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Wahlchaos in Bolivien

  • von Robert Lessmann Dr
  • 30 Okt., 2019

Dem Andenland stehen unruhige Zeiten bevor

„Evo, no estás sólo“ (Du bist nicht allein) riefen seine Anhänger dem amtierenden Präsidenten Evo Morales (MAS – Movimiento al Socialismo) am Wahlabend (Sonntag, 20.10.) zu. Siegesfeiern sehen anders aus. Das Zwischenergebnis der Schnellauszählung lag da bei 45:38 Prozent zugunsten der MAS. Das bedeutete einen Absturz um 16 Prozentpunkte gegenüber der letzten Wahl von 2014. Vor allem: Um im ersten Wahlgang zu gewinnen, ist eine absolute Mehrheit nötig oder mindestens 40 Prozent, bei 10 Prozent Abstand zum Zweiten. Oppositionskandidat Carlos D. Mesa von der bürgerlichen Comunidad Ciudadana (CC) hatte mit seinen 38 Prozent allen Grund zum Jubel: Umfragen hatten ihn bei nur 22 Prozent gesehen. Bei einer Stichwahl würden sich die zersplitterten Oppositionsgruppierungen um ihn scharen.


Notbremse?

Dann wurde um 19:40 Uhr die Schnellauszählung gestoppt und erst 24 Stunden später wieder aufgenommen. Wahlbeobachter der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) verlangten eine Erklärung. Der Oberste Wahlgerichtshof (TSE) schwieg. Auf seiner Internetseite erschienen vielmehr am Montag (21.10.) konfuse Zahlen eines vorläufigen amtlichen Endergebnisses. Ein solches lag erst am Freitag (25.10.) vor. Nach dem Stopp der Auszählung am Sonntagabend brauchte man also fast die ganze Woche, um die verbliebenen rund 15 Prozent der Stimmen auszuzählen. Demgegenüber verkündete die regierungsnahe Presse schon am Montag ein vorläufiges Endergebnis von 46,86 (MAS) zu 36,73 (CC). Damit wäre die MAS Sieger im ersten Wahlgang. Die OAS-Beobachter sprachen von drastischen Veränderungen bei der Auszählung, die schwierig zu rechtfertigen seien, und zeigten sich zutiefst besorgt und erstaunt. Die Opposition hatte im Vorfeld der Wahlen bereits Betrug gewittert und rief zum Widerstand auf. Seit der Nacht zum Dienstag (22.10.) wird aus dem ganzen Land von Unruhen und brennenden MAS-Büros berichtet. In Potosí konnten sich zwei Menschen durch einen Sprung aus dem zweiten Stock des brennenden Hauses des Obersten Wahlgerichts gerade noch retten. Der Vizepräsident des TSE, Antonio Costas, trat tags darauf (22.10.) zurück: Man hätte die Auszählung nicht unterbrechen dürfen.


Hybris der Macht

Am Donnerstag (24.10.) erklärte sich Morales zum Sieger im ersten Wahlgang mit 10,56 Prozentpunkten Vorsprung. Die Zahlen auf der Internetseite des TSE bestätigten das nicht; ihnen zufolge war immer noch eine Stichwahl nötig. Außerdem lag die Auswertung auch da erst bei 98,42 Prozent. Doch das spielte wohl keine Rolle mehr. Eine sichtlich überforderte Präsidentin des TSE bestätigte auf einer Pressekonferenz am Freitag den Wahlsieg von Morales. Fragen waren keine zugelassen. Demgegenüber lag das amtliche Endergebnis laut Internetseite des TSE (25.10., 21:09h) bei 46,66 (MAS) und 36,83 (CC) – also keine 10 Prozent Vorsprung. Es handelt sich entweder um unfassbare Unfähigkeit der Wahlbehörde oder um Wahlbetrug. Doch damit werden sich Juristen und Historiker beschäftigen.


Wie konnte es überhaupt zu diesem Absturz der MAS in der Wählergunst kommen? 2014 hatte man mit 61 Prozent gewonnen, 2009 mit 64 Prozent, 2005 mit 54. Die Wirtschaftsdaten sind (noch) gut und die sozialpolitischen Leistungen beispielgebend. Morales war damit sicherlich der erfolgreichste Präsident seit langem – und das Land stabil. Fast die Hälfte der Wahlberechtigten hat für ihn gestimmt. Er hat das Leben einer großen Zahl von Bolivianerinnen und Bolivianern verbessert, für die Vorgängerregierungen nur Missachtung, