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Kuba: "Bewegung zum Sozialismus?"

  • von Robert Lessmann Dr
  • 18 Jan., 2019

Betrachtungen zum 60. Jahrestag der Revolution und ein Interview mit José Luis Rodríguez

von Robert Lessmann


Havanna, Dezember 2018. Für den alten Sozialisten ist alles klar: „Hier herrscht Anarchie!“, sagt er: „Die Polizei ist korrupt und die Institutionen funktionieren nicht mehr. Eine kleine Gruppe ganz oben verabschiedet Dekrete, wie es ihr gefällt. Die Reparaturwerkstätte gegenüber kann staatlich sein, doch der Mechaniker arbeitet auf eigene Rechnung. Und wenn sich Nachbarn darüber beschweren, interessiert das die Behörden nicht.“ Korruption sei Teil des Systems. Das Restaurant, in dem wir sitzen, gehöre wahrscheinlich einem Typen aus Miami, mit dem Sohn eines Funktionärs als lokalem Strohmann. Ganz allein ist unser Gegenüber mit dieser Auffassung keineswegs. Doch es erstaunt zumindest die Lautstärke, mit der er sie in aller Öffentlichkeit kundtut.


Lassen wir Zahlen und Fakten sprechen! Doch ob die Zahlen wirklich stimmen, die wir bekommen, wissen nur die Quellen. Und ob die die Realität richtig und komplett erfassen, in einem Land wie Kuba, ist auch die Frage.


Einer, der es am besten weiß, es viele Jahre lang wissen musste, sitzt nun vor mir. Zum Interview in den Räumen des Forschungszentrums für internationale Wirtschaft (CIEM) im Botschaftsviertel Miramar von Havanna kommt er in Jeans und einfachen Adidas-Turnschuhen. José Luis Rodríguez (JLR) war viele Jahre lang Vizedirektor des CIEM und ist heute dessen Berater. Vor allem aber war er von August 1993 bis Mai 1995 der erste Finanzminister Kubas, damals noch „Comité Ejecutivo de Finanzas“, und anschließend bis 2009 Wirtschaftsminister und Vizepräsident des Ministerrats hinter Fidel Castro. Im Oktober 1993 hatte er unserer Delegation bei einem Abendessen den geplanten Fortgang der Wirtschaftsreformen auf einer Serviette skizziert. „Wie die Zeit vergeht...“, erinnert er sich mit einer Geste, als Blicke er in ein früheres Leben oder in graue Vorzeit zurück. Unzweifelhaft ein Mann, der aus der Wissenschaft kommt (und der er treu geblieben ist: heute ist er unter anderem Berater der CEPAL), beantwortet er die Fragen nüchtern – um nicht zu sagen trocken – und mit einem wahren Stakkato an Zahlen. Aber immer auch ein Stück weit bemüht zu erklären, warum man nicht so weit gekommen ist, wie man es sich vorgenommen hatte und gewünscht hätte. Es gibt ein Bonmot in Kuba: Frage: „Was sind die drei wichtigsten Errungenschaften der Revolution?“ Antwort: „Bildung, Gesundheit, Sport.“ Frage: „Und die drei größten Probleme?“ Antwort: „Frühstück, Mittagessen, Abendessen.“ Die Frage nach den Leistungen und Defiziten am Vorabend des 60. Jahrestags der Revolution beantwortet JLR sehr ernsthaft und wortreich, aber im Grunde genau so. Ein neues, gerechteres Gesellschaftsmodell habe man aufgebaut und ein neues Staatssystem. Vieles an Infrastruktur habe man geschaffen. Als wichtigste Errungenschaft nennt er, ganz Ökonom, das Humankapital. Wirtschaftlich habe es Fortschritte gegeben und Rückschläge. Alles natürlich immer mit Unterstützung der Sowjetunion und des Ostblocks. Als kleine Insel sei man ja immer vom Außenhandel abhängig und habe sich nach der Revolution komplett umorientieren müssen, weg vom alles dominierenden großen Nachbarn USA, der Kuba schnell mit einer Wirtschaftsblockade bedachte, die das Land bis heute jährlich zwei bis drei Milliarden USD an Einbußen koste: „Unsere Wachstumsraten wären entschieden besser, wenn es die Blockade durch die USA nicht gäbe.“ Doch JLR nennt immer wieder auch hausgemachte Defizite, ohne dabei allerdings wirklich in die Tiefe zu gehen. „Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Ostblocks ist dann ab 1989 wiederum unser gesamter Außenhandel weggebrochen und wir hatten äußerst schwierige Jahre zu überstehen.“ Selbst die Ernährungslage war dramatisch. Kuba reagierte mit der Einladung von Auslandskapital in ausgewählten Schlüsselsektoren wie Tourismus und bei Rohstoffen, mit der vorsichtigen Zulassung von Einmannbetrieben „auf eigene Rechnung“, von Privatrestaurants und Privatunterkünften, von freien Bauernmärkten, Kooperativen und schließlich auch Kleinbauern in der Landwirtschaft. „Unsere Deviseneinnahmen waren bis unter ein unerlässliches Minimum von zwei Milliarden Dollar abgestürzt.“ Als Reaktion darauf wurde 1994 der US Dollar als Zahlungsmittel zugelassen und später durch eine an den Dollar gekoppelte Parallelwährung (CUC) ersetzt; gleichzeitig erhöhte man die zulässigen Familienüberweisungen aus dem Ausland. Exakt seitdem wird über die Rückkehr zu einer einheitlichen Währung diskutiert, denn damit taten sich im egalitären Kuba Abgründe auf und eine zunehmende Schere zwischen Menschen mit und jenen ohne Zugang zum Devisensektor. Ärzte arbeiten als Taxifahrer, Universitätsprofessoren machen Tischmusik in Touristenrestaurants. Das wieder zu ändern ist für JLR eine der wichtigsten Herausforderungen: „Wir müssen unser Humankapital nutzen.“ Das tut Kuba bereits durch den Export von Ärzten, deren Abgaben nach den Familienüberweisungen (deren Höhe niemand wirklich kennt, Schätzungen liegen bei 2-4 Milliarden USD/Jahr) und vor dem Tourismus und den Rohstoffexporten heute wohl den wichtigsten Devisenbringer darstellen; die Entwicklung in Brasilien dürfte hier im Übrigen einen derben Rückschlag mit sich bringen.


