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Amazoniens Unterwelt

  • von Robert Lessmann Dr
  • 26 Nov., 2024

Während die Katastrophen sich häufen und die internationale Klima- und Umweltdiplomatie weiterhin versagt – sie bringt seit einem halben Jahrhundert nur ungenügende Ergebnisse hervor – lassen Berichte der Vereinten Nationen und von NGOs aufhorchen, die vor einer gefährlichen Dynamik von Umweltzerstörung, Menschenrechtsverletzungen und dem Organisierten Verbrechen in Amazonien warnen.

Cali, Baku, Rio. Es war ein Herbst der Gipfel. Der Gipfel ohne Höhepunkte, der Gipfel ohne Ankommen im Sinne von angemessenen und glaubwürdigen Ergebnissen. Als ob die Welt Zeit hätte. Wirbelstürme in der Karibik und den USA, ja selbst in Südeuropa. Taifune in Taiwan und China. Unwetter kennen keine ideologischen - oder Landesgrenzen. Starkregen und Überflutungen in Nepal, Frankreich, in Spanien mit mehr als 200 Todesopfern, ja auch in Österreich. Brände in Griechenland und in Amazonien. In Indien fällt wegen Smog der Schulunterricht aus. Man soll im Haus bleiben. Die Besucher der COP 16 Artenschutz-Konferenz in Cali wurden dort von Ascheregen begrüßt, immer noch eine Begleiterscheinung der Zuckerrohrernte. Bolivien erlebte die schlimmste Naturkatastrophe seiner Geschichte und rief einen nationalen Notstand aus. Rund zehn Millionen Hektar – eine Fläche deutlich größer als Österreich – im amazonischen Umland sind abgebrannt. Im Vorjahr waren es „nur“ 6,3 Millionen Hektar. Es geht um’s Klima, es geht um die Welt. Und immer wieder geht es dabei um Amazonien, ihre „grüne Lunge“. Es geht darum, Kipppunkte zu vermeiden, points of no return, wo die Schäden irreversibel sind und selbst weitere Schäden hervorrufen. In dieser Lage lassen Berichte der Vereinten Nationen und von NGOs aufhorchen, die vor einer gefährlichen Verknüpfung von Umweltzerstörung, Menschenrechtsverletzungen und dem Organisierten Verbrechen in Amazonien warnen, wodurch eine neue Dynamik entsteht.


Es war bei einem Lokalaugenschein im TIPNIS, einem Natur- und Indígena-Schutzgebiet (Territorio Indígena y Parque Nacional Isiboro – Securé; letzteres sind zwei Flüsse, die das Schutzgebiet eingrenzen) am Fuße der Andenkette, wo die Berge enden und Amazonien beginnt. Damals waren Proteste von Umweltschützern und indigenen Vertretern gegen ein Straßenbauprojekt durch das unzugängliche Regenwaldgebiet von der Größe Tirols die erste große Herausforderung für die Regierung Morales in Bolivien, weil es ohne die verfassungsmäßig vorgeschriebene Konsultation der indigenen Bevölkerung und ohne Umweltverträglichkeitsprüfung in Angriff genommen wurde. Drei indigene Völker leben dort: Yuracaré, Moxeños und Chimanes. In der Tat findet die meiste Entwaldung im Umkreis von fünf Kilometern zu einer Straße statt. Im konkreten Fall befürchteten die Gegner des Projekts insbesondere ein weiteres Vordringen des Kokaanbaus und des Kokaingeschäfts im Schutzgebiet. Der oberste Drogenbekämpfer des Landes, in etwa im Rang eines Staatssekretärs, warnte beim Ortstermin vor Vereinfachungen. Das TIPNIS sei ein komplexes Universum. Siedler, unter ihnen Kokabauern, würden illegal vordringen, indigene Gemeinschaften ihren Lebensraum verteidigen. Es gebe aber auch Indígenaführer die selbst in den illegalen Export von Tropenhölzern verstrickt seien. Unlängst hätten seine Spezialkräfte im TIPNIS ein 24-stündiges Feuergefecht mit Kolumbianern gehabt, die dort ein Kokainlabor betrieben. Ich selbst war der Auffassung, dass jedenfalls das Drogengeschäft die Klandestinität suche und eine Straße eher das Vordringen der Sicherheitskräfte erleichtern würde. Das war im Jahr 2011.


