Blog Post

Argentinienkrise: Im Netz des Weltmarkts

  • von Robert Lessmann Dr
  • 07 Feb., 2019

Horrorinflation, Arbeitslosigkeit und zunehmende Armut -  Dauerkrise in einem vormals reichen Land

Buenos Aires. Martín, ein Cartonero, der bereits im Morgengrauen unterwegs ist, sammelt auf seinem Karren Papier und Kartons. Mancherorts sind die Cartoneros in Kooperativen organisiert und von der Verwaltung mit dem Recycling beauftragt. „Nein“, sagt er, Hoffnungen habe er keine, dass es nach den Wahlen besser wird. Aber schlechter könne es ja auch nicht mehr werden. Argentinien erlebte im vergangenen Jahr eine Inflation von 50 Prozent. Die Arbeitslosigkeit kletterte auf 10 Prozent. Ein Drittel der Menschen gilt als arm. Das Land steckt in einer strukturellen Dauerkrise und die Prognosen für das Wahljahr 2019 verheißen nichts Gutes. Bestenfalls könne es gelingen, bis zum Wahltermin im Oktober die Talfahrt zu stoppen.


„Wir rechnen in Dollars“, sagt Antonia, die eine kleine Reiseagentur betreibt. „Alles andere wäre verrückt bei dieser Inflation.“ Ein Dauerthema im Heimatland des Revolutionärs Ernesto „Che“ Guevara, der 1928 in der Industriestadt Rosario geboren wurde. Als der aufwuchs, zählte Argentinien zu den reichsten Ländern der Welt. Seine landwirtschaftlichen Exporte waren besonders in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gefragt. Eine Diversifizierung der Wirtschaft blieb aus. Die Militärdiktatur (1976-83) häufte einen Schuldenberg auf. Als in den 1980er Jahren die „Verschuldungskrise der Dritten Welt“ das internationale Bankensystem an den Rand des Zusammenbruchs brachte, gehörte Argentinien zusammen mit Brasilien zu den meistverschuldeten Ländern. Die Auslandsguthaben reicher Argentinier waren schon damals höher als die Rekordverschuldung des Landes. Daran hat sich im Wesentlichen nichts geändert. Ein Strukturwandel unterblieb und so taumelt Argentinien von einer Krise in die nächste. Das neue Jahrtausend begann bereits mit dem Zusammenbruch des Finanzsystems. Unter Nestor Kirchner folgten ab 2003 auf der Grundlage hoher Rohstoffpreise stabile Jahre mit Lohnerhöhungen, Sozialprogrammen und Politiken der Importsubstitution. Doch ab 2011 wurden bei sinkenden Exporteinnahmen die Budget- und Handelsbilanzdefizite wieder chronisch und 2014 schrammte Argentinien abermals knapp an der Staatspleite vorbei.


Mentale Depression und Demoralisierung

Obwohl Argentinien über eine traditionsreiche Arbeiterbewegung und relativ starke Gewerkschaften verfügt, sind politische Proteste und Streiks eher rar. Vielmehr scheint sich die Krise in einer mentalen Depression und Demoralisierung niederzuschlagen. Weltweit Schlagzeilen machte das Endspiel des südamerikanischen „Copa de Libertadores“, das als „Superclásico“ zwischen den Stadtrivalen Boca Juniors und River Plate ausgetragen wurde. Weil die Polizei unfähig war, Fanattacken auf den Mannschaftsbus der Boca Juniors zu verhindern, musste es verschoben und der Austragungsort nach Madrid verlegt werden. Auch am Tag nach den Ausschreitungen hatte man sich in Buenos Aires nicht so recht auf die Straßen getraut, so aufgeheizt war die Atmosphäre. 3:1 endete schließlich das „Superclásico“ im Bernabéu-Stadion. Ein hochklassiges und spannendes Spiel. Doch das friedliche Fußballfest in Madrid mündete erneut in Straßenschlachten am berühmten Obelisken auf der Avenida 9 de Julio in Buenos Aires: „Ein schäbiger Ausgang für ein großes Spiel“, schrieben Kommentatoren.

Fußballkrawalle als Ventil für Frust und Aggressionen. Das gibt es nicht nur in Südamerika. „Unsere Gesellschaft weiß sich bei solchen Ereignissen nicht gut zu verhalten“, sagte der Kapitän der siegreichen Mannschaft, Leonardo Ponzio, nach den erneuten Krawallen. „Wir sind noch nicht einmal in der Lage, ein Fußballspiel zu organisieren“, lauteten bittere Kommentare. Der Glanz sei verblichen im Land des zweifachen Weltmeisters, der Heimat von Maradona und Messi, die Durchdringung von Fußball und Politik mit Korruption symptomatisch. Staatspräsident Mauricio Macri, war früher Präsident der Boca Juniors (1995-2007) und nutzte dies als politisches Sprungbrett. Ab 2007 war er Bürgermeister von Buenos Aires. Verschiedene „hinchas“ (Fangruppen) verkaufen illegal Tickets und Drogen vor den Stadien, lassen sich als Claqueure und Schläger für politische Parteien einspannen.


Konservativ verkalkuliert

Seit Dezember 2015 ist der Unternehmer Mauricio Macri von der konservativen „Propuesta Republicana“ Staatspräsident. Unter ihm fielen Devisenkontrollen und andere Regulierungen mit denen Steuerhinterziehung und Kapitalflucht verhindert werden sollten. Seine „boys“ sprachen dieselbe Sprache, trugen die gleichen Anzüge und hatten dieselben Universitäten besucht wie die Manager der Finanzzentren in Washington und London. Der Internationale Währungsfonds gewährte neue Kredite und die Konjunktur sollte Fahrt aufnehmen, argentinisches Auslandskapital zurückgelockt und im Land investiert werden. Doch die Erwartungen auf einen Investitionsboom erfüllten sich nicht. Vielmehr machten Zinserhöhungen in den USA Auslandsanlagen noch attraktiver und sinkende Rohstoffpreise plagen Argentinien wie andere Schwellenländer. Wieder setzte eine Abwärtsspirale ein, die sich im Wahljahr 2019 fortsetzen dürfte. Nachdem man auch von den Peronisten enttäuscht wurde, könnte die extreme Rechte zulegen. Doch glücklicherweise ist sie bisher schwach und es gibt keine Anzeichen für ein „Bolsonaro-Phänomen“, wie in Brasilien. Noch nicht. Als „mugre“ - Dreck – bezeichnete ein Taxifahrer mit stark italienischem Akzent bolivianische Billigarbeiter: „Ich hasse sie!“ Die Suche nach Sündenböcken hat auch im Einwandererland Argentinien Hochkonjunktur.




Share by: