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Bolivien: 37 Jahre Demokratie sind zu Ende

  • von Robert Lessmann Dr. ©
  • 30 Nov., 2019

Die längste Periode der Demokratie in der Geschichte des Andenlandes ist zu Ende. Präsident Evo Morales stürzte durch einen Putsch der Paradoxien. Während in den Nachbarländern die Menschen gegen die sozialen Kosten des Neoliberalismus rebellieren, ist die Wirtschaftslage in Bolivien (noch) gut und die Sozialpolitik war in vielerlei Hinsicht beispielhaft. Die Opposition war schwach und zersplittert. Wie konnte es trotzdem zum politischen Supergau für Morales kommen?

Ist es nicht paradox? Nach den Wahlen vom 20. Oktober sitzt die Führungsspitze des klaren Wahlsiegers MAS (Movimiento al Socialismo – wohl rund 47 Prozent der Stimmen) im Exil. Sie fiel einem schleichenden Putsch zum Opfer, zu dem sie selbst die Steilvorlage geliefert hat. Die Gegenkandidaten, Carlos D. Mesa von der bürgerlichen Comunidad Ciudadana (CC, 36-37 Prozent), der Evangelikale Chi Hyun Chung – rund 9 Prozent) und Oscar Ortíz von F21 (4 Prozent) sind in den Hintergrund getreten. Eine selbsternannte „Interimsregierung“ hat versprochen, Neuwahlen zu organisieren.


Eigentlich könnte Bolivien sich ja glücklich schätzen, denn es verfügt über eine politische Klasse von Hellsehern! So warnte die Opposition schon vor der Wahl vor Wahlbetrug und das Regierungslager vor einem bevorstehenden Putsch. Bereits während des Wahlkampfs gab es gewalttätige Übergriffe auf Kundgebungen und Büros der Regierungspartei MAS. Die Gesellschaft ist tief gespalten. Die erhoffte Annäherung der Lager ist in 13 Jahren MAS-Regierung nicht geglückt. Das seinerzeit beschworene „katastrophale Patt“ zwischen Stadt und Land, Indígenas und Mestizos/ Blancos scheint zurück zu sein. Die Atmosphäre ist rassistisch aufgeladen. Bei meinem Besuch in La Paz im August war ich erstaunt und perplex über das Ausmaß der Evo-Überdrüssigkeit und teilweise sehr aggressive Diskurse, wie sie auch von intelligenten Menschen gepflegt wurden. Von 'narco-gobierno' war da die Rede, von Mafia, Diktatur und Tyrannei, was durch nichts belegt oder gerechtfertigt war. Selbst Probleme bei der Wasserversorgung und der Müllabfuhr wurden der Regierung angelastet, obwohl sie in den Bereich der Stadtverwaltung fallen.


Doch im Wahlkampf war nahezu alleiniges inhaltliches Thema F21: Ein Urteil des von der Regierung nominierten Obersten Gerichts hatte das Votum eines Referendums vom 21. Februar 2016 ausgehebelt, mit dem die Regierung den Artikel 168 der Verfassung außer Kraft setzen wollte, der nur eine Wiederwahl in Folge erlaubt. Viele Bolivianerinnen und Bolivianer sahen das als autoritär und antidemokratisch an, die erneute Kandidatur von Morales mithin als unrechtmäßig. Statt das Ergebnis des Referendums zu respektieren und als Warnzeichen zu registrieren – schließlich hatte man damals schon gegenüber den vorausgegangenen Wahlen von 2014 zehn Prozentpunkte verloren – fuhr Morales unbeirrt in der Manier eines Sapa-Inka fort und ließ dreieinhalb Jahre ungenützt verstreichen, in denen man einen Nachfolger hätte aufbauen können. Evo forever!


