Robert Lessmann
Was passiert mit den einstigen Hoffnungsmodellen Lateinamerikas? Kuba und Venezuela läuft die Bevölkerung davon. In Nicaragua herrscht Ortega wie ein abschreckender Diktator. Und in Bolivien arbeitet der erfolgreichste Präsident, den das Land je hatte, heute mit Nachdruck an der Zerstörung seines Erbes und seines Ansehens. Die Berichterstattung unserer Medien – sofern sie von diesen Ländern überhaupt berichten – goutiert Wirtschaftskrisen und die Glaubwürdigkeit von Wahlen. Selten geht es darum, wie es den Menschen geht. Die Solidaritätsbewegung, Freunde und Sympathisanten sehen konsterniert zu – und schweigen.
Tobias Lambert blickt aus linker Perspektive hinter die Kulissen Venezuelas, das mit seinem „bolivarianischen“ Ansatz im neuen Jahrtausend ganz Lateinamerika mitreißen wollte. Er bereist das Land seit mehr als 20 Jahren und berichtet darüber. Kenntnis- und detailreich rekapituliert er die Vorgeschichte und den politischen Prozess unter Hugo Chávez (im Bild auf der Klimakonferenz von Cochabamba, 2010) und danach, bespricht Wahlergebnisse und politische Trends auf der Linken wie auf der Rechten. An vielen Stellen vermisst man im Text regelmäßige Jahreszahlen, die helfen würden, in der Komplexität den roten Faden nicht zu verlieren. Eine Zeittafel wäre eine hilfreiche Ergänzung bei allen weiteren Auflagen.
Drei Linien treten in Lamberts Analyse als Erklärung hervor: erstens der fragile Extraktivismus. Man könnte auch sagen, ein auf die Einkommen aus dem Export nicht erneuerbarer Rohstoffe (Erdöl im konkreten Fall) gestützter politischer und gesellschaftlicher Voluntarismus. Man hat zwar immer gewusst: „hay que sembrar el petroleo“ (man muss die Öleinnahmen säen, die Wirtschaft diversifizieren), es aber nicht getan. Die Korruption im Land wurde durch den Exportboom noch gefördert. Mit sinkenden Weltmarktpreisen bracht die Krise aus.
Zweitens: Die zentrale Rolle einer charismatischen Führungsperson, auf die sich das Projekt stützt und ins Wanken gerät, wenn diese wegbricht. Je stärker das Modell wirtschaftlich und politisch unter Druck geriet, desto mehr reagierte es mit antidemokratischen und repressiven Praktiken, intransparenten Privatisierungen, Teilliberalisierungen unter Beibehaltung staatlicher Kontrollen, steuerfreien Importen von denen eine neue, sogenannte „Bolibourgeoisie“ profitierte. Vom Sozialismus des 21. Jahrhunderts ist nur gelegentlich noch die Rede.
Und drittens die unverbrüchliche Feindschaft der alten Eliten, der nationalen wie der internationalen. In diesem Zusammenhang wird in Lamberts Buch deutlich, wie desolat und zerstritten die venezolanische Opposition zumeist war (und ist), und wie sie trotzdem von Washington und seinen Verbündeten unterstützt wird, egal wie chaotisch sie daherkommt. Man denke nur an die Anerkennung der „Präsidentschaft“ von Juan Guaidó. Nebenbei wirft das auch ein Schlaglicht auf viel kritisierte Allianzen mit Schurkenstaaten wie dem Iran oder Weißrussland. Mit wem, so könnte man sich in europäischen Hauptstädten fragen, sollte ein Präsident denn Beziehungen anknüpfen, auf den Washington ein millionenschweres Kopfgeld aussetzt?
Das Buch behandelt zuletzt sogar noch das umstrittene Wahlergebnis von 2024. Regierung und Opposition reklamieren den Wahlsieg für sich. Washington und seine Verbündeten glauben der Opposition. Beide Seiten behaupten, dass sie ihn dokumentieren können. Wer es definitiv und lückenlos könnte, wäre die Regierung Maduro, woran Lambert keinen Zweifel lässt. Dass sie es nicht tut, schmälert einmal mehr ihre Glaubwürdigkeit, nun auch für die befreundeten Regierungen in Kolumbien und Brasilien, die von der venezolanischen Krise ja mit betroffen sind. Das katastrophale Patt (Antonio Gramsci) zwischen einer repressiv sich an der Macht haltenden Regierung und einer Opposition, von der leider auch nichts zu erwarten ist, können nur die Venezolanerinnen und Venezolaner selbst aufheben. Und darauf besteht vorerst leider wenig Hoffnung.
Wie auch immer: Wer zu Venezuela mitreden will, sollte Lamberts Buch lesen.
Tobias Lambert: „Gescheiterte Utopie? Venezuela ein Jahrzehnt nach Hugo Chávez“, Mandelbaum Verlag, Wien, 2024, 238 S., € 23.-