Robert Lessmann
Oft betraf und betrifft Außenseitersein oder Ausgrenzung auch Künstler, die dann Sezessionen gründeten oder gar der Spionage beschuldigt wurden, wie beispielsweise Caspar David Friedrich. Dem brasilianischen Kurator Adriano Pedrosa (künstlerischer Leiter des Museu de Arte von São Paulo) ist es – nicht nur, aber auch – zu verdanken, dass der globale Süden auf dieser ältesten internationalen Kunstbiennale (seit 1895) so stark vertreten ist wie nie zuvor. Fremd sein im eigenen Land wird da thematisiert, Kolonialismus und Dekolonisierung. Ein kongolesisches Künstlerkollektiv (Cercle d’Art des Travailleurs de Plantation Congolaise, CATPC) möchte mit seinen Skulpturen „im heiligen Wald“ einen Übergang von einer schmerzhaften Vergangenheit in ein ökologisch nachhaltiges Morgen aufzeigen, fragt aber im Video der Theaterdarbietung einer hitzigen Diskussion („Blasphemie oder Heiligkeit“) gleichzeitig, ob es angemessen und akzeptabel sei, wenn die ehemaligen Kolonisatoren Wiedergutmachung leisten mit dem Geld, das sie womöglich anderenorts auch zusammengeraubt haben? Letztere besteht in einem großen, weißen Würfel (ein Fetisch oder ein Museum für zurückgegebene Raubkunst?), der im „heiligen Wald“ gebaut und von den Betroffenen heiß diskutiert wird. Die eindrucksvolle Präsentation findet im holländischen Pavillon statt, gleich einem der ersten, die man nach dem Betreten der Giardini erreicht. Er wird in Zusammenarbeit des Kurators Hicham Khalidi mit dem Künstler Renzo Martens und mit Unterstützung der holländischen Mondrian Stiftung bespielt.
Das Konzept der Länderpavillons löst sich auf. Der russische Pavillon, qua Sanktionen geschlossen, ist an Bolivien ausgeliehen. Moskau pflegt auf diese preiswerte Weise die Beziehung zu Ländern, die vom Westen eher Missachtung oder Zurückweisung erfahren. Der israelische Pavillon bleibt auf Wunsch der Künstlerin Ruth Patir geschlossen, bis ein Waffenstillstand im Gaza-Krieg erreicht und die Geiseln freigelassen sind. Der polnische Pavillon wurde an ein ukrainisches Künstlerkollektiv ausgeliehen.
Fremd sein, das heißt oft auch heute noch „fremd sein im eigenen Land“. Indigene Völker spielen – passiv wie aktiv – eine große Rolle auf der Biennale, häufig auch im Zusammenhang mit Ressourcenabbau und Naturzerstörung. „Heute Lithium, morgen Hunger“, konstatiert eine Aufschrift im spanischen Pavillon. Und der dänische Pavillon ist einer Fotoausstellung über die Inuit gewidmet. Indigene Künstler der Yanomami (Brasilien), der Cherokee (Nordamerika) und der Aborigines (Australien) kommen zu Wort. Rember Yahuarcani aus dem Volk der Huitoto im peruanischen Amazonien weist in einem seiner farbenfrohen Großgemälde darauf hin, dass dort zwischen 2013 und 2023 insgesamt 32 indigene Führer und Führerinnen von Eindringlingen, Drogenhändlern und der Holzmafia ermordet wurden. Ihre amazonische Heimat sei für Indigene einer der gefährlichsten Orte.
Im Haupthaus der Giardini wird ein Saal von Künstlern mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen bespielt, darunter der Österreicher Leopold Strobl. „Arpilleristas“ aus Chile stellen in den Arsenale Textilkunst aus, mit der sie während der Pinochet-Diktatur ihr Leben im Exil finanzierten. Louis Fratino überrascht in den Giardini unter der Rubrik „Anonymous Homosexual“ mit expliziten Bildern männlicher Homosexualität. Die bolivianischen „Mujeres Creando“ und Claudia (La Chola) Poblete aus Argentinien thematisieren das Schicksal von Sexarbeiterinnen und Transgender-Personen.
In einem Raum im Haupthaus der Giardini widmet sich ein „Museum der alten Kolonie“ dem imperialen Verhältnis USA/ Puerto Rico. Das Foto eines guten Soldaten, der sich helfend zu einem nackten Jungen hinabbeugt, stellt in diesem Kontext die Frage, inwieweit man überhaupt „gut“ sein kann als Teil einer mörderischen Maschinerie.
Flucht ist kein Verbrechen
Im Zentrum stehen indessen Flucht und Migration. Am Eingang zu den Arsenale – einst Waffenschmiede des mediterranen Großreiches Venedig – kreuzt ein schwerbepackter Lastenträger von Yinka Shonibare („Refuge Astronaut“) mit seinem Hab und Gut den Weg der Besucherinnen und Besucher. Im Inneren erzählen Flüchtlinge aus allen Winkeln dieses Planeten in einer Serie von Videos von ihren Schicksalen. Und ein Raum ist angefüllt von großen Landkarten, zu und auf denen sie grafisch von ihren Odysseen berichten. Erst zusammengenommen werden sie von der Dokumentation zum Kunstwerk.
Die Biennale ist noch bis zum 24. November geöffnet und immer eine Reise wert. Das Tagesticket für Giardini und Arsenale (zusammen an einem Tag kaum zu bewältigen) kostet 20€, ein Dreitagesticket 40€. Dazu kommt für Tagesbesucher der Lagunenstadt neuerdings und vorerst eine Besuchsgebühr von 5€. Beides ist auch im Internet erhältlich und dann als QR-Code mitzuführen. Dass die Tagesgebühr nach jahrelangen Diskussionen und Vorbereitungen ausgerechnet am Nationalfeiertag und dem ersten langen Wochenende der Biennale testweise eingeführt wurde, ist für die Verwaltung kein Ruhmesblatt und führte zu chaotischen Zuständen an den Ankunftsmolen der Tagestouristen. Und dass ausgerechnet dort im Block und quasi flächendeckend die angekündigten „Stichproben“ vorgenommen wurden, verdankt sich wohl entweder Gedankenlosigkeit oder einem beabsichtigten Abschreckungseffekt. Kenner wählten eine etwas längere Alternativroute und umgingen die mutwillig provozierten Menschenknäuel am Kai elegant durch die engen Gassen, wo sie vielleicht in einem der lokalen Cafes noch einen Espresso und ein kleines Gebäck genossen – auch das findet man noch.
Persönliches Highlight des Autors war eine aufwendige Videoprojektion des Schweizer Pavillons im Halbrund eines Himmelsgewölbes, eine Art ungemein selbstironischer Werbefilm einer „Super Superior Civilisation“. Gleichauf und von den meisten anderen Kommentatoren favorisiert ist der Österreichische Pavillon, bespielt von Anna Jermolaewa, die 1970 in Leningrad (UdSSR) geboren wurde und 1989 aus politischen Gründen aus der Sowjetunion fliehen musste. Ein Video von Proben zum Schwanensee-Ballett von Tschaikowski kann als Code für einen erwünschten Machtwechsel gelesen werden. Zu Sowjetzeiten wurde Schwanensee im Fernsehen oft in Phasen politischer Unruhe oder nach dem Tod eines Staatsoberhaupts gespielt – manchmal in Dauerschleife. Ein Raum mit verschiedenen Blumenarrangements ist alles andere als unschuldig: Sie stehen jeweils für eine Revolution. Nelken stehen für die portugiesische Revolution von 1974 und so weiter. Aufsehen erregen sechs Telefonzellen nicht nur bei jungen Besuchern, die gar nicht mehr wissen, was eine Telefonzelle überhaupt ist. Schon ihr Transport per Vaporetto auf den Kanälen Venedigs zu den Giardini war ein Spektakel. Sie stammen aus Traiskirchen. Für viele Flüchtlingen waren sie das Kommunikationsmittel in die alte Heimat. Auch für Anna Jermolaewa. In einem Video von einer Sitzbank im Westbahnhof erzählt sie von der Suche nach der bequemsten Schlafstellung. Die Nächte ihrer ersten Woche in Wien hatte sie dort zugebracht.