Umso größer war der Schock, als am Wahlabend das Zwischenergebnis einen Stimmenverlust von 16 Prozentpunkten anzeigte. Die erfolgsverwöhnte MAS lag da bei 45 Prozent und Gegenkandidat Carlos D. Mesa (CC) bei 38; Prognosen hatten ihn bei nur 22 Prozent gesehen. Demnach hatte die MAS weder eine absolute Mehrheit erreicht, noch zehn Prozent Vorsprung zum Zweiten. Laut Wahlgesetz wäre also eine Stichwahl notwendig geworden, bei der die drei Oppositionsparteien rein rechnerisch eine knappe Mehrheit davongetragen hätten, was keinesfalls ganz sicher war. Im für sie ungünstigsten Fall wäre die MAS nach 13 wirtschaftlich und sozial sehr erfolgreichen Jahren mit einer intakten Parteistruktur, Regierungserfahrung und einer soliden Parlamentsfraktion in die Opposition gegangen zu einer amorphen Regierung aus ad hoc gegründeten Wahlvereinen unterschiedlichen Zuschnitts, ohne Regierungserfahrung und mit Carlos Mesa als einem Präsidenten, der durchaus als besonnen und umgänglich gilt.


Notbremse?

Doch um 19:40 Uhr wurde die Schnellauszählung für 24 Stunden angehalten. Am nächsten Morgen verkündete die regierungsnahe Presse dann einen mehr als zehnprozentigen Vorsprung für die MAS. Die Opposition sah sich in ihrer Befürchtung bestätigt: Wahlbetrug! In der Nacht zum Dienstag (22.10.) wurden in sechs der neun Departements des Landes die Zentralen der Wahlbüros abgefackelt. In Potosí retteten sich zwei Menschen gerade noch durch einen Sprung aus dem Fenster. Der Vizepräsident der Wahlbehörde trat zurück. Ein souveräner, erfahrener und verantwortungsbewusster Präsident hätte da vielleicht noch landesväterlich auftreten und Aufklärung versprechen können, ja müssen.


So steuerte man geradewegs auf den politischen Totalschaden zu. Es dauerte noch bis zum Freitag, bis ein amtliches Endergebnis verkündet wurde: 47,8 : 36,5 Prozent. Auch dieses ist mehr als dubios, denn die Internetseite der Wahlbehörde nannte andere Zahlen! Aber das interessierte schon nicht mehr. Morales hatte sich bereits am Donnerstag zum Sieger im ersten Wahlgang erklärt. Mit Straßenblockaden traten Bürgerkomitees auf den Plan (Comités Cívicos), mit mehr oder weniger bekannten Persönlichkeiten an der Spitze, die vorformulierte Deklarationen auf Massenveranstaltungen per Akklamation verabschiedeten. (Sie wären auch ideale Plattformen für finanzielle und logistische Interventionen aus dem Ausland.) Diese forderten schon vor dem amtlichen Endergebnis zunächst eine Neuauszählung der Stimmen durch die Wahlbeobachter der OAS (Organisation Amerikanischer Staaten). Das Ergebnis sollte bindend sein. Die Regierung war erst dagegen und willigte dann ein. Im schlimmsten Fall wäre für sie nun doch eine Stichwahl notwendig geworden.


Schleichender Putsch

Erste Straßenblockaden der Opposition machten einen eher harmlosen Eindruck. Doch als die OAS-Kontrolleure mit ihrer Arbeit begannen, forderte die Opposition schon die Annullierung der Wahlen, den Rücktritt von Morales und Neuwahlen ohne ihn. Ihre Blockaden wurden intensiver, die Demonstrationen härter. Es ging bereits um die Blockade von Regierungs- und Zollgebäuden mit dem Ziel, diese von weiteren Einnahmen abzuschneiden. Die MAS sprach von Putsch und mobilisierte ihrerseits ihre Anhänger. Drei Menschen starben bei Zusammenstößen. Der MAS-Bürgermeisterin eines Nachbarortes der Stadt Cochabamba wurden die Haare abgeschnitten, sie wurde mit roter Farbe übergossen und von einem Mob durch die Straßen getrieben. Die Polizei reagierte verhalten bis gar nicht.


