Robert Lessmann
Das
hatten die Demoskopen nicht erwartet. Mit 55,1 Prozent der Stimmen
setzte sich das Kandidatenduo des Movimiento al Socialismo (MAS),
Luis Arce und David Choquehuanca, bei den Wahlen vom 18. Oktober 2020
bereits im ersten Wahlgang mit absoluter Mehrheit durch. Sie selbst
waren davon ähnlich überrascht wie seinerzeit beim Erdrutschsieg
vom Dezember 2005 (54%), mit dem Evo Morales erstmals zum Präsident
gewählt wurde. Bei einer Wahlbeteiligung von 88,4 Prozent inmitten
der Corona-Pandemie war dies ein überzeugendes Votum für die
Demokratie und die Fortführung des von der MAS getragenen Prozesses
des Wandels (proceso
de cambio).
Der Zweitplatzierte, der liberalkonservative Carlos D. Mesa, errang
mit seiner Comunidad
Ciudadana
28,8
Prozent, gefolgt vom radikalkatholischen Rechtsaußen Fernando
Camacho (Creemos)
mit 14 Prozent.
Damit endet auch das dubiose Interregnum von Jeanine Añez, die am 12. November 2019 entgegen der verfassungsmäßigen Reihenfolge in den alten Präsidentenpalast Palacio Quemado eingezogen war, nachdem Präsident Evo Morales zwei Tage vorher unter dem Eindruck massiver Proteste gegen angeblichen Wahlbetrug und unter dem Druck von Polizei und Militär zunächst über Mexiko nach Argentinien ins Exil gegangen war. Añez hatte bei der umstrittenen Wahl vom 20. Oktober 2019 gerade einmal 4 Prozent der Stimmen bekommen, Morales 47,8, Mesa 36,8 und der Evangelikale Chi Hyun Chung 9 Prozent.
Beinharter Machtkampf
Viele sprachen von einem Putsch. Von Anfang an hatten sich die alten Eliten schwer getan mit der Machtübernahme durch die indigene und populäre Bevölkerungsmehrheit. Das zeigte sich im Widerstand gegen die Verfassunggebende Versammlung (Juli 2006 – Jänner 2009), die schließlich aus Sicherheitsgründen in eine Militärkaserne vor den Toren der Hauptstadt Sucre umziehen musste, ebenso wie im permanenten Widerstand der Tieflanddepartements mit Separationsgelüsten und verfassungswidrigen Autonomieabstimmungen, der im Zivilputsch vom September 2008 seinen Höhepunkt fand. Nun nutzte man eklatante Fehler und Schwächen der MAS zur Machtergreifung. Morales hatte das Votum einer Volksabstimmung vom Februar 2016 missachtet und war entgegen Art. 168 der Verfassung erneut angetreten. Schon vor der Wahl vom Oktober 2019 hatte es Warnungen vor einem bevorstehenden Wahlbetrug beziehungsweise einem Putsch gegeben, war es zu gewalttätigen Übergriffen gegen Wahlbüros und Kundgebungen der MAS gekommen. Als am Wahlabend die Schnellauszählung (nicht die amtliche!) bei einem für Mesa unerwartet günstigen Zwischenstand angehalten wurde und die regierungsnahe Presse am nächsten Tag den Sieg für die MAS verkündete (ein amtliches Endergebnis lag erst Tage später vor), sah sich die Opposition bestätigt. Eine Protestwelle nahm ihren Lauf, die Büros der Wahlbehörde gingen in sechs der neun Departements in Flammen auf und die ganze Auszählung endete im Chaos. Die Wahlbeobachter der OAS monierten vorzeitig schwere Unregelmäßigkeiten und heizten so die Stimmung weiter an. Unabhängige Untersuchungen zweifelten später das Urteil der OAS überhaupt an. Die Regierung reagierte wenig souverän, Morales wenig staatsmännisch. Schließlich meuterte die aus dem Lager Camachos bestochene Polizei und Morales verlor die Unterstützung des Militärs. Eine Verkettung von Zufällen oder sorgfältige Choreografie?