Triebkraft Drogenhandel

Die Kokainproduktion ist für die daran beteiligten Länder sowohl ein wichtiger wenn auch illegaler – Wirtschaftsfaktor, als auch ein ernstes gesellschaftspolitisches und ökologisches Problem. Kokablätter werden überwiegend an den Ostabhängen der Anden produziert, wo diese nach Amazonien hin abfallen. Bei der Weiterverarbeitung kommen große Mengen verschiedener Chemikalien zum Einsatz, beispielsweise rund 300 Liter Kerosin pro Kilo Kokain-Hydrochlorid. Die drei wichtigsten Produzenten haben jeweils Flächenanteile an Amazonien: Kolumbien (7 Prozent), Peru (13), und Bolivien (8), ergänzt noch durch Brasilien (59 Prozent), das eine wichtige Rolle beim Transit der fertigen Droge zu den Absatzmärkten spielt. Besonders verheerend wirkt sich die jahrzehntelang vorherrschende Politik der Vernichtung von Kokafeldern aus, teilweise durch Besprühen mit Pflanzengift aus der Luft. In Ermangelung tragfähiger Alternativen zogen die Bauern ins Hinterland und legten neue Felder an. Diese Drogenbekämpfungspolitik ohne Nachhaltigkeit brachte alljährlich tolle Ergebnisse in den Statistiken, doch unter dem Strich liegt die Koka- und Kokainproduktion nach beinahe fünf Jahrzehnten dieser Politik heute auf historischem Rekordniveau. Und während sie einerseits so erfolglos war, dass es das illegale Drogengeschäft nicht einmal nötig hatte mit der Produktion in andere Weltregionen auszuweichen* oder auf die Sorte Epadú, deren Blätter zwar weniger Kokain enthalten, die aber unter dem amazonischen Blätterdach gedeihen kann und insofern kaum aufspürbar ist, hat die Kokavernichtung ohne Nachhaltigkeit im Laufe der Jahre wohl an sich schon Millionen von Hektar (Sub-) Tropischen Regenwald gekostet.


Nachdem man in der internationalen Drogenpolitik langsam dabei ist, jahrzehntelang getragene Scheuklappen abzulegen und ganzheitlicher zu denken, öffnete das Drogenkontrollprogramm der Vereinten Nationen (UNODC – United Nations Office on Drugs and Crime) mit seinem World Drug Report 2023 noch eine andere Perspektive: Ein ganzes Kapitel 4 ist dort der Verschränkung verschiedener krimineller Aktivitäten und der Umweltzerstörung in Amazonien gewidmet. Die Drogenökonomie, so heißt es dort, wirke als Antrieb für andere illegale Aktivitäten und Umweltzerstörung: illegale Landnahme, Abholzung, illegalen Bergbau, illegalen Handel mit Tieren und Pflanzen (Wildlife Crime). Geringe staatliche Präsenz, Armut und Korruption in Amazonien wirken als fruchtbare Nährlösung dafür und als Katalysator für Sekundärkriminalität: Steuer- und Finanzdelikte, Korruption, Totschlag, Überfälle, sexuelle Gewalt, Ausbeutung von Arbeitern und Minderjährigen sowie Gewalt, Mord und Totschlag gegenüber Umweltschützern, Menschenrechtlern und indigenen Völkern. Größer als der Umwelteffekt der Drogenproduktion an sich seien die Folgeschäden der dadurch angefachten Drogenökonomie, zum Beispiel die Anlage von Profiten in Viehzucht, Sojaanbau, im Holzgeschäft und in Goldminen, die oftmals zu Konflikten mit der indigenen Bevölkerung führen.