Inzwischen hatte Luís Fernando Camacho, Chef des Comité Cívico der Oppositionshochburg Santa Cruz, mit einem vorformulierten Rücktrittsschreiben die Initiative an sich gezogen. Er flog damit nach La Paz und kündigte an, er würde nicht eher wieder zurückkehren bis Morales das unterschrieben habe. Koste es was es wolle! Dabei kam es zu direkten Auseinandersetzungen zwischen Anhängern beider Lager. Camacho war bereits beim Zivilputsch von 2008 in den Reihen der rechtsextremen und paramilitärischen „Union der Cruzenistischen Jugend“ hervorgetreten. Damals hatten sich Tieflanddepartements jenseits der gültigen Verfassung eigene Autonomiestatuten gegeben. Er gilt als christlicher Eiferer und Vertreter von Positionen à la Bolsonaro. Manche nennen ihn auch einen christlichen Faschisten. Die Panama Papers erwähnten ihn im Zusammenhang mit Geldwäsche. Die Sicherheitskräfte hielten sich zurück. Camacho hatte den Polizisten volle Bezüge nach der Pensionierung versprochen. Morales willigte schließlich in Neuwahlen ein; Oppositionskandidat Mesa trat praktisch gar nicht mehr in Erscheinung.

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Aus den Conclusiones des OAS-Zwischenberichts: „Teniendo en cuenta las proyecciones estadísticas, resulta posible que el candidato Morales haya quedado en primer lugar y el candidato Mesa en segundo. Sin embargo, resulta improbable estadísticamente que Morales haya obtenido el 10% de diferencia para evitar una segunda vuelta.

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Am Donnerstag (8.11.) gaben erste Polizeieinheiten ihre Untätigkeit auf und schlossen sich den Protesten an. Die Militärführung rief zur Ruhe auf und erklärte, sie würde sich niemals gegen das Volk stellen. In dieser Situation erschien ein Zwischenbericht der OAS, der von „schweren Unregelmäßigkeiten“ sprach, ohne aber Details und Verantwortliche zu benennen; einen Endbericht gibt es noch immer nicht. Morales rief zum Dialog der Parteien auf. Die Opposition wies das brüsk zurück. Am Samstag forderte Armeechef Williams Kaliman (im Bild) Morales zum Rücktritt auf. Der erfolgte am Sonntag 10.11., ist aber eigentlich nicht rechtskräftig, weil das Parlament ihn annehmen muss (Art. 161/3 der Verfassung). Morales hatte zu diesem Zeitpunkt Grund, um seine Unversehrtheit und sein Leben zu fürchten. Die Opposition jubelte. Frustrierte MAS-Anhänger, Oppositionelle und gewöhnliche Kriminelle zogen marodierend durch die Städte. Morales' Haus in Cochabamba wurde verwüstet, das seiner Schwester, verschiedener Minister und das des Comité Cívico-Chefs von La Paz und Rektors der Universität UMSA, Waldo Albarracín, in Brand gesteckt. Die Polizei blieb weiterhin weitgehend unsichtbar. Nachdem auch zwei Polizeizentralen abgefackelt wurden, erklärte die Militärführung, dass sie die Sicherheit in den Straßen wiederherstellen wolle. Das war auch dringend notwendig. Die Polizei hatte das tagelang nicht gekonnt – oder nicht gewollt. Indes: So lange es noch um die Erhaltung der institutionellen Ordnung ging, hatten die Militärs das abgelehnt. Die alte Regierung ist eigentlich noch bis zum 22. Jänner im Amt. Doch auch dies spielte keine Rolle mehr. Es fällt auf, dass die Forderungen und Handlungen der Opposition mit jedem Nachgeben der Regierung schrittweise radikaler wurden. War es Zufall, oder steckte ein Drehbuch, eine sorgfältige Choreografie, dahinter?