Der Machtergreifung folgte eine beispiellose Kampagne der Repression und Einschüchterung. In Sacaba und Senkata wurden Proteste von Polizei und Armee zusammengeschossen: 26 Tote und hunderte Verletzte blieben zurück. Innen- und Verteidigungsminister der „Interimsregierung“ behaupteten, die Sicherheitskräfte hätten „nicht einen Schuss abgegeben“, die Protestierenden hätten sich gewissermaßen gegenseitig erschossen. Polizei und Militärs genossen durch ein am 14. November eigens erlassenes Dekret No. 4078 Straffreiheit. Die Massaker von Sacaba und Senkata werden erst jetzt unabhängig untersucht. MAS-Angehörige und Sympathisanten wurden systematisch verfolgt und eingeschüchtert, die Justiz als politisches Kampfinstrument missbraucht. Gegen MAS-Funktionäre wurden hunderte Verfahren angestrengt. Den angesehenen früheren Wirtschafts- und Finanzminister und heutigen Präsidenten Luis Arce hatte man zur dringend notwendigen Nachbehandlung seiner Krebserkrankung erst nicht ausreisen lassen wollen. Als er dann als designierter Präsidentschaftskandidat zurückkam, wurde er noch vor der Pass- und Zollkontrolle mit einer Gerichtsvorladung konfrontiert.
Auch der Geschäftsführer des Vorzeigeunternehmens „Mi Teleférico“, das mit der österreichischen Firma Doppelmeier zusammenarbeitet, klagte, er wisse nun was politische Verfolgung sei und verließ das Land. Seinen Posten übernahm ein Widersacher aus der Stadtverwaltung von La Paz. Neben politischen steckten oft handfeste materielle Motive dahinter. Der öffentliche Sektor wurde filetiert, der Chef der staatlichen Fluggesellschaft BOA vom Geschäftsführer der privaten Konkurrenzlinie AMAZONAS abgelöst. Die Korruption, die schon immer eine Rolle gespielt hatte, erlebte wahre Höhenflüge. Der neue Geschäftsführer der Telefongesellschaft ENTEL, ein Freund Camachos, setzte sich nach nur 82 Tagen unter Veruntreuungsvorwürfen ins Ausland ab – und wurde bei der Einreise in die USA wegen illegaler Einfuhr großer Mengen von Bargeld festgenommen. Dann kam Corona. In den vergangenen anderthalb Jahrzehnten war viel im Bereich der Basisgesundheit geleistet worden, wie es sich für ein armes Land gehört. Doch auf eine solche Pandemie war man unvorbereitet. 700 kubanische Ärzte waren nach der Machtergreifung mit Schimpf und Schande des Landes verwiesen worden. Dass nun im großen Stil Beatmungsgeräte eingekauft wurden, die nicht nur völlig überteuert waren, sondern auch nicht funktionstüchtig, empörte auch viele, die von Morales enttäuscht waren und der „Interimsregierung“ bislang noch die Stange gehalten hatten. Die internationale Diplomatie hat sich – bis auf wenige Ausnahmen – mit ihrer Indifferenz gegenüber diesen Vorgängen nicht mit Ruhm bekleckert.
„Frau Añez' neue Kleider“
Dass Frau Añez im Januar bekannt gab, selbst für die Präsidentschaft kandidieren zu wollen, zerstörte das Image einer „Interimsregierung“, die behauptete, nur Sicherheit und Demokratie wiederherstellen wollen, und spaltete die politische Rechte. Deren desolater Zustand hatte sich vorher schon gezeigt, als der Rechtsaußen Camacho und sein Sozius Marco Antonio Pumari von den „Zivilkomitees“ von Santa Cruz bzw. Potosí sich unter heftigen gegenseitigen Korruptionsvorwürfen öffentlich zerstritten und dann wieder versöhnten. Eine wiederholte Verschiebung des Wahltermins war nun auch mit dem Hinweis auf Corona unglaubwürdig geworden. Die sozialen Bewegungen mit dem Gewerkschaftsbund COB an der Spitze organisierten im August landesweite Straßenblockaden und wurden aus dem Exil in Buenos Aires noch einmal zurückgepfiffen, sonst wäre Añez möglicherweise bereits da gestürzt oder bürgerkriegsähnliche Situationen entstanden. Das Machtergreifungsprojekt der „Rechten“ war da eigentlich schon gescheitert. Jedenfalls machten die Augustaktionen der sozialen Bewegungen den Weg zu den Wahlen vom 20. Oktober frei.
Das Votum von 55,1 Prozent ist angesichts des Klimas von Repression und Einschüchterung umso höher zu bewerten. Und es stützt die Putschthese: Auch beim Stopp der Schnellauszählung mit 45 Prozent Stimmanteilen der MAS am Wahlabend 2019 wäre durchaus noch eine absolute Mehrheit denkbar gewesen, weil Stimmen aus den ländlichen und weit entfernten MAS-Hochburgen erfahrungsgemäß später eintreffen. Aus heutiger Sicht ist der Wahlsieg der MAS vor allem ein Votum für Stabilität und Sicherheit. Der MAS ist es gelungen, ihre Kernwählerschaft aus populären Sektoren und indigener Bevölkerungsmehrheit zu mobilisieren. Darüber hinaus: Knapp die Hälfte der Wahlberechtigten ist 35 oder jünger. In ihrer politisch bewussten Lebenszeit haben sie nichts anderes gekannt als eine Regierung „Evo“. Deren Fehler und Versäumnisse wogen insofern doppelt schwer. An das Chaos der vorherigen „Politiquería“ werden sie sich kaum erinnern. Mit der „Interimsregierung“ bekamen sie nun ein Jahr lang eine geballte Kostprobe davon: Korruption, Repression, Selbstprivilegierung, eine Wirtschaft auf Pump und in freiem Fall – plus Coronakrise mit 8.889 Toten (Stand: 20.11.).
