Robert Lessmann
Es sei ja nichts passiert, ist zu hören. Bekommen wird den Preis nun Alexei Nawalny. Doch die Nominierung der nach dem Sturz von Evo Morales im November 2019 selbsternannten „Interimspräsidentin“ Jeanine Añez unter den ersten drei Kandidaten war ein veritabler Propagandaerfolg und wurde von der politischen Rechten in Bolivien entsprechend zelebriert. Geht es ihr doch darum, die vor einem Jahr mit 55 Prozent der Stimmen gewählte Regierung von Luis Arce (MAS – Movimiento al Socialismo) und damit auch die Rückkehr zur Demokratie im Andenland zu diffamieren und zu destabilisieren: Aktuell durch verfassungswidrig separatistische „Gesetzgebungsprojekte“ in oppositionellen Departementen (in Bereichen, die in die Kompetenz der Zentralregierung fallen); durch die Organisation von landesweiten Streiks (die regelmäßig scheitern) und durch die Diffamierung der Aufarbeitung der Geschehnisse rund um die extralegale Machtergreifung vom November 2019 als „Rachejustiz der MAS“. Und es war nicht der erste Propagandacoup. Im Frühsommer forderte eine Resolution des Europaparlaments die sofortige Freilassung von Frau Añez nach ihrer „ungerechtfertigten und willkürlichen“ Festnahme. Beide Projekte wurden von der rechtpopulistischen spanischen VOX initiiert.
Worum geht es?
Der Sacharow-Preis für geistige Freiheit (auch EU-Menschenrechtspreis genannt) wird seit 1988 vom Europäischen Parlament an Persönlichkeiten oder Organisationen verliehen, die sich in herausragender Weise für die Verteidigung der Menschenrechte und der Meinungsfreiheit einsetzen. Erster Preisträger war Nelson Mandela. Jeanine Añez ist freilich nie durch den Einsatz für Meinungsfreiheit und Menschenrechte hervorgetreten. Vielmehr sitzt sie selbst seit März dieses Jahres unter anderem wegen des Vorwurfs, Menschenrechtsverbrechen begünstigt zu haben, in Bolivien in Untersuchungshaft. Neben ihr unter anderem vier Generäle der Streitkräfte. In den Tagen vor und nach dem Sturz von Präsident Evo Morales am 10. November 2019 herrschten heftige Unruhen. Zwei Tage nach ihrer Machtergreifung jenseits der Verfassungsbestimmungen - das heißt unter Missachtung der in Artikel 169 vorgesehenen Abfolge, ohne reguläre Parlamentssitzung, unter Ausschluss der MAS-Mehrheitsfraktion und ohne Quorum - unterzeichnete sie am 14. November 2019 das Dekret 4078, das den Sicherheitskräften bei ihren Einsätzen Straffreiheit zusicherte. Bereits einen Tag später starben sechs Demonstranten im Kugelhagel von Polizei und Militär, als ihr Marsch bei Sacaba vor den Toren der Stadt Cochabamba gestoppt wurde. Weitere 115 erlitten Schussverletzungen. Nur vier Tage später folgte das Massaker von Senkata/ El Alto. Insgesamt starben mindestens 30 Menschen. Die postwendende Behauptung des damaligen Innenministers Arturo Murillo, der vielen als der eigentlich starke Mann der „Interimsregierung“ gilt, die Sicherheitskräfte hätten keinen einzigen Schuss abgegeben, die protestierenden Morales-Anhänger hätten sich vielmehr gegenseitig erschossen, ist in ihrem ganzen Zynismus längst widerlegt. Alle starben durch Kugeln der Sicherheitskräfte. Es folgte Ende 2019, Anfang 2020 eine beispiellose Welle der politischen Repression gegen Funktionäre und Anhänger der gestürzten MAS–Regierung.