Machtergreifung

Am 12. November hat sich die Vize-Vize-Präsidentin des Senats, Jeanine Añez zur Interimspräsidentin ausgerufen und Neuwahlen angekündigt. Die anwesenden Abgeordneten (11 von 36) der bisherigen Opposition hatten kein Quorum. Hätte man unter den gegebenen Umständen und bei der Größe des Landes den Abgeordneten nicht Zeit geben müssen, zur Sitzung zu kommen? Sie selbst sprach am gleichen Tag mit den Bischöfen über Sicherheitsgarantien für die MAS-Abgeordneten. Diese tagten dann am nächsten Tag (allein) in der Abgeordnetenkammer. Sie hatten ein Quorum. Anwesend war auch die bisherige Senatspräsidentin Adriana Salvatierra, obwohl ihr der Zugang zum Parlament zunächst von Sicherheitskräften verwehrt wurde. Laut Verfassung wäre eine Interimspräsidentschaft ihr zugefallen (Art. 169/I)


Das am 13.11. vorgestellte Interimskabinett trat als eines der „Nationalen Versöhnung“ auf und kommt, jedenfalls auf den ersten Blick, ohne die ganz großen Provokationen aus, darum bemüht, eine gewisse Legitimitität zu gewinnen. Ministro de la Presidencia, rechte Hand der bisher weithin unbekannten Jeanine Añez, ist mit Jerjes Justiniano freilich der Anwalt des Scharfmachers Luís Fernando Camacho.


Auf die Ankündigung, man wolle „politisch nominierte Botschafter“ abberufen, reagierte Boliviens Botschafter bei der UNO in New York, Sacha Llorenti, mit den Worten, er sei nicht zurückgetreten und werde dies auch nicht tun. Er sei vom verfassungsmäßigen Präsidenten eingesetzt und mit zwei Drittel der Stimmen vom Senat bestätigt. Das verdeutlicht das ganze Legitimitätsdilemma.


Die Legitimität des Kabinetts sank weiter, nachdem bei der Amtseinführung die Bibel über die Verfassung gestellt wurde, obwohl Bolivien ein laizistischer Staat ist (Art. 4). Dieselbe Verfassung, deren Artikel 168 die Opposition so nachdrücklich reklamiert hatte. Schließlich erhielten die Sicherheitskräfte per Dekret (No. 4078) Straffreiheit bei Aktionen zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung. Am Vortag wurden an einer Brücke vor der Stadt Cochabamba hunderte, teilweise auch bewaffnete Kokabauern von Sicherheitskräften aufgehalten und neun von ihnen erschossen, mehr als hundert verwundet. Kabinettschef und Innenminister stellten es so dar, als seien die Schüsse aus den eigenen Reihen gekommen, als hätten sich die Bauern praktisch selbst erschossen. Demgegenüber sprach die Interamerikanische Menschenrechtskommission von völlig unverhältnismäßigem Vorgehen. Auch die UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, zeigte sich tief besorgt. Wenige Tage später wurden beim Durchbrechen einer Blockade der Gasversorgung in El Alto erneut zehn Menschen erschossen.


Der Widerstand der einst so starken sozialen Bewegungen war wuchtig und führte besonders in La Paz zu ernsten Versorgungsschwierigkeiten. Doch er war längst nicht so massiv, organisiert und ausdauernd wie erwartet. Sie hatten 2003 den Präsidenten Sánchez de Lozada gestürzt. Sind sie unentschlossen oder zahnlos geworden, nachdem sie zu Erfüllungsgehilfen der Regierung Morales degradiert waren, wie linke Kritiker meinen?


Wie kann es nun weitergehen? Kann man dieser „Interimsregierung“ trauen? Wird sie tatsächlich zeitnah Neuwahlen organisieren und die Errungenschaften des proceso de cambio unangetastet lassen? Die Tatsache, dass sie sich als „Interimsregierung“ anmaßte, bereits eine komplette außenpolitische Neuorientierung einzuleiten (Wiederaufnahme der Beziehungen zu Washington, Ausweisung von mehr als 700 kubanischen Ärzten, Anerkennung von Juan Guaidó in Venezuela, Abberufung fast des kompletten diplomatischen Corps), spricht eine andere Sprache.