Katalysator Gold

Vor 35 Jahren durfte ich als Referent bei einer Menschenrechtsorganisation für das Volk der Yanomami kämpfen und habe dabei einen Film des bekannten Survival-Experten Rüdiger Nehberg und des Filmemachers Wolfgang Brög gegen Puristen in unserem Verband verteidigt. Die beiden hatten sich unter dem Vorwand, für einen deutschen Unterweltler Schwarzgeld investieren zu wollen, bei illegalen Goldsuchern eingeschlichen. Resultat war eine bedrückende Dokumentation über Umwelt- und Menschenrechtsverbrechen sowie die Untätigkeit der zuständigen brasilianischen Regionalbehörden. Sie hatten dabei auch Yanomami gefilmt, die dies offensichtlich nicht wollten, was kritisiert worden war. Der Film war zur Hauptsendezeit im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ausgestrahlt worden und ich verteidigte ihn mit dem Argument, ich könne wohl hunderte politisch korrekter Pressmitteilungen schreiben ohne ein vergleichbar großes Publikum zu erreichen. Genützt hat das alles ohnehin nichts. Die Lage ist heute schlimmer denn je.


Es ist schwierig, gegen den Markt anzukämpfen. Das wissen nicht nur Drogenfahnder. Der Goldpreis hat sich seit 2008 verdreifacht. Die größten Produzenten sind China (370 Tonnen), Australien (310); Russland (310), Kanada (200), die USA (170). Erst an 6. Stelle folgt mit Mexiko (120) ein lateinamerikanisches Land, an 11. Peru (90) und an 14. Brasilien (60). Brasilien soll über einige der größten Goldvorkommen verfügen, hauptsächlich im Norden, in Amazonien, auf dem Gebiet der Yanomami. Die Goldförderung in den Andenländern und in Amazonien ist häufig illegal – geht also allenfalls indirekt in die Statistik ein – und ist mit großen Umweltverheerungen verbunden. Oft kommt dabei das giftige Schwermetall Quecksilber zum Einsatz. In Brasilien dürfte die Hälfte der Goldförderung illegal sein und findet – zum Beispiel im Yanomami-Gebiet an der Grenze zu Venezuela – unter Kontrolle der großen brasilianischen Drogenorganisationen, wie dem Primeiro Comando da Capital (PCC) statt, das den Schürfern „Schutz“ anbietet, „Steuern“ verlangt, Schürfstellen kontrolliert und manchmal Maschinen stellt und wartet. In Peru und Bolivien mischt das Comando Vermelho mit, die älteste brasilianische Drogenorganisation, die 1979 in Rio gegründet worden war.


Zwischen 2011 und 2021 sei es in Brasilien zu einem Anstieg des Abbaus auf indigenen Territorien um 625 Prozent gekommen, besonders stark seit 2019. Während der Covid-19-Pandemie sei es bei abnehmenden Kontrollen und gekürzten Budgets zu einem regelrechten Goldrausch gekommen, berichtet das UNODC. Von Januar 2019 bis Dezember 2022 war dort der rechtsextreme Jair Bolsonaro Präsident, dem Indianerschutzrechte und Umweltschutz wenig und die Erschließung der „grünen Hölle“ Amazoniens viel bedeuten. Mit desaströsen Folgen, verheerenden Ausbrüchen von Unterernährung und Krankheiten. Besonders betroffen sind die Schutzgebiete der Yanomami mit etwa 30.000 Menschen. 50-90 Prozent von ihnen leiden unter Quecksilbervergiftungen unterschiedlichen Grades sowie unter der Zunahme von Gewalt.


