Robert Lessmann
„Hegel bemerkt irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Ereignisse und Personen sich sozusagen zweimal ereignen: das eine Mal als große Tragödie, das andere Mal als Farce“, schrieb Karl Marx in „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ in Anspielung auf einen Staatsstreich, der die Französische Revolution gewissermaßen konterkarierte.
Am 26. Juni 2024 um 14.30 fuhr ein halbes Dutzend gepanzerter Fahrzeuge auf der Plaza Murillo von La Paz auf, wo Parlament und Präsidentenpalast Boliviens liegen. Eines der Fahrzeuge rammte die Eingangstür zum alten Präsidentenpalast (Palacio Quemado, der verbrannte oder brenzlige Palast, wie er wegen seiner bewegten Vergangenheit heißt). Dort kam es zu einer verbalen Konfrontation zwischen Armeechef Juan José Zúñiga und Staatspräsident Luis Arce, der ihn aufforderte, nach Hause zu gehen, was der General mit „no“ beantwortete, dann aber doch auf die Plaza zurückkehrte, wo er vor der Presse Statements abgab und in seinem verdunkelten Panzerfahrzeug lange per Handy telefonierte: Das Land sei in der Krise. Es könne so nicht weiter gehen. Man wolle das Kabinett austauschen, Neuwahlen ausrufen und die politischen Gefangenen freilassen. Um 17:30 war der Spuk zu Ende. Die Militärs zogen Richtung ihrer Kaserne im Stadtteil Miraflores ab, wo Zúñiga sowie die ihn begleitenden Chefs von Marine, Juan Arnez, und Luftwaffe, Marcelo Zegarra, gegen 19:00 Uhr verhaftet wurden. Präsident Arce hatte zwischenzeitlich neue Oberkommandierende eingesetzt, die den Rückzug anordneten.
Die gute Nachricht: Es soll nur neun Verletzte gegeben haben. Die sozialen Organisationen und die Zivilgesellschaft standen unverzüglich zur Verteidigung der Demokratie parat. Massen von Zivilisten strömten zur Unterstützung der Regierung auf die Plaza Murillo. Der Gewerkschaftsbund COB und die Landarbeitergewerkschaft CSUTCB riefen zum Generalstreik auf. Eva Copa, die Bürgermeisterin der zweitgrößten Stadt, El Alto, wo sich wichtige Militäreinheiten befinden, rief mit der Verfassung in der Hand die Bevölkerung dazu auf, die Straßen zu blockieren. Alle politischen Kräfte, einschließlich der inhaftierten Drahtzieher der rechten Machtergreifung von 2019, deren Freilassung Zúñiga gefordert hatte, verurteilten zunächst den Putschversuch.
Die Ereignisse zeigen freilich auch, wie fragil die vormals so stabilen Verhältnisse inzwischen wieder sind. Kaum war der bemerkenswert dilettantische Putschversuch gescheitert, versuchten die politischen Akteure Kleingeld daraus zu ziehen und sprachen von ‚autogolpe‘, einem selbstinszenierten Coup, der das Image des Präsidenten habe stärken sollen. In der Tat galt General Zúñiga als Vertrauter Arces, war von diesem vor anderen Kandidaten erst im November 2022 zum Armeechef befördert worden. Beide waren wohl noch am Wochenende zuvor bei einem Basketballmatch zusammen gesehen worden. Zusätzlichen Auftrieb hatte diese Version durch Zúñiga selbst bekommen. Nachdem klar wurde, dass sein Unternehmen scheitern würde, hatte er vor der Presse behauptet, Arce selbst habe ihn um diese Inszenierung gebeten. Glaubwürdig?
Tatsache ist, dass General Zúñiga zwei Tage zuvor bei einem Fernsehinterview, das er im Stile eines Staatschefs gab, seine Kompetenzen krass überschritten hatte. Unter anderem hatte er damit gedroht, den Arce-Widersacher, Expräsident Morales, zu verhaften, sollte dieser bei den im nächsten Jahr anstehenden Wahlen wieder kandidieren. Das Militär sei der bewaffnete Arm des Volkes. Am nächsten Tag wurde ihm vom Verteidigungsminister seine Entlassung mitgeteilt, diese aber noch nicht offiziell kommuniziert. Am nächsten Morgen wurden ab 9:30 irreguläre Truppenbewegungen gemeldet. Zúñiga und die anderen Beteiligten waren für ihre politischen Vorgesetzten nicht mehr erreichbar. Zúñiga selbst beklagte sich auf der Plaza Murillo gegenüber der Presse darüber, dass gegenüber der Armee Treue mit Untreue vergolten würde. Die Kurzschlusstat eines beleidigten Egomanen?
Tragödie oder Farce?
