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Bolivien: Rückkehr der Politiquería*

  • von Robert Lessmann Dr. @
  • 18 März, 2020

Nach der Machtergreifung durch die politische Rechte in Bolivien bleibt die Lage unübersichtlich. Klar ist nur: Man versucht Fakten zu schaffen hinsichtlich einer Rückkehr zum alten, neoliberalen Modell und einer Ausschaltung der MAS mittels der Justiz, die als Waffe im politischen Kampf eingesetzt wird.





El Alto, 5.3.2020: Wieder zogen Tränengasschwaden durch die Straßen. Am 6. März 1985 war El Alto, der 4.150 m hoch gelegene Armutsgürtel der Stadt La Paz, zur eigenständigen Stadt geworden. Mit 850.000 Einwohnern ist sie heute die zweitgrößte und dynamischste. Aus Anlass dieses Jubiläums war die selbsternannte „Interimspräsidentin“ Jeanine Añez heraufgekommen, um in den Ruinen der ausgebrannten Alcaldía ein Investitionspaket von 100 Millionen Dollar in Aussicht zu stellen, das größte, das es jemals für El Alto gegeben habe. Unter „asesina, asesina“-Rufen musste sie das Weite suchen. Ihr Konvoi wurde mit Müll beworfen und kam gerade noch davon.


Doch auch eine Gedenkfeier der Angehörigen der Opfer des Massakers von Senkata vom 19. November vergangenen Jahres, die in der Kirche San Francisco begonnen hatte, ging in Tränengas und Tumulten unter. Und eine Sondersitzung des Parlaments, die von Senatspräsidentin Eva Copa (MAS -Movimiento al Socialismo) in El Alto einberufen worden war, musste abgebrochen und nach La Paz hinunter verlegt werden. Die Unruhen dauerten bis in die Nacht an. Ist die Zeit der Einschüchterung der MAS-Anhänger und der sozialen Bewegungen durch die staatliche Repression vorbei?


Was in El Alto vor allem deutlich geworden ist: Die „Interimsregierung“, die angetreten war um das Land zu befrieden, die Bevölkerungsgruppen auszusöhnen und freie Wahlen zu organisieren, ist damit in Bausch und Bogen gescheitert, sollte es ihr denn damit jemals Ernst gewesen sein. Das Land ist tief gespalten.


Rechte Rivalitäten

Eine 120-Tage-Frist bis zu den Wahlen wird nicht eingehalten. Sie sind nun für den 3. Mai angesetzt. Doch der Zeitgewinn erweist sich für das rechte Lager politisch eher als Bürde, denn es ist zunehmend gespalten. Seit „Interimspräsidentin“ Jeanine Añez selbst kandidiert, wirft ihr der gemäßigt konservative Carlos D. Mesa vor, damit der Interpretation Nahrung zu geben, dass es sich tatsächlich um einen Putsch gehandelt habe. Ein Betrug (der Wahlbetrug) würde nun durch einen weiteren abgelöst, der darin bestehe, dass Añez einen Präsidentinnenbonus und den Regierungsapparat für ihren Wahlkampf nutze. Bei den annulierten Wahlen vom 20. Oktober 2019 hatte die Añez-Partei (UD) 4 Prozent der Stimmen bekommen, Mesa gut 36. Eine in der Washington Post veröffentlichte Studie zweier Wissenschaftler des Massachusetts Institute of Technology stellt inzwischen das Gutachten der OAS in Frage: Ein Wahlbetrug lasse sich statistisch nicht nachweisen.


Zwischen Mesa (seine Comunidad Ciudadana liegt in Umfragen bei 17,1%) und Añez (Juntos, 16,5%) gibt es augenblicklich die schärfsten Auseinandersetzungen, zumal wichtige Alliierte, wie der Bürgermeister von La Paz, Luis Revilla, im letzten Moment vor der Einschreibung von Mesa zu Añez wechselten. Ob sich diese Gräben im Falle einer Stichwahl schließen lassen, ist zweifelhaft. Das Lager des ultrareligiösen Rechtsaußen Luis Fernando Camacho (9,6%) könnte sich Añez anschließen, tauschte aber gerade heftige Korruptionsvorwürfe mit Samuel Doria Medina, deren Vizepräsidentschaftskandidat, aus. Camachos Allianz mit dem Comité-Civico-Anführer Marco Antonio Pumari aus Potosí war zunächst ebenfalls unter wüsten Korruptionsvorwürfen geplatzt, bevor man sich doch wieder einigte. Auch die ADN des verstorbenen Exdiktators Hugo Banzer erlebte eine Wiedergeburt (0,5%), wobei der Vizepräsidentschaftskandidat von seiner Kandidatur gar nichts wusste, wie er am Tag nach der Einschreibung erklärte.


Insgesamt treten im rechten Lager sieben mehr oder weniger amorphe Ad hoc-Allianzen an. Bolivien kehrt damit in die düstersten Zeiten der politiquería zurück, die vor dem Erdrutschsieg von Morales im Dezember 2005 zur völligen Delegitimierung des Parteiensystems geführt hatte.


