumbien ist noch vor Syrien das Land mit den meisten
Binnenvertriebenen – neun Millionen, bei knapp 50 Millionen
Einwohnern; hinzu kommen zwei Millionen Flüchtlinge aus Venezuela.
Nach mehr als fünf Jahrzehnten sollte nun der Frieden mit der ältesten und stärksten Guerilla, den FARC-EP, eine neue Zeit einleiten. Nicht nur sollten die Waffen abgegeben und die Kämpfer demobilisiert werden. Die schwersten Menschenrechtsverbrechen würden bestraft. Auch die Konfliktursachen wollte man angehen, namentlich die Landfrage, das heißt den extrem ungleichen Zugang zu Boden und Ressourcen, sowie den Drogenhandel.
Ende November 2021 legte die Menschenrechtsorganisation Washington Office on Latin America (WOLA) eine detaillierte und ausführliche Bestandsaufnahme der Implementierung vor: „A Long Way to Go: Implementing Colombia’s peace accord after five years“. Eine Bilanz mit Licht, viel Schatten und einem optimistischen Ausblick auf die Zukunft: „Ein starkes Abkommen brauche eine starke Implementierung“, heißt es da. Die war bisher nicht gegeben.
Schleppende Umsetzung und chronische Unterfinanzierung der vereinbarten Maßnahmen werden beklagt. Wichtige Schlüsselgesetze zur Implementierung wurden noch nicht verabschiedet. Als Hauptgrund sieht der Bericht den Mangel an politischem Willen. Präsident Iván Duque, der im August 2018 die Regierung übernahm, war von Anfang an ein Gegner des Abkommens.
Demobilisierung zu 95 Prozent erfolgreich
Zwar verlief die Demobilisierung der FARC weitgehend erfolgreich: 6.804 Kämpfer gaben 8.994 Waffen ab und wurden in 19, von Polizei und Militär bewachten ‚Normalisierungs- und Übergangszonen‘ untergebracht. Heute gelten 13.608 FARC-Kämpfer als demobilisiert. Weniger erfolgreich verlief dagegen deren gesellschaftliche Integration. Bis Ende Oktober 2021 wurden fast 300 ehemalige FARC-Kämpfer ermordet. Taten, die fast immer straflos bleiben.
Der kolumbianischen Regierung ist es nicht gelungen, in den von den FARC verlassenen Gebieten (rechts-)staatliche Präsenz herzustellen. Außerstaatliche bewaffnete Gruppen füllten das Vakuum, die seit 2017 alle stärker geworden sind. Amtliche Zahlen sprechen von 2.200 Kämpfern der Guerilla Ejercito de la Liberación Nacional (ELN), 5.500 FARC-Dissidenten, 8.350 Bewaffneten krimineller Banden– zusammengenommen mehr als 16.000; NGO-Zahlen liegen noch höher. Fälle von Mord und Totschlag haben in den ersten neun Monaten des Jahres 2021 um 18 Prozent zugenommen, Massaker um 9 Prozent. Für Menschenrechts- und Ökoaktivisten ist Kolumbien das gefährlichste Land der Welt. Auch Massenvertreibungen nehmen weiter zu. Bis September 2021 registrierten die Vereinten Nationen 46.321 Fälle.
Wenig verwunderlich ist es vor diesem Hintergrund, dass auch die gesellschaftliche Partizipation nicht zugenommen hat, wie im Friedensabkommen angestrebt. Ein Fanal war die äußerst brutale Niederschlagung sozialer Proteste (Paro Nacional) seit dem 28. April 2021 – begleitet von einem regierungsamtlichen Diskurs, der Demonstranten je nach Kontext als „Terroristen“ oder als „Drogenhändler“ bezeichnete.
