Robert Lessmann
Daniela Hernández bewegt Kopf und Oberkörper zum Rhythmus der Musik. Es ist, als würde sie im Sitzen tanzen, während sie auf ihrer Mandoline spielt. Vor dem Konzert war das blonde Mädchen reihum gegangen und hatte jede(n) ihrer 13 Kolleginnen und Kollegen umarmt. Es ist ein großer Auftritt heute für das Ensemble „Alma Llanera“ - die „Seele“ der Feuchtsavannenlandschaft „Llanos“ an den Ufern des Orinoco - so nennen sie sich und spielen die dortige, volkstümliche Musik auf höchstem Niveau. Gestern war das Nationale Jugendorchester Venezuelas dran. Sie spielen in der Eingangshalle „Rotunda“ der Wiener UNO-City anlässlich einer UN Kommission für Strafrecht und Kriminalitätsprävention. Generalsekretär António Guterres war gestern hier zu Gast. Auch die Jungen und Mädchen sind eigens wegen dieser Kommission nach Österreich gekommen (gaben bei dieser Gelegenheit aber auch noch externe Konzerte in Wien und Graz). Zusammen mit dem Coral Nacional Simon Bolivar de Venezuela, dem Coro de Manos Blancas und dem Orquesta 23 de Enero vertreten sie hier „El Sistema“ (Sistema Nacional de Orquestas y Coros Juveniles e Infantiles de Venezuela) – eine Stiftung mit Musikschulen und Orchestern für Kinder und Jugendliche, die von der Regierung und Vertretern der Vereinten Nationen hier als Beispiel für Inklusion, Integration und Prävention vorgestellt wird.
„Musik als Schule des sozialen Lebens“,
... so nannte es der im März verstorbene Gründer von „El Sistema“, José Antonio Abreu. Alles begann im Jahr 1975 mit 11 Leuten in einer Garage. Abreu wollte die Musik zu den Kindern bringen, gerade auch zu den Unterprivilegierten. Schon unter den Regierungen von Carlos Andrés Pérez bekam man staatliche Förderung und expandierte. Noch im Jahr 1975 war man auf 80 Teilnehmer angewachsen; 1999 waren es 109.000. Seit 1993 wird „El Sistema“ von der UNESCO unterstützt, ab 2003 auch vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen. Ab 2002, unter Hugo Chavez, wurde „El Sistema“ zur „política del estado“ und die Förderung ging als Chefsache von den Ministerien ins Präsidialamt über. Kaum ein Bericht über die Erfolgsgeschichte von „El Sistema“, der nicht beklagen würde, dass die Regierung sie zu Propagandazwecken benutze. Welche Regierung täte das nicht? Es gibt wohl schlimmere Vorwürfe gegen die Regierung des krisengeschüttelten Landes.
Tatsache ist: „El Sistema“ ist höchst erfolgreich. Es umfasst heute Musikschulen im ganzen Land, 3.070 Chöre und Orchester; 1.000.337 Kinder und Jugendliche nehmen aktuell an der freiwilligen, musikpädagogischen Ausbildung teil, bei einer Gesamtbevölkerung von 31,5 Millionen. Gearbeitet wird im Kollektiv. Täglich von 14-18 Uhr versucht man, Inklusion und Qualität zu verbinden. Mit Erfolg: Das Simon Bolívar Jugendorchester ist heute nicht mehr ganz jugendlich, genießt aber Weltruhm. 2013 gastierte es bei den Salzburger Festspielen. Sir Simon Rattle war begeistert und sprach vom „Wunder aus Venezuela“. Gustavo Dudamel, der langjährige Dirigent des Simon Bolívar Jugendorchesters, leitete 2017 das Wiener Neujahrskonzert. Er sagt, „El Sistema“ habe ihm das Leben gerettet, und auch tausenden von anderen Kindern in Venezuela. So wie Essen und Gesundheitsfürsorge sollte Musik ein Recht für jeden Bürger sein. Der Jungstar am Dirigentenhimmel ist heute unter anderem musikalischer Direktor des Los Angeles Philharmonic Orchestra, bleibt „El Sistema“ aber verbunden.
Doch Exzellenz ist nicht alles. Es gibt ein Programm für Schulen mit behinderten Kindern, eines für Krankenhäuser, eines für Instrumentenbau, für volkstümliche und für avantgardistische Musik und eines für Häftlinge in neun Gefängnissen, berichtet Eduardo Mendez, der Exekutivdirektor von „El Sistema“. „Armut durch spirituellen Reichtum besiegen“, wolle man, zitiert Mendez den Gründervater Abreu. Disziplin, Ausdauer, die Einhaltung von Regeln in der Gemeinschaft und die Fähigkeit ein Instrument zu spielen erlernen die Kinder und erlangen dadurch auch Würde und ein gesteigertes Selbstwertgefühl. Oder andersherum: „Das schlimmste Delikt ist Exklusion – der soziale Ausschluss“, wie es der venezolanische Botschafter Jesse Chacón sagte. Lorena Lugo von der Interamerikanischen Entwicklungsbank (BID) stellte eine Fünfjahresstudie der BID zu „El Sistema“ vor. Ganz klar lassen sich demnach bereits kurzfristig signifikante Verbesserungen des Sozialverhaltens an 16 Indikatoren festmachen. Insbesondere werde aggressives Verhalten eingedämmt. Rosicler Gómez vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen stellte einen weiteren Ausbau der UN-Zusammenarbeit für „El Sistema“ im Rahmen der Nachhaltigen Entwicklungsziele 1 (keine Armut), 5 (Geschlechtergleichheit) und 16 (Frieden, Gerechtigkeit, starke Institutionen) in Aussicht. Das Ermutigendste ist, das „El Sistema“ inzwischen Inspiration und Beispiel für ähnlich gelagerte Programme in 70 Ländern ist. Und das nicht nur im Süden. Auch bei der Integration von Flüchtlingen und Migranten in unsere Gesellschaften können wir von „El Sistema“ lernen, betonte Martin Krüger vom Deutschen Musikrat.