Dass sich in ihrem Windschatten die Geister der Vergangenheit zurückmelden ebenso. Hinter Camacho steht der steinreiche Speiseöl-Tycoon Branko Marincovic, der schon zu den Drahtziehern des Zivilputsches von 2008 gehörte und dem Kontakte zur kroatischen Ustascha nachgesagt werden. Aus dem US-Exil meldete sich der frühere Innenminister Carlos Sánchez Berzaín zu Wort, der für das Massaker von El Alto im Jahr 2003 verantwortlich war, das zum Rücktritt von Präsident „Goni“ Sánchez de Lozada führte. (Dessen Vizepräsident war damals Carlos D. Mesa, der wegen dieses Massakers zurückgetreten war. Nachdem das Parlament seinen Rücktritt aber noch nicht angenommen hatte, wurde er nach der Flucht des Präsidenten am Abend desselben Tages automatisch zum Interimspräsidenten; ein uns inzwischen bekanntes Nachfolgeprozedere.) Und hinter den Kulissen der „Interimsregierung“ agiert als Drahtzieher ganz offen Jorge „Tuto“ Quiroga, Vizepräsident unter Exdiktator Hugo Banzer und nach dessen Krebstod sein Nachfolger (2001-2002).


Kann sich die MAS ohne ihre paternalistisch-autoritär agierende Führungsspitze reorganisieren? Gerüchte besagen, dass das Kabinett Morales in der Frage des Vorgehens nach der Wahl tief gespalten war. Was ist aus den Verbliebenen geworden? Dass das Parlament wieder tagt, ist zumindest ein Lebenszeichen. Inzwischen gab es Verhandlungen zwischen der „Interimsregierung“ und MAS-Abgeordneten und eine Einigung im Senat. Präsidenten des Senats beziehungsweise der Abgeordnetenkammer sind nunmehr Eva Copa und Pedro Montes von der MAS. Und inzwischen hat man sich im Konsens auch auf ein Neuwahlgesetz geeinigt. Diese sollen innerhalb von 120 Tagen stattfinden. Als Resultat eines „nationalen Dialogs“ gibt es ein Abkommen zwischen der „Interimsregierung“ und den wichtigsten sozialen Bewegungen über die Freilassung von bei den Protesten Gefangenen und ein Gesetz zur Befriedung des Landes. Das umstrittene Dekret 4078 wurde außer Kraft gesetzt.


Trotzdem bleibt die Lage weiter angespannt und unübersichtlich. Es gibt Fälle von Zensur. Die prominenten Persönlichkeiten der MAS sind fast alle im Exil, haben in ausländischen Botschaften um Exil angesucht und/oder stehen unter Terrorismusanklage. Werden unter diesen Bedingungen freie und gleiche Wahlen möglich sein? Im Lager der früheren Opposition positionieren sich die jungen Führer der Comités Cívicos von Santa Cruz und Potosí, Camacho und Pumari, als Befürworter eines Einheitsblocks und eines Generationswechsels. Der Wahlsieger und der Wahlzweite, die es am 20. Oktober zusammengenommen auf über 80 Prozent der Stimmen gebracht haben, sind (vorerst) abgemeldet. Bolivien könnte in die alten Zeiten der Instabilität und des Autoritarismus zurückfallen.


Rückkehr des Neoliberalismus?

Es sei kein Putsch gewesen, sagt die selbsternannte „Interimspräsidentin“, Jeanine Añez, sondern eine demokratische Revolution. An einer „Revolution“ scheint zumindest ihre „Interimsregierung“ zu arbeiten, die doch eigentlich nur Sicherheit und Ordnung wiederherstellen und Neuwahlen organisieren wollte: Einer „Konterrevolution“ im Sinne der Wiederherstellung des Status quo vor 2006. Erzkatholische, rechtsextreme und unternehmerfreundliche Kreise stützen sie. Die eilige Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zu Washington dürfte auch eine Rückkehr zur Politik des “Washington Consensus“ einleiten. Von „cambio de proceso“ statt „proceso de cambio“, sprach bereits der frisch nominierte Botschafter. Politiker der Vergangenheit kehren zurück. Guido Náyar, vormals Vorsitzender des mächtigen Verbandes der Privatunternehmer von Santa Cruz und von 1997-99 Innenminister unter Exdiktator Hugo Banzer, ist bereits da.


