Robert Lessmann
„Wir
können untergehen. Aber wir werden eine Welt mitnehmen“, sagte
Adolf Hitler im Dezember 1944. Am 8. Mai 1945 war es so weit. Die
Gewalt- und Schreckensherrschaft der Nazis war untergegangen: 65
Millionen Tote blieben auf den Schlachtfeldern, in den
Konzentrationslagern und den zerbombten Städten zurück. Die Welt
blieb bestehen - wenngleich die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki
die modernen Zerstörungspotenziale im August 1945 noch einmal
drastisch vor Augen führten. Eine neue Weltordnung entstand, mit den
Siegermächten – allen voran den USA – im Zentrum. Eine
Friedensordnung sollte es sein: Vereinte Nationen.
Als die UN Charta am 24. Oktober 1945 in Kraft trat, waren es 51 Gründungsmitglieder. „Die Ziele der Vereinten Nationen sind die Erhaltung des Weltfriedens und die internationale Sicherheit, die freundschaftliche Zusammenarbeit der Mitglieder sowie der Schutz der Menschenrechte,“ heißt es dort. Im Jahr 1948 folgte die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte – ein Meilenstein. Vor 50 Jahren, im März 1970, trat der Atomwaffensperrvertrag in Kraft. Über seine Einhaltung wacht unter anderem die in Wien ansässige Internationale Atomenergiebehörde (IAEA). Ebenfalls in der Wiener UNO-City hat die CTBTO ihren Sitz, die über die Einhaltung des nuklearen Teststoppabkommens von 1963 wacht. Beides vergeblich, könnte man sagen, denn weiterhin beschafften sich Staaten die Bombe. Aktuell stehen der Iran und Nordkorea im Verdacht. Und weiterhin gibt es Atomtests. Doch von insgesamt 2.056 fand im neuen Jahrtausend nurmehr eine Handvoll statt; allein 1962 waren es noch 140 gewesen. Seit 1945 hat es so viele Kriege gegeben wie nie zuvor, vor allem im globalen Süden. Friedenserhaltende Missionen (aktuell sind es 14) gehören zu den wichtigsten UNO-Engagements. Nicht immer sind sie glücklich verlaufen. Beim Massaker von Srebrenica (1995) haben Blauhelme nur zugesehen. Einen Atomkrieg oder einen 3. Weltkrieg gab es aber nicht.
Ist das Glas also halbleer oder halbvoll? Das könnte man im Hinblick auf die UN fast in allen Bereichen fragen. Mit wachsendem Problembewusstsein und der Einsicht in den globalen Charakter vieler Probleme, ist auch die Zahl der UN Unterorganisationen und ihrer Tätigkeitsfelder bis zur Unübersichtlichkeit angewachsen. 193 Mitgliedsstaaten sind es heute, die 7,5 Milliarden Menschen beherbergen. In der Generalversammlung gilt das Prinzip: ein Land, eine Stimme - ob Demokratie oder Diktatur. Und zwar für den pazifischen Inselstaat Nauru mit seinen 10.000 Einwohnern ebenso wie für Österreich mit 8,8 Millionen oder die VR China mit 1,39 Milliarden. Das ist nicht unproblematisch. Beschlüsse sind nicht bindend und viele bleiben symbolisch. So verurteilt die Generalversammlung seit Jahrzehnten ebenso regelmäßig wie folgenlos das US Embargo gegen Kuba mit jeweils nur einer Handvoll Gegenstimmen. In den Sonderorganisationen Weltbank und IWF ist das Stimmrecht an Einlagen gekoppelt wie in einer Aktiengesellschaft, was noch problematischer ist: Wer zahlt, bestimmt! Und im Sicherheitsrat haben die fünf ständigen Mitglieder ein Vetorecht, was regelmäßig zu Selbstblockaden führt. Fast alle Syrien-Resolutionen scheiterten am Veto Rußlands und Chinas. Weitgehend unbemerkt bleibt aber, dass die meisten Resolutionen dort im Konsens verabschiedet werden.
UNO unter Druck
Die USA (22 Prozent), China (12), Japan (8,5) und die Bundesrepublik Deutschland (6) finanzieren zusammen 49 Prozent des UN-Budgets. Immer mehr Staaten ziehen sich aus ihrer finanziellen Verantwortung zurück. Stiftungen und Unternehmen - und damit auch deren Interessen - gewinnen an Gewicht. Zweitwichtigster Geldgeber der WHO im Zeitraum 2018/19 war mit 367,2 Millionen USD nach den USA die Bill & Melinda Gates Foundation. Beim Flüchtlingshilfswerk UNHCR steht auf Platz neun der Geberliste ein spanisches Privatunternehmen. Ein noch unter Generalsekretär Kofi Annan (1997-2006) eingesetztes Panel zur stärkeren Beteiligung der Zivilgesellschaft stieß dagegen auf begrenztes Interesse der Mitgliedsstaaten. Faktisch finden NGOs heute aber viel mehr Gehör als früher. War es noch vor zwei Jahrzehnten schier unmöglich, einem Vertreter der bolivianischen Kokabauern drei Minuten Redezeit auf der alljährlich in Wien stattfindenden UN Commission on Narcotic Drugs zu verschaffen (ein Jahrzehnt später kam er als gewählter Präsident seines Landes wieder), so finden heutzutage auf der Commission Dutzende sogenannter Side Events zu spezifischen Themen statt, die von NGOs oder von NGOs zusammen mit Regierungen organisiert werden. Neben der UN-Bürokratie waren es vor allem einige europäische Staaten, die sich für die Mitsprache von NGOs offen zeigten. Daneben hat die Vernetzung und Zusammenarbeit verschiedener UNO Unterorganisationen zugenommen. In der Drogendebatte reden heute neben dem UNODC und der WHO etwa auch der Menschenrechtsrat oder UNAIDS mit. Zudem haben UN-Bürokraten, die oft seit vielen Jahren zu ihren Themen arbeiten, ein großes Maß an Expertise angesammelt, was ihnen mitunter einen deutlichen Kompetenzvorsprung vor den nationalen Entscheidungsträgern verschafft. Bei günstiger politischer Konjunktur werden sie zunehmend gehört – und UN Berichte sind auch in der wissenschaftlichen Fachwelt sehr geschätzt.