In Kolumbien, Peru und Bolivien findet man Gold häufig in den Flüssen an den Ostabhängen der Anden, wo auch die wichtigen Kokaanbaugebiete liegen. In allen diesen Gebieten ist ein signifikanter Anstieg der Mord- und Totschlagsraten festzustellen.


Der Preis für einen Barren (ein Kilogramm) liegt mit rund 82.000 € rund doppelt so hoch wie der für ein Kilo Kokain zu Großhandelspreisen in europäischen Metropolen. Wobei mit Kokain im Straßenverkauf dann doch noch weit höhere Preise erzielt werden. Gold stinkt nicht. Im Vergleich zu Kokain ist es viel leichter verkehrsfähig. Ideal zur Geldwäsche.


Kolumbien – Ecuador – Connection

Machtvolle Drogenorganisationen sind besonders im Dreiländereck zwischen Brasilien, Kolumbien und Peru aktiv, einschließlich in und um die benachbarten Städte Leticia in Kolumbien und Tabatinga in Brasilien sowie Santa Rosa de Yavarí in Peru. Mit ihrer Kontrollfunktion für das Kokaingeschäft und dem Reichtum an ausbeutbaren Ressourcen weist diese Region heute möglicherweise die höchste Dichte von Gruppen der Organisierten Kriminalität auf, vermutet das UNODC. Menschenrechtsorganisationen beziffern die Mord- und Totschlagsrate in Tabatinga mit 106,6, in Leticia mit 60 und in Manaus mit 45 (pro 100.000 Einwohnern; in Deutschland liegt sie bei 0,8, in Österreich bei 0,9).


Nördlich davon fließt der Río Putumayo, der weiter östlich in den Amazonas mündet und im Oberlauf über hunderte von Kilometern die Grenze zwischen Kolumbien und Peru beziehungsweise Ecuador bildet. Der Vektor des Kokaingeschäfts verläuft hier stromaufwärts nach Ecuador, das Anfang 2024 in einer Welle der Gewalt versank, weil sich dort die Statthalter mexikanischer Organisationen blutige Revierkämpfe lieferten. Ein Vierteljahrhundert militarisierter Drogenkrieg und Milliarden von US-Hilfen im Rahmen des Plan Colombia haben nichts daran geändert, dass laut dem World Drug Report des UNODC 230.028 Hektar Koka (von insgesamt rund 300.000) in Kolumbien angebaut werden und nach wie vor auch etwa zwei Drittel der Kokainlabore in Kolumbien entdeckt und zerstört werden – fast die Hälfte davon in den südlichen Departments Putumayo und Nariño im Grenzgebiet zu Ecuador. Die Verlagerung des Kokaanbaus in den Süden wird ebenso als Konsequenz des Plan Colombia angesehen wie der Friedensprozess mit der ältesten Guerilla, den 1964 gegründeten Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC), vor einem Jahrzehnt. Präsident Juan Manuel Santos bekam dafür im Oktober 2016 den Friedensnobelpreis. Der Friedensplan wurde jedoch nur halbherzig vollzogen. Nachfolger Iván Duque lehnte ihn ab. Hunderte früherer Guerillakämpfer, die ihre Waffen abgelegt hatten, wurden später ermordet. Verschiedene ihrer frentes (Fronten i.S. von Abteilungen), die große Autonomie genossen, hatten sich schon vorher mit dem Drogengeschäft finanziert und machten einfach weiter. Letztlich gelang es dem kolumbianischen Staat nicht, in den früheren Guerillagebieten rechtsstaatliche Präsenz zu schaffen. Durch den Einsatz verbesserter Sorten und Anbaumethoden soll die Ernte nach Berechnungen des UNODC um durchschnittlich 24 Prozent angestiegen sein und durch Optimierung der Weiterverarbeitung auch der Kokainertrag. Solche neuen Hochproduktivitätszonen befinden sich unter Kontrolle rechter Narcoparamilitares, FARC-Dissidenten beziehungsweise des noch aktiven Ejercito de la Liberación Nacional (ELN), einer weiteren Guerilla. Alle zusammen werden sie Grupos Armados Ilegales (GAI) genannt. 35 Prozent der Kokaanbaufläche Kolumbiens befinden sich in Zonen, in denen GAI präsent sind. Diese arbeiten fallweise zusammen oder bekriegen sich. Aber alle sind um strikte Kontrolle des Produktionsprozesses bemüht. Im Department Putumayo lassen sich sechs Gruppen identifizieren, die nahezu umfassende Kontrolle ausüben. Die größten sind ehemalige frentes der FARC, das Comando Frontera und die Frente Carolina Ramírez und sie bekämpfen sich.


Amazon Underworld

Im Rahmen des 20. Treffens der Mitgliedsstaaten der UN Konvention gegen das Organisierte Verbrechen treffe ich im Herbst 2024 den NGO-Vertreter Raphael Hoetmer und zwei Indígena-Vertreter aus dem peruanischen Amazonien, die ihre Namen besser nicht veröffentlicht wissen wollen. In ihre Heimatdörfer trauen sie sich nicht zurück. Das Hauptproblem dort sei der Kokainhandel, erzählen sie. Die drei sind in die Wiener UNO-City gekommen, um das Projekt Amazon Underworld vorzustellen, an dem mehrere NGOs und Investigativjournalisten teilgenommen haben. Amazon Underworld machte unter anderem mit Interviews von Behördenvertretern, Sicherheitskräften, Indígenas und verschiedenen illegalen Akteuren vor Ort dort weiter, wo der UN-Bericht aufhört, um zu einem kompletteren Bild der Dynamik des Geschehens zu kommen. In ihrem Bericht erscheint Amazonien als Karte, in der die Grenzgebiete von Brasilien, Französisch Guayana, Surinam, Venezuela, über Kolumbien, Ecuador, Peru bis Bolivien und Paraguay von einem dicken Halbmond verschiedener illegaler Aktivitäten und Akteure umgeben sind. Aus der Nähe besehen handelt es sich dabei um einen bunten Flickenteppich krimineller Akteure; selten besteht Hegemonie, häufig gibt es Konflikte. In 70 Prozent der untersuchten Gemeinden waren irreguläre bewaffnete Gruppen präsent: kolumbianische Guerillas, brasilianische kriminelle Organisationen, venezolanische und peruanische Banden, nicht selten auch unter Duldung oder in Komplizenschaft mit den lokalen Behörden. Dabei komme es auch zu Fällen moderner Sklaverei und Menschenhandel.


Die dort lebenden indigenen Gemeinschaften und ihre Territorien spielen eine fundamentale Rolle beim Schutz der Regenwälder und sind gleichzeitig den Attacken der Organisierten Kriminalität ausgesetzt. Im letzten Jahrzehnt, so der Bericht in der Einleitung, sei Amazonien zu einer der gefährlichsten Regionen Lateinamerikas geworden und die marginalisierten Gemeinschaften litten am meisten unter der Gewalt. In Brasilien seien indigene Gemeinden systematisch zum Opfer gewalttätiger Invasionen von Goldsuchern geworden, während man in den neun amazonischen Departments Kolumbiens seit 2020 43 Massaker dokumentiert habe und bewaffnete Gruppen die ländlichen Gemeinden terrorisierten. In Peru rekrutieren Drogenhändler indigene Kinder, um in den Kokapflanzungen zu arbeiten. Guerillagruppen schicken ganze Familien in die illegalen Goldminen. Laut der Menschenrechtsorganisation Global Witness sei einer von fünf Morden, die im Jahr 2022 weltweit gegen Umweltschützer oder Verteidiger ihres Territoriums verübt wurden, in Amazonien geschehen, nämlich 39.