Wie bei der Machtergreifung der Rechten 2019 wurde deutlich, dass die politische Führung das Militär nicht im Griff hat. Auch Armeechef Williams Kalimán, der Morales damals zum Rücktritt aufforderte, hatte sich ja stets als dessen Parteigänger und als ‚soldado del proceso de cambio‘ bezeichnet. Hatte Zúñiga darauf gesetzt, dass Arce angesichts der Panzerfahrzeuge die Flucht ergreifen würde? Bei Morales hatte ja schon eine mündliche Aufforderung genügt. Diente sein Telefonieren dazu, Verstärkung herbeizurufen, die nicht eintraf? Möglicherweise werden die Gerichtsverfahren Klarheit bringen. Jedenfalls scheinen die bisherigen Ermittlungen darauf hinzudeuten, dass wohl mehr dahinter steckte, als es zunächst den Anschein hatte. Insgesamt wurden mehr als zwanzig hohe Militärs inhaftiert, darunter auch der Chef einer Eliteeinheit aus der Stadt Cochabamba, die fünf Scharfschützen zur Plaza Murillo entsandt hatte. Einschlägige Planungen seien seit Mai gelaufen und ein Soziologe, der im Verteidigungsministerium gearbeitet hatte, wurde unter dem Verdacht, der ideologische Kopf zu sein, ebenfalls verhaftet.
Nicht zuletzt sprachen manche Äußerungen und Forderungen Zúñigas vielen Bolivianerinnen und Bolivianern aus der Seele. Die Regierungspartei MAS ist zwischen Anhängern des amtierenden Präsidenten Arce und des Expräsidenten Morales gespalten. Beide Lager halten getrennte Parteitage ab. Erst Anfang Mai hatte das Arce - Lager mit Grover García einen eigenen Parteichef gewählt, ein Amt, das auch Evo Morales für sich in Anspruch nimmt. Die mächtigen sozialen Bewegungen, die die Regierungspartei MAS tragen, sind ebenfalls gespalten. Parteitage und ihre Ergebnisse werden jeweils von der Gegenseite vor dem Wahlgerichtshof angefochten. Im Parlament fliegen zwischen Angehörigen beider Lager mitunter auch die Fäuste. Die reguläre Opposition scheint nach dem Fiasko der von ihren Parteien getragenen „Interimsregierung“ von 2019/2020 nicht vorhanden.
Aktuell tobt der Streit um eine Parlamentssitzung, die der Senatspräsident Andrónico Rodríguez (evista) einberufen hatte, was – so die arcistas – nur dem Parlamentspräsident David Choquehuanca (arcista) vorbehalten sei. Der Oberste Gerichtshof, der darüber urteilen kann, wird nicht anerkannt, weil seine Angehörigen ihr Mandat selbst verlängert haben. Schon seit einem halben Jahr hätten Nachfolger gewählt werden müssen, was wiederum wegen der Paralysierung des Parlaments nicht möglich war.
Das Morales - Lager hatte für den 27. Juni zu Straßenblockaden aufgerufen. Die Transportunternehmer blockieren wegen der Treibstoffknappheit ohnehin. Daneben leidet das Land wegen sinkender Gaspreise und Fördermengenunter Devisenknappheit. Man hatte es versäumt, rechtzeitig neue Quellen zu erschließen und die Regierung beklagt nun, dass die Opposition zusammen mit den evistas Kredite blockiere, die für Neuerschließungen nötig wären. Die Nutzung der reichlichen Lithiumvorkommen wiederum kommt seit anderthalb Jahrzehnten nur schleppend voran. Erst unlängst wurde der staatliche YLB (Yacimientos de Litio Bolivianos) von einem Korruptionsskandal geschüttelt. Angesichts dieser Probleme haben viele Bolivianerinnen und Bolivianer den Eindruck, dass sich maßgebliche Politiker nur um ihre Karriere – sprich: ihre Kandidatur bei den 2025 bevorstehenden Wahlen - kümmern, allen voran der 2019 gestürzte, einstige Hoffnungsträger Evo Morales. Dessen Vizepräsident und Berater aus besseren Tagen, Álvaro García Linera, sieht eine große Gefahr für die Institutionalität und die Demokratie in Bolivien.* Das Spiel mit dem Feuer – sprich: dem Militär – sei gefährlich. Besonders in einem Land mit der Putschtradition Boliviens. In der Tat mag fortgesetzte politische Verantwortungslosigkeit dazu führen, dass die Menschen eines Tages mit dem Militär die Hoffnung verbinden, das Chaos zu beseitigen.
* Álvaro García Linera: „Lo malo es que, en esta pelea intestina, muy egoista, muy mezquina, están jugando con monstruos. De un lado y del otro, están jugando con los militares y eso es muy peligroso. No se puede banalizar la presencia militar en la política. No se puede banalizar el mal, decía Hannah Arendt. Es algo muy peligroso. Más aún en Bolivia, que tiene un historial récord en el mundo de golpes de Estado. (…) la diferencia entre ambos nace de una mirada muy obtusa de sus luchas personales, sin entender que están jugando con fuego.“