So gut wie nichts hat sich an der Situation der Afro-Kolumbianer (13,6 Prozent der Bevölkerung) und der Indígenas verbessert. Die Forderung einer Verbesserung war unter dem Druck der Zivilgesellschaft erst spät in das Abkommen aufgenommen worden. Sie leiden besonders unter der Abwesenheit des Staates und von Schutzmaßnahmen. Am schlimmsten betroffen ist hier das Departement Cauca. Bis April 2021 waren 51 Prozent der dort ermordeten sozialen Führer indigen; elf Prozent waren Afro-Kolumbianer. Gleiches gilt für die Besserstellung sexueller Minderheiten. Eine in Kapitel 6 des Friedensabkommens vorgesehene Kommission zur Begleitung, Promotion und Verifizierung der Umsetzung des Abkommens (CSIVI) sei praktisch bedeutungslos, so der WOLA-Bericht: Sie moribund zu nennen, sei keine Übertreibung. Dagegen funktioniere die externe Begleitung durch die United Nations Verification Mission in Colombia.
Mangel an politischem Willen
Kapitel 1 des Friedensabkommens stellt die Landfrage als Konfliktursache in den Mittelpunkt. Wenige Länder der Welt weisen eine derartige Ungleichheit auf. 0,2 Prozent der Produzenten besitzen Flächen über 1.000 Hektar und damit 32,8 Prozent des Farmlandes; 69,5 Prozent dagegen weniger als 5 Hektar und damit 5,2 Prozent des Farmlandes. Kolumbien ist eines der wenigen Länder, wo es im 20. Jahrhundert keine Landreform gegeben hat, vielmehr eine brutale Gegen-Landreform. Und die Bauernvertreibung durch bewaffnete Gruppen, oft im Dienste von Großgrundbesitzern oder Drogenhändlern, gehe weiter. Daher sei es sehr enttäuschend, dass man gerade hier dem Budget- und Zeitplan schlimm hinterherhinke, so der Report.
Relativ gut funktioniere die Jurisdicción Especial para la Paz (JEP). Der erste vor diesen Spezialgerichten behandelte Fall betraf Massenentführungen. Sieben FARC-Kommandanten waren geständig. Der zweite Fall waren die sogenannten falsos positivos, ermordete Zivilisten, die in Guerillauniformen gesteckt wurden, um die „Erfolgsstatistik“ der „Sicherheitskräfte“ aufzubessern. Dokumente des Verteidigungsministeriums sprechen für den Zeitraum von 2002 bis 2008 von 12.908 getöteten Kämpfern – fast die Hälfte davon, nämlich 6.402, waren unschuldige Zivilisten.
-------------------------------------------------------------------------------------------------
Zum 12. November 2021 waren vor der JEP angeklagt:
frühere FARC-Mitglieder 9.819 (73,9%)
Sicherheitskräfte 3.313 (24,9%)
zivile Regierungsmitglieder 151 (1,1%)
Straftäter im Rahmen sozialer Proteste 12 (0,1%)
--------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Kritisiert wird an den Gerichten insbesondere, dass auch schwerste Menschenrechtsverbrechen mit 5-8 Jahren Freiheitsentzug außerhalb regulärer Gefängniseinrichtungen geahndet werden können, in manchen Fällen gekoppelt an einen automatischen Sitz im Parlament. Iván Duque nennt das Straflosigkeit.
Drogenkrieg scheitert vor sich hin
Kokaanbau und Kokainproduktion liegen auf Rekordniveau. Trotz – oder vielleicht gerade wegen – heute beinahe fünf Jahrzehnten des „War on Drugs“. 12.6 Milliarden USD hat Washington im Rahmen des Plan Colombia seit dem Jahr 2000 dafür ausgegeben, Geheimdienstkooperation nicht mitgerechnet. Die Einnahmen aus dem illegalen Geschäft stellen eine wichtige Finanzierungsquelle für irreguläre bewaffnete Gruppen dar. Mit dem Programa Nacional Integral de Sustitución de Cultivos Ilícitos (PNIS) sah Kapitel 4 des Friedensabkommens das bisher bestausgestattete, aber auch ehrgeizigste Programm zur Kokareduzierung vor. Sie sollte von den Bauern freiwillig und bei einer Überbrückungskompensation erfolgen. Die Regierung würde danach mit Programmen der Alternativproduktion und Infrastrukturförderung eine Umstellung der bäuerlichen Produktion auf legalen Anbau fördern.