Rember Yahuarcani aus dem Volk der Huitoto im peruanischen Amazonien wies auf der Biennale 2024 in Venedig in einem seiner farbenfrohen Großgemälde (Titelbild) darauf hin, dass dort zwischen 2013 und 2023 insgesamt 32 indigene Führer und Führerinnen von Eindringlingen, Drogenhändlern und der Holzmafia ermordet wurden. Ihre amazonische Heimat sei für Indigene einer der gefährlichsten Orte.


Eine entscheidende Rolle spielen Straßen. Wie erwähnt, findet die meiste Entwaldung im Umkreis von fünf Kilometern zu einer Straße statt – und in Amazonien entfallen auf einen legalen Straßenkilometer drei illegale. Aber auch andere Infrastruktur erleichtert das Vordringen: illegale Landepisten, desgleichen Flüsse, bevorzugt zur Regenzeit. In Gegenden, wo indigene Territorien fragmentiert, von Straßen durchschnitten oder wirtschaftlich und sozial sehr von städtischen Märkten abhängig sind, wachsen illegale Märkte rasch und machen die indigenen Völker sehr verwundbar, mit der Gefahr einer Desintegration ihrer Gemeinden. In den peruanischen Departments Ucayali und Madre de Dios beispielsweise, wo alle sozialen und politischen Aktivitäten sich mit der illegalen Ökonomie überlappen und sich gegenseitig unterstützen, werden die indigenen Gemeinden dieser Dynamik unterworfen, und wenn sie in der Lage sind Widerstand zu leisten, werden sie bis zu dem Punkt isoliert, dass der Zugang zu ihrem Territorium gefährdet ist. Der Preis, den indigene Organisationen und ihre Führer bezahlen, ist sehr hoch. Sie sind mit Drohungen gegen sich und ihre Familien konfrontiert. Fälle von Gewalt gegen sie werden häufig nicht gut untersucht und bleiben straflos, warnt Amazonia Underworld.


Panorama der kriminellen Akteure

Das Jahr 2016 brachte in mehrfacher Hinsicht neue kriminelle Dynamiken. Das Friedensabkommen mit der ältesten Guerilla des Halbkontinents, den Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC), führte dazu, dass Tausende ihre Waffen niederlegten. Die Guerilla hinterließ vielerorts ein Machtvakuum, das nicht mit rechtsstaatlicher Präsenz gefüllt wurde, sondern von rechtsextremen Paramilitärs, kriminellen Banden und FARC-Dissidenten.


In Venezuela wurde 2016 ein Gesetz zur Erschließung des Grenzgebiets zu Kolumbien, Brasilien und Guyana verabschiedet, des sogenannten Arco Minero Orinoco. Doch die Regierung Maduro ließ keine Initiativen zur Erschließung durch legalen Bergbau folgen. Das Vakuum füllten venezolanische kriminelle Gruppen, häufig in Kooperation mit lokalen Behörden und Sicherheitskräften, aber auch FARC-Dissidenten und ELN-Guerilleros, die schon länger beim Drogentransit in Venezuela tätig waren.


Ebenfalls 2016 wurde auch ein Pakt zwischen drei großen brasilianischen Gruppen der Organisierten Kriminalität aufgekündigt: dem Primero Comando da Capital, dem Comando Vermelho und der Familia do Norte, was zu Revierkämpfen führte. Mit Kleinkriminellen überfüllte Gefängnisse bildeten eine ideale Rekrutierungsquelle.


Die kolumbianische ELN hat eine strategische Präsenz zu beiden Seiten der venezolanischen Grenze. Sie kontrolliert die illegale Goldförderung in den venezolanischen Bundesstaaten Amazonas, Bolívar und Delta Amacuro, wie auch die Routen des Drogenhandels nach Guyana und Brasilien entlang des Cayuní-Flusses und des Río Negro.