Gänzlich gebrochen hatte die Regierung Morales mit dem Neoliberalismus ohnehin nie, sondern weiter auf den Export nicht erneuerbarer Rohstoffe gesetzt, die Abhängigkeit davon sogar noch vergrößert und einen Stillhaltepakt mit der mächtigen Agrarlobby des Tieflands geschlossen. Immerhin: Mit den sprudelnden Einnahmen aus den nationalisierten Kohlenwasserstoffen konnte man eine höchst erfolgreiche Sozialpolitik betreiben, die gleichzeitig den Binnenmarkt stärkte. (Vgl. den vorletzten Blog: „Bolivien und sein Prozess des Wandels“.) Die Wirtschaftsdaten sind (noch) gut und die sozialpolitischen Leistungen beispielgebend. Morales war damit sicherlich der erfolgreichste Präsident seit langem – und das Land stabil. Fast die Hälfte der Wahlberechtigten hat für ihn gestimmt. Er hat das Leben einer großen Zahl von Bolivianerinnen und Bolivianern verbessert, für die Vorgängerregierungen nur Missachtung, manchmal Verachtung übrig hatten. Die Armutsquote war von 38 auf 18 Prozent gesunken.


Wie konnte es dann zu diesem Absturz der MAS in der Wählergunst auf rund 47 Prozent kommen? 2014 hatte man mit 61 Prozent gewonnen, 2009 mit 64 Prozent, 2005 mit 54. Es ist wohl die Hybris der Macht, die zunehmend autokratische Züge annahm und sich als kritik- und beratungsresistent erwies. Eine ganze Reihe von Mentoren, Beratern, Weggefährten wurde abserviert und kalt gestellt. Mit dem verbündeten „Movimiento Sin Miedo“ (heute Sol.bo), das seit fast zwei Jahrzehnten sehr erfolgreiche Bürgermeister von La Paz stellt und inzwischen auch von El Alto - ein Ballungsraum, in dem 15 Prozent der Gesamtbevölkerung wohnen - hat man ohne Not gebrochen. Die sozialen Bewegungen, die zu den stärksten in Lateinamerika gehörten und die entscheidenden Säulen des angestrebten Wandels („el proceso de cambio“) waren, wurden nach und nach zu Erfüllungsgehilfen degradiert. Andererseits ist da die Unfähigkeit, sich von Leuten zu trennen, an denen zäh wie Pech Korruptionsvorwürfe haften. Bemerkenswert ist daneben der Verlust der Intellektuellen (gerade auch der Linksintellektuellen) und der städtischen Mittelschichten, die über schlechte Verwaltung klagen: Posten würden mit Gefolgsleuten aus den sozialen Bewegungen besetzt, statt mit qualifiziertem Personal, Korruption grassiere wie früher. Politische Diskurse wirkten abgedroschen und steril, neue Ideen suchte man vergebens. Dazu kam die Enttäuschung über die Diskrepanz von hochfliegender Umweltrhetorik und mangelnder Umweltpolitik sowie die Vernachlässigung der indigenen Völker des Tieflands. Schließlich sind da noch skurrile bis kabarettreife Frauengeschichten, von denen die Affäre Gabriela Zapata, garniert mit einem handfesten Korruptionsskandal, wohl bereits für die fehlenden 2,6 Prozentpunkte beim gescheiterten Wiederwahlreferendum vom 21. Februar 2016 verantwortlich war.