Auch wenn die vorgesehenen Fristen nach allen Erfahrungen viel zu ehrgeizig waren, wurden unter der Regierung Santos immerhin 106 solcher kollektiven Abkommen in 98 Gemeinden geschlossen. Ein Problem bestand darin, dass verschiedentlich extra Koka angebaut wurde, um in den Genuss der Kompensation zu kommen. Nachfolger Iván Duque war schon während seines Wahlkampfes dagegen und das Programm wurde faktisch gestoppt. Kokaanbau sei eben einfach illegal. Man kehrte zur zwangsweisen Eradikation unter dem Schutz von Polizei und Militär zurück.
Ein Dekret erlaubt ferner die Rückkehr zur Besprühung der Kokafelder mit Pflanzengift, die im Rahmen der Friedensverhandlungen 2015 eingestellt worden war, nachdem die Weltgesundheitsorganisation WHO das verwendete Herbizid Glyphosat als „wahrscheinlich krebserregend“ bezeichnet hatte. Die Rückkehr zur Besprühung erfolgte jedoch bisher nicht, weil nunmehr Washington sich weigerte, das Programm weiter zu finanzieren. Freiwillige Kokaeradikation findet praktisch überhaupt nicht mehr statt. Von den Familien, die sich auf das Programm eingelassen hatten, erhielten nach Auskunft des Rechnungshofes bis zum Dezember 2020 nur 1 Prozent das vollständige Hilfspaket. Die Enttäuschung ist groß und das Misstrauen gegenüber der Regierung nahm weiter zu. Indes: Bis Juli 2021 hatten 67.235 am PNIS teilnehmende Familien zusammen 44.294 Hektar reduziert. Und wo freiwillig reduziert worden war, waren bis Ende 2020 98 Prozent der Flächen auch kokafrei geblieben.
Der Monitoring-Bericht des WOLA über fünf Jahre Friedensprozess beklagt vor allem, dass Kapitel 4 dem Kapitel 1 ‚Agrarreform‘ davongeeilt sei und auch an sich viel zu zögernd bis gar nicht umgesetzt wird. Denn überraschenderweise: Wo es umgesetzt wurde, hat PNIS erstaunlich gut funktioniert. Voraussetzung für den Erfolg sei eine zivile Regierungspräsenz. Diese hat es nun noch schwerer. „Die einzige Präsenz des Staates, die wir sehen, sind die Eradikationstrupps, geschützt von Polizei und Militär“, klagen betroffene Bauern.
Während der WOLA-Bericht von einem starken Abkommen spricht und mangelnden politischen Willen zur Umsetzung beklagt, nannte Präsident Iván Duque es vor der UNO-Generalversammlung im September 2021 ein „schwaches Abkommen mit der FARC-Terroristengruppe“. In der Tat standen die FARC bis vor kurzem noch auf einer US-Terrorliste, wodurch für bestimmte Aspekte des Friedensprozesses eine US-Unterstützung blockiert war. Bleibt die Hoffnung auf eine Wiederbelebung der Programme, wenn ab August 2022 eine neue Regierung die Amtsgeschäfte in Bogotá führt. Ihre Laufzeit ist bis 2032 angesetzt.
wola.org/analysis/a-long-way-to-go-implementing-colombias-peace-accord-after-five-years
Zum Weiterlesen: robert-lessmann.com/proceso-de-paz-y-guerra-contra-las-drogas-en-colombia-sostenibilidad-y-alternativas
robert-lessmann.com/kolumbien-drogenbekaempfung-und-friedensprozess