Spitzenreiter in den Umfragen ist die MAS (31,6%). Auch wenn deren Potenzial höher liegen dürfte: Eine absolute Mehrheit scheint in weiter Ferne, ihre Mobilisierungsfähigkeit und Einheit unklar. Spitzenkandidaten sind der allseits geschätzte ehemalige Superminister für Wirtschaft und Finanzen, Luis Arce, und der ehemalige Außenminister indigener Herkunft, David Choquehuanca. Das Spitzenduo wurde von Wahlkampfmanager Evo Morales vom Exil in Buenos Aires aus nominiert. Und auch wenn diese Wahl eine sehr kluge zu sein scheint: Die Basis im Land musste erst im Nachhinein davon überzeugt werden. Auch im MAS-Lager zeichnen sich Risse ab.


Justiz als Waffe

Bei seiner Rückkehr nach Bolivien wurde Spitzenkandidat Arce mit einer Gerichtsvorladung konfrontiert, noch bevor er die Einreiseformalitäten erledigt hatte. Der ehemalige Innenminister Carlos Romero (Bild) sitzt wegen eines Korruptionsfalles in seinem Ministerium in Präventivhaft, den er selbst angezeigt hatte. Er war in seinem Haus von zivilen Blockierern, die sich „La Resistencia“ nennen, ausgehungert und schließlich dehydriert und mit Herzproblemen gegen deren Widerstand ins Krankenhaus gebracht worden – und von dort ins Gefängnis. Es gibt Hunderte solcher Verfahren gegen Funktionäre und Anhänger der MAS. Man hat sich ein Beispiel an Brasilien genommen und die Justiz als politische Waffe entdeckt. UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet äußerte sich besorgt über das Ausmaß der politischen Verfolgung in Bolivien.


Evo Morales ist per Gesetz von einer Kandidatur ausgeschlossen und darf auch nicht für ein Senatsmandat kandidieren. Ihm werden neben Wahlbetrug auch Anstiftung zum Aufruhr und Terrorismus vorgeworfen. „Innenminister“ Arturo Murillo trat auf einer Pressekonferenz mit Handschellen winkend auf: Morales habe bei einer Rückkehr nichts zu befürchten, außer der Einweisung ins Spezialgefängnis Chonchocoro. Wie unter diesen Bedingungen freie und faire Wahlen stattfinden sollen ist rätselhaft – und die Bewilligung von 29 Millionen Euro Hilfe durch die Europäische Union zu diesem Zeitpunkt ein Skandal.


Wirtschaftlich steuert Bolivien nach Jahren der Prosperität – deren Ende sich schon abgezeichnet hatte – auf den freien Fall zu. Die „Interimsregierung“ versucht, mit Privatisierungen Fakten zu schaffen. So wurde der Geschäftsführer der staatlichen Fluglinie BOA durch jenen der privaten Line AMAZONAS ersetzt. Ein dreisterer Fall einer feindlichen Übernahme ist kaum denkbar. Das Personal der BOA klagt darüber, dass keine Gehälter ausbezahlt würden. Der neue Geschäftsführer der Telefongesellschaft ENTEL, Elio Montes, ein Freund Camachos, setzte sich nach nur 82 Tagen Amtszeit unter Veruntreuungsvorwürfen in die USA ab, wo er an der Grenze wegen versuchter Einfuhr großer Mengen nicht deklarierten Bargeldes festgenommen wurde. Schon wurden Änderungen bei den Investitionsgesetzen im wichtigen Erdöl- und Erdgasbereich angekündigt und der Gewerkschaftsbund COB erklärte sich in 'Alarmbereitschaft', weil er weitere Privatisierungen befürchtet.


Die „Interimsregierung“ soll in nur zwei Monaten zwei Milliarden Dollar Schulden aufgenommen haben. Das Budgetdefizit 2019 liegt bei 7,2%. Die Devisenreserven sind 2019 um 27,7% geschmolzen und betragen heute weniger als die Hälfte des Höchststandes von 2014. Und während die politische Klasse nicht müde wird, ihr geliebtes Bolivien zu beschwören, scheint Luis Arce der einzige zu sein, den das bekümmert.



PS 15.3. Auch in Bolivien ist die politische Berichterstattung praktisch komplett verschwunden und es herrscht COVID-19. (In Santa Cruz verhinderten Nachbarn und Medizinpersonal die Einlieferung eines verdächtigen Falles ins Hospital. Im benachbarten Warnes gab es Straßenblockaden, nachdem bekannt wurde, dass eine Militärakademie vorsorglich als Krankenstation adaptiert werden sollte. In La Paz hat ein Apotheker einen Kunden verprügelt, der eine Atemschutzmaske kaufen wollte.) Gut möglich, dass eine De-facto-Regierung, deren Stern sinkt, die Gelegenheit beim Schopf packt und die Wahlen aussetzt, um de facto weiter zu regieren.


PPS: 18.3. Pfiffiger Wahlkampfschachzug der MAS: Spitzenkandidat Luis Arce kündigte an, Kuba sei bereit, bei der Bewältigung der Corona-Krise zu helfen und medizinisches Personal zu schicken. Die "Interimsregierung" hatte im November mehr als 700 kubanische Ärzte und Helfer mit Schimpf und Schande des Landes verwiesen und die diplomatischen Beziehungen abgebrochen.

PPPS: 30.3. Inzwischen soll es 96 COVID-19 Infektionen geben. Die Wahlen abgesagt.



* Unter Politiquería versteht man in Bolivien das Tricksen und Mauscheln zum eigenen Vorteil – und jene, die das tun.

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