Die Verfahren gegen Añez drehen sich um drei Kategorien von Tatbeständen: Die außerkonstitutionelle Machtergreifung, die Verantwortung für die Repression (insbesondere das Dekret 4078) und um Fälle der Korruption, mit denen sie direkt in Verbindung stehen soll. Noch handelt es sich um Untersuchungshaft. Für die Eröffnung eines sogenannten „juicio de responsabilidades“ (gegen ehemalige Mandatsträger) bedarf es der Zustimmung des bolivianischen Parlaments. Als „Präsidentin“ trägt Frau Añez nominell sicherlich eine Hauptverantwortung für die Vorkommnisse während ihrer Amtzeit. Andererseits wird sie vielfach als fotogenes Aushängeschild gesehen, während andere im Hintergrund die Fäden zogen, die nun versuchen, Jeanine Añez als Opfer der „Rachejusitz der MAS“ darzustellen. Aus deren Perspektive könnte sie tatsächlich das „Bauernopfer“ sein. Die Vorgänge aufzuklären ist sicherlich der wichtigste Aspekt der Verfahren und Jeanine Añez hat selbstverständlich das Recht auf ein faires Verfahren und ordentliche Haftbedingungen. Beides ist in Bolivien keine Selbstverständlichkeit. Insofern ist aufmerksame Beobachtung angebracht. Frau Añez soll unter Bluthochdruck und Depressionen leiden. Wie man hört, steht ihr rund um die Uhr ein Arzt zur Verfügung und stets darf ein Familienangehöriger bei ihr sein. Andere Häftlinge im Frauengefängnis von Miraflores/ La Paz protestierten gegen diese Sonderbehandlung.
Internationale Kampagne eines rechten Netzwerks
Während Añez in der politischen Auseinandersetzung als Opfer stilisiert wird, muss sich ihr Innenminister Arturo Murillo wegen Bestechung, Korruption und Geldwäsche im Zusammenhang mit dem Kauf von Tränengas (zum doppelten des marktüblichen Preises) verantworten. Nicht etwa vor der „Rachejustiz der MAS“, sondern vor einem US-Gericht. Seine Komplizen waren bereits geständig. Eine zentrale Rolle für die Internationalisierung der Opfer-Kampagne spielt die rechtspopulistische spanische VOX, die im Europaparlament der Fraktion ECR angehört (European Conservatives and Reformists; stärkste Kraft in der Fraktion ist die polnische PiS). VOX hat dort sowohl die Nominierung von Frau Añez für den Menschenrechtspreis als auch die erwähnte Resolution betrieben. Unter die drei Kandidaten der Endauswahl schaffte sie es dann im Rahmen eines Kuhhandels mit der Unterstützung der Sozialdemokraten, die sich durch die Nominierung einer im Grunde unwählbaren Kandidatin vielleicht größere Chancen für ihre eigenen Kandidatinnen, elf afghanische Menschenrechtlerinnen, ausrechneten. Ob sie sich der verheerenden Wirkung jenseits des Atlantiks bewusst waren? Die im Jahr 2014 mit Geld aus Unternehmergruppen und ultrakatholischem Hintergrund gegründete VOX wendet sich im Rahmen eines Kulturkampfes vehement gegen baskischen Separatismus sowie ganz allgemein gegen Sozialismus und Kommunismus. Auf internationaler Ebene widmet sich VOX insbesondere der Vernetzung mit der „Iberoesfera“, dem ehemaligen spanischen Kolonialraum. Zu den Unterzeichnern ihrer einschlägigen „Carta de Madrid“ gehört unter anderem Arturo Murillo. Intensive Kontakte bestehen daneben zum Uribe–Lager in Kolumbien, zu den Fujimoristas in Perú - und bestanden zumindest zur Trump-Familie und zu Steve Bannon. Eine zentrale Rolle als Netzwerker in Südamerika spielt Eduardo Bolsonaro, ein Sohn des amtierenden brasilianischen Präsidenten. Im Wissen um diesen Kontext dürften die Dreistigkeit des Anliegens und die Tatsache, dass man den größten Teil der Hintergründe verschweigt, nicht überraschen. Verheerend kann das ausgehen, wenn sich diese Initiativen in einem Umfeld der Ahnungslosigkeit und des Desinteresses entfalten können. Das Ansehen des Menschenrechtspreises und der europäischen Institutionen könnte Schaden nehmen.