Die FARC hatten historisch eine starke Präsenz im kolumbianischen Amazonien, wo sie die Entwaldung begrenzten, weil sie den Schutz des Blätterdaches suchten. FARC-Dissidenten tun dies wieder. Die Entwaldung ist 2022/23 in den Departments Meta, Caquetá und Guaviare drastisch zurückgegangen. Dort operieren La Segunda Marquetalía (unter Luciano Marín Arango alias Iván Marquez) und Estado Mayor Central – FARC (unter Néstor Gregorio Vera Fernandez alias Iván Mordisco). In Venezuela arbeitet die Frente Acacio Medina im Drogentransfer.


Das Primero Comando da Capital (PCC) wurde 1993 im Gefängnis in São Paulo gegründet und ist inzwischen das wichtigste Drogenunternehmen Brasiliens. Traditionell wurden Drogen aus Bolivien und Peru über Paraguay importiert. Mittlerweile ist das PCC auch ins Grenzgebiet zu Venezuela expandiert, wo es über 2.000 Mann verfügen soll und Drogengewinne in die Goldförderung steckt. Verschiedene Quellen berichteten Amazon Underworld, dass das Engagement des PCC dort Supervision, Steuererhebung sowie Dienstleistungen einschließlich Bordellen umfasst.


Das Comando Vermelho (CV) ist das älteste Drogenunternehmen Brasiliens. Es wurde 1979 in Rio gegründet und ist in Paraguay und Kolumbien aktiv sowie neuerdings auch in Bolivien und Peru. Die Familia do Norte (FDN) als Drogenorganisation mit Sitz in Manaus wurde in der zweiten Hälfte der Nullerjahre im Zuge von Auseinandersetzungen weitgehend zerrieben und ist teilweise im CV aufgegangen.


In Ecuador bekriegen sich Los Lobos und die Choneros, die im Drogenexport tätig sind und jeweils mit unterschiedlichen mexikanischen Organisationen Beziehungen unterhalten.


Schlussfolgerungen

Amazonien wird im Zusammenhang mit der Klimakrise und einem möglichen ökologischen Kipppunkt diskutiert. Doch bis zu welchem Punkt muss Amazonien vom Organisierten Verbrechen durchdrungen sein um zu sagen, dass die illegalen Ökonomien die Oberhand haben? In manchen Regionen übersteigen die Gewinne aus illegalen Geschäften bereits die behördlichen Budgets. Mit schwacher Präsenz und geringen Mitteln ist der Kampf dagegen ein Ding der Unmöglichkeit, resümiert der Bericht von Amazon Underworld.


Seine Empfehlungen beziehen sich auf Kooperation und Informationsaustausch, Stärkung der Grenzsicherheit. Whistleblower und Zeugen müssten geschützt und Korruption bekämpft werden. Die Drogenfahndung einschließlich der zu ihrer Herstellung benötigten Chemikalien sollte intensiviert werden. Umweltprobleme und Gewaltakte sollten in einer grenzüberschreitend zugänglichen Datenbank unter besonderer Berücksichtigung der Erfassung Organisierter Kriminalität dokumentiert werden. Generell sei ganzheitliches Denken erforderlich. Umweltprobleme und Sicherheitsfragen müssten zusammen gedacht werden, Umweltschutzkonferenzen und Sicherheitskonferenzen zusammengeführt. Besonders wichtig sind der Schutz und die Stärkung indigener Gemeinschaften. Der Bericht empfiehlt ferner die Ausweisung grenzüberschreitender Schutzgebiete.


Immerhin ein Lichtblick: Mit Gustavo Petro (Kolumbien) und Lula da Silva (Brasilien) haben sich die Präsidenten der wichtigsten Staaten Amazoniens – was Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft betrifft – zu mehr Schutz und Zusammenarbeit bekannt.


Www.amazonunderworld.org

www.infoamazonia.org

www.amazonwatch.org


Koka kann überall dort gedeihen, wo auch Kaffee wächst; so war holländisch Indonesien einstmals ein wichtiger Produzent.


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