„Trotz allem haben wir unter den gegebenen Rahmenbedingungen nicht schlecht abgeschnitten“, betont JLR. Man habe fast immer positive Wachstumsraten gehabt, manchmal mit einer Null vor dem Komma, aber positiv und im langjährigen Durchschnitt nicht schlechter als im Rest Lateinamerikas. Doch sei man – nicht zuletzt durch die Politik der USA – von Krediten weitgehend abgeschnitten und müsse, um überhaupt eine Chance auf frisches Geld zu wahren, viel Energie auf die Bedienung des Schuldendienstes für bestehende Schulden verwenden – zu Lasten notwendiger Investitionen. „Wir bräuchten jährlich zwei Milliarden an Krediten oder Auslandsinvestitionen“, schätzt JLR und beschreibt Teufelskreise: „Wenn wir investieren wollen, auch beim besten Willen, können wir das nicht auf Kosten des Konsums tun, denn die Menschen leiden ohnehin stark unter der Krise.“ Auch in der Landwirtschaft seien die Möglichkeiten begrenzt, denn im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Annahme sei nur der geringere Teil der Böden wirklich gut, vielleicht ein Drittel: „Als Insel haben wir keine großen Flußsysteme und in den Tropen ist auf diese Weise eine bedeutsame Produktivitätssteigerung nur durch kostspielige Inputs zu erreichen: Bewässerung, Dünger, Schädlingsbekämpfung“. Andere kubanische Beobachter bezeichnen es heute freilich als schmerzhaft und als „Schande“, dass ein Land wie Kuba, das immer von der Landwirtschaft gelebt hat, heute 80 Prozent seiner Nahrungsmittel importiert und als einstige „Zuckerinsel“ Zucker aus Frankreich bezieht, während die Eigenproduktion von früheren Rekorden von bis zu 8 Millionen Tonnen auf heute gerade einmal 2 Millionen gesunken ist.


Gefragt nach den wichtigsten Herausforderungen sagt JLR: „Die Reallöhne müssen hinauf, um die Migration zu stoppen. Wir erleben einen Bevölkerungsrückgang in Kuba und wir haben drei Arten von Migration. Die vom Osten in den reicheren Westen der Insel, nach Havanna, die gab es immer. Die junge Generation drängt ins Ausland. Und alle wollen von den produktiven Sektoren weg in den Servicebereich und jenen, wo sie an Devisen kommen.“ Das gelte im Übrigen sogar für die Ministerialbürokratie, wo Fachkräfte lieber in ein Joint Venture wechseln. Gefragt nach Irrtümern, Fehlern und Versäumnissen sagt JRL: „Da gab es einige“. Insbesondere Eingriffe in die Preisgestaltung hätten sich immer wieder als nutzlos bis kontraproduktiv erwiesen. Daneben gelte es, endlich ein Bankensystem aufzubauen. Das derzeitige sei schwach bis inexistent. Für Auslandskapital könne man an einen gemeinsamen Investitionsfonds denken.