Politisches Versagen

Mehr als alles andere aber hat man Morales übel genommen, dass er sich über dieses Wählervotum hinwegsetzte. Der Einbruch von 16 Prozentpunkten in der Wählergunst spricht eine klare Sprache. Bolivien blickt auf eine leidvolle Geschichte politischer Instabilität zurück. Seit der Unabhängigkeit im Jahr 1825 musste das Land mehr Regierungen über sich ergehen lassen, als Jahre ins Land gingen. Die Älteren erinnern sich noch lebhaft an 18 Jahre teilweise blutiger Militärdiktaturen (1964-82). Auch die nach der Redemokratisierung folgenden Jahre der „paktierten Demokratie“, mit ihren instabilen Megakoalitionen, sind den Menschen vor allem durch Korruption und „politiquería“ in Erinnerung. Nach dem Amtsantritt von Evo Morales im Januar 2006 folgten dann neben den regulären Wahlen auch eine Vielzahl von Abstimmungen, was Spötter von einer „referenditis“ sprechen ließ. Die MAS hat sie alle mit absoluter Mehrheit gewonnen. Auf Unruhen im Zuge der Verfassunggebenden Versammlung reagierte Morales mit einem Abwahlreferendum, das er im August 2008 mit 67 Prozent der Stimmen gewann. Die Antwort darauf war der gescheiterte Zivilputsch vom September 2008. Die Verfassung – einschließlich ihres Artikels 168 – war dann die erste, die den Bolivianerinnen und Bolivianern zur Abstimmung vorgelegt wurde; sie wurde im Januar 2009 mit 61 Prozent der Stimmen angenommen. Für Bolivien waren das ganz neue Demokratieerfahrungen, um die man sich nun vom selben Evo Morales betrogen sah.


Repression tat ihre Wirkung. Geld mag eine Rolle gespielt haben, ausländische Drahtzieher vielleicht – das ist einstweilen Spekulation. Die OAS hat mit ihren vorschnellen Äußerungen sicher nicht zur Beruhigung der Lage beigetragen. Wieso hat sie eigentlich keinen Abschlussbericht vorgelegt? Jenseits dessen ist der Sturz von Morales ohne einen tiefen Glaubwürdigkeitsverlust nicht erklärbar. Oberbefehlshaber Williams Kaliman, der Morales zum Rücktritt aufforderte, war ursprünglich ein MAS-Getreuer, der sich selbst als „soldado del proceso de cambio“ und Morales als „hermano“ bezeichnete. (Er wurde von Añez auch sogleich ersetzt.) Der Vorsitzende des Gewerkschaftsbundes (COB), Juan Carlos Huarachi, schloss sich dieser Aufforderung an. Ebenso die Landarbeitergewerkschaft CSUTCB – letztere mit bewegenden Worten. Der Widerstand der sozialen Bewegungen war nicht so stark, organisiert und ausdauernd wie erwartet. Er bröckelte relativ rasch. Erstaunlich schnell haben sie dann ein Abkommen zur Befriedung mit der „Interimsregierung“ geschlossen. Gleiches gilt für die MAS-Fraktion, die im Parlament eine Zweidrittelmehrheit hält, wo man im Konsens ein Neuwahlgesetz verabschiedet hat.


Wie es weiter gehen wird, ist unklar. Unter den gegebenen Umständen scheint es fraglich, ob faire Neuwahlen stattfinden können. Die Opposition war bisher schwach, zersplittert und nur in der Ablehnung von Morales geeint. Wird sich die MAS reorganisieren können? Wer wird antreten, wenn die wichtigsten Persönlichkeiten unter einer absurden Terrorismusanklage stehen? Bolivien könnte in die vergangenen Zeiten der politischen Instabilität zurückfallen. Ökonomisch stehen ohnehin schwierigere Jahre ins Haus. Der Extraktivismus fordert seinen Tribut. Die Überschüsse schmelzen, Kredite mussten bereits aufgenommen werden. Sparprogramme könnten ins Haus stehen.


Nachsatz: Die Wahlen selbst waren am 20.10. bei einer Wahlbeteiligung von 89,62 Prozent vollkommen ruhig und geordnet abgelaufen. Die Bolivianerinnen und Bolivianer sind für die Demokratie reifer als ihre politische Klasse. Eine 37-jährige Periode der Demokratie – die längste in der bolivianischen Geschichte – ist nunmehr (hoffentlich nur vorläufig) beendet.

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