„Die UNO ist ein Instrument zur Verbreitung des Kommunismus“, sagte der Schweizer Rechtspopulist Christoph Blocher, als er den Beitritt der Eidgenossen Mitte der 80er Jahre ablehnte; erst im Jahr 2002 stimmte eine Mehrheit der SchweizerInnen für den Beitritt. Mit dem Ende des Kalten Krieges wurde die Welt multipolarer und Washington verlor zunehmend das Interesse an den Vereinten Nationen. Bereits unter Präsident Clinton traten die USA 1994 aus der Kultur- und Wissenschaftsorganisation UNESCO aus. Mit dem Helms-Biden-Abkommen senkte man 1997 die Beitragszahlungen, die seit vielen Jahren verzögert erfolgen. Bei einem regulären UNO-Gesamtbudget von 5.8 Milliarden USD (mit Sonderprogrammen sind es 47,8) hat Washington dort 3,5 Milliarden Beitragsschulden angesammelt. 2017 verließen die USA das Pariser Klimaschutzabkommen. Den Flüchtlingspakt (2018) haben sie nicht unterschrieben. Zuletzt trat Washington inmitten der Corona-Pandemie aus der WHO aus. Mit dem Vormarsch autokratisch regierter Staaten nahm auch die Zahl der Skeptiker und Verächter des Multilateralismus zu. Der philippinische Präsident Rodrigo Duterte missachtet offen und systematisch internationale Menschenrechtsstandards. Bürokratisierung und Intransparenz liefern ihnen Argumente.
In Corona-Zeiten ist die WHO für viele arme Länder die wichtigste Quelle für Informationen, Beratung und Hilfe. Gleichzeitig steht sie im Kreuzfeuer der Kritik: Sie habe zu spät gewarnt, sei China-lastig oder Bill Gates-hörig. Spätes Handeln und Vernachlässigung des Südens hatte man ihr auch bei der Ebola-Epidemie in Afrika 2014/15 vorgeworfen. Vorangegangen war damals eine Budgetkürzung um 25 Prozent. Die WHO-Notfallabteilung war drastisch verkleinert worden; in Afrika waren noch ganze drei Notfallberater übrig geblieben. Bei der Vogelgrippe 2009 wiederum, war der WHO vorgeworfen worden, sie habe im Interesse der Pharmakonzerne zu früh gewarnt. Österreich hatte zu viele Schutzmasken eingekauft, woraus sogar ein Korruptionsfall wurde. Aktuell zeigt sich: Die meisten Covid 19 - Opfer gibt es dort, wo die Politik die Warnungen zu lange ignoriert hat: USA, Großbritannien, Brasilien beklagen zusammen fast die Hälfte der Todesopfer.
„Wenn das UNO-Gebäude in New York zehn Stöcke verlöre, würde das nicht den geringsten Unterschied machen“, meinte John Bolton, 2005/2006 US-Botschafter dort und später Sicherheitsberater von Präsident Trump. Ein eben angelaufener Reformprozess soll für mehr Effizienz sorgen. Die UNO soll in Zukunft weniger Staatenorganisation und mehr Dienstleister an den Menschen sein. „Das Ziel der Reform sind Vereinte Nationen, die sich im 21. Jahrhundert mehr auf Menschen als auf Prozesse, mehr auf Handlungen als auf Bürokratie fokussieren.“, sagt Generalsekretär António Guterres. Den Klimaschutz hat er als Jahrhundertthema erkannt. Mehrfach bot er der Fridays-for-Future Bewegung eine prominente Bühne.
War es anfangs der Frieden, so wurden Entwicklung und Zusammenarbeit zunehmend wichtiger. Die stärkere Vernetzung der einzelnen Unterorganisationen hat auch mit der Definition übergeordneter Ziele zu tun, die alle anstreben: Die acht Millenniums-Entwicklungsziele (2000-2015), die Armutsbekämpfung in Entwicklungsländern in den Fokus rückten, und die 17 Nachhaltigen Entwicklungsziele (SDG oder Agenda 2030) seit 2015.
„Die UNO wurde nicht gegründet, um uns den Himmel zu bringen, sondern um uns vor der Hölle zu bewahren,“ meinte einst Winston Churchill.
Bei allen Defiziten: Gäbe es sie nicht, müsste man die Vereinten Nationen erfinden.
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