Untergrundkapitalismus

Wer heute durch Kubas Städte geht, der sieht im Vergleich zu früheren Jahren einen Boom von Geschäften und Kleinbetrieben. Anders als damals, wo Waren schmucklos aus dem Wohnzimmerfenster heraus verkauft wurden, handelt es sich heute um Läden mit Auslagen, Glasvitrinen und farbigen Werbeschildern. Auch JLR bestätigt, dass „viel Geld auf den Straßen zirkuliert“. Aber auch viel besser ausgestattete staatliche Kaufhäuser sieht man, wie etwa die Shopping Mall „Carlos III“ auf der Avenida Salvador Allende im Herzen Havannas. Doch die ganz überwiegende Mehrheit dieser Geschäfte ist privat – und teilweise traut man seinen Augen nicht: Da findet man mit einem blauen Anker als „Privatunterkunft“ gekennzeichnete, mehrstöckige, vollwertige Hotels mit verglaster Eingangsfront und großer Rezeption und man fragt sich, woher das Kapital dafür stammt, wer solches genehmigt und woher man die Baumaterialien dafür bezogen hat, die doch aller Orten knapp sind. Kritische Geister sehen hier Auslandskubaner, Ausländer mit kubanischem/r Ehepartner/in und nicht zuletzt Angehörige von Funktionären als Protagonisten. Wer wollte auch durch 25 Jahre Mangelwirtschaft hindurch den Versuchungen des Devisensektors und der kapitalistischen Außenwelt widerstehen. Ein Limit für Familienüberweisungen gibt es nicht mehr. Besucher bringen Devisen mit. Reiseerleichterungen werden vielfach dazu genutzt, im Ausland harte Währung zu verdienen. Und auch der (Klein-)Schmuggel scheint zu blühen. Auf meine Nachfrage hin sieht auch JLR die Gefahr der Entstehung eines Untergrund- oder Grauzonenkapitalismus. Für ihn ein weiterer Teufelskreis: Die Wirtschaft sei auf diese Devisenzufuhr letztlich halt angewiesen.



Neue Verfassung

Hierzu gibt es in der Tat auch eine Verfassungsdebatte: Man wolle es im Ausland lebenden Kubanern ermöglichen, mit ihrem Kapital zurückzukehren – ohne aber die soziale Gleichheit zu gefährden. „Die Frage ist, bis zu welcher Größenordnung man unter welchen Bedingungen welche Investitionen erlauben soll“, sagt Jourdy James Heredia, heute Vizedirektorin des CIEM. Eine Diskussion, mit offenem Ausgang, die womöglich anderthalb bis zwei Jahrzehnte zu spät kommt. Und unsere beiden CIEM-Gesprächspartner sprechen heute interessanterweise mit unterschiedlicher Deutlichkeit von einer „Bewegung zum Sozialismus“, nicht von seiner Bewahrung oder Verteidigung.


Inwieweit dies schon offizielle Sprachregelung ist, wird man sehen. In der Debatte um den Entwurf einer neuen Verfassung, über den am 24. Februar abgestimmt werden soll, wurde das Staatsziel „Kommunismus“ zunächst gestrichen, dann wieder aufgenommen. Kuba sei „souverän, wohlhabend und sozialistisch...“ heißt es in der Präambel. Die KP bleibt nach Artikel 5 oberste Führungskraft in Staat und Gesellschaft. Erstmals soll daneben ein Recht auf Privateigentum verankert werden. Staatsämter sollen zeitlich limitiert werden. Die gleichgeschlechtliche Ehe ist dagegen aus dem Verfassungsentwurf wieder verschwunden und soll in zwei Jahren Gegenstand eines Referendums sein. Gut die Hälfte der Debattenzeit habe man für das Thema gleichgeschlechtliche Ehe verwenden müssen, sagt der Ökonom JLR mit einem gewissen Bedauern, sieht er doch brennendere Themen. Aber die Gesellschaft sei offenbar noch nicht so weit, sei noch immer stark katholisch geprägt. Daher wurde diese Frage in den Debatten um die neue Verfassung von der Basis immer wieder angesprochen.


Jedenfalls würden die kommenden drei bis vier Jahre schwer, sagt JLR: „Von einer Aufhebung oder Milderung der Blockade sind wir weit entfernt. Und die Entwicklungen in Brasilien und Venezuela verheißen nichts Gutes.“ Schließlich ist Kuba noch immer stark von venezolanischen Öllieferungen abhängig. „Und ständig wiederkehrende Naturkatastrophen machen die Aufgaben nicht leichter, sondern bringen immer wieder hohe Zusatzkosten.“ Wachstumsraten in der Größenordnung von fünf Prozent rückten da in weite Ferne.




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