Große Herausforderungen
Gleichwohl sind die Herausforderungen groß: Eine überfällige Umstrukturierung der exportorientierten Wirtschaft ist heute viel schwieriger. Die Devisenreserven schmelzen schon seit 2015. Zudem hat die „Interimsregierung“ in großem Stil Kredite aufgenommen, die zurückgezahlt werden müssen. Die Pandemie dauert an. Die Gesellschaft ist entlang sozialer, aber auch rassistischer Trennlinien gespalten. Mehr als einmal hatte Añez versprochen, eine Rückkehr „der Wilden“ an die Regierung zu verhindern. Es war 2019 weniger eine Konterrevolution der Großgrundbesitzer und der Bourgeoisie (die es ohnehin kaum gibt). Es war vielmehr die Revolte eines Kleinbürgertums, das um seine Privilegien fürchtete. Auch an der Basis der Gemeinden und in den sozialen Bewegungen wurden Bürgermeister und dirigentes vertrieben. Im März stehen Gemeindewahlen an. Und man sagt, Arce hätte 142 Ministerposten gebraucht, um alle Begehrlichkeiten aus den sozialen Bewegungen zu befriedigen.
In diesem Zusammenhang gilt es auch, eine Spaltung der MAS zu verhindern. Der charismatische Morales konnte die 36 verschiedenen Völker und die Vielzahl von sozialen Bewegungen unter einen Hut bringen. Gleichzeitig ist er aber für viele zur Reizfigur geworden. Nicht nur aus der Mittelschicht. Auch die sozialen Bewegungen haben sich mehrheitlich gegen eine Präsenz der alten Minister in der neuen Regierung ausgesprochen. Andererseits wurde das Kandidatenduo Luis Arce und David Choquehuanca (Vize) von Wahlkampfleiter Morales im Exil in Buenos Aires bestimmt. Die Basis hätte Choquehuanca als Präsident bevorzugt. Und auch wenn das Wahlergebnis zeigt, dass dies wohl ein kluger Schachzug war. Ob das Gespann aus dem „Technokraten“ Arce und dem „Indígena“ Choquehuanca Partei und Gesellschaft zusammenhalten kann, muss die Zukunft zeigen. Auf die Expertise von anderthalb Jahrzehnten Regierungserfahrung zu verzichten, wäre unklug. Nur die MAS hat das zu bieten. Diese in den Dienst der neuen Regierung und der Parteiorganisation zu stellen, ohne sich in den Vordergrund zu spielen, ist aber eine Herausforderung für die alte Garde.
Insgesamt gilt es, Fehler und Irrtümer der Vergangenheit zu korrigieren. Die MAS und ihr proceso de cambio hatten Kratzer bekommen und waren verblasst. Wahlsiege mit mehr als 60 Prozent der Stimmen (2009 und 2014) liegen lange zurück. Ein kontinuierlicher Niedergang in Ansehen und Wählergunst lässt sich nicht leugnen. Im Parlament hat die MAS die Zweidrittelmehrheit verloren, aber die einfache Mehrheit in beiden Kammern behalten. Aktuell läuft nun die Opposition Sturm dagegen, dass die MAS auf der letzten Parlamentssitzung der alten Legislaturperiode noch beschlossen hat, dass für die Nominierung von Botschaftern und hohen Sicherheitsposten künftig die einfache Mehrheit ausreicht. Das mag uncharmant sein, aber legal. Dass die „Interimsregierung“ seinerzeit die ordnungsgemäß von Regierung und Senat bestimmten Botschafter ohne jeden Parlamentsbeschluss aus dem Amt gejagt hat und noch kurz vor dem Amtswechsel einen Botschafter von Juan Guaidó in Bolivien akkredidierte, ist ihr in ihrer Larmoyanz scheinbar nicht mehr erinnerlich. Trotzdem: Das Wahlergebnis in eine Hegemonie in Gesellschaft und Staat umzusetzen ohne in Triumphalismus und Rache zu verfallen, wird nach allem was geschehen ist eine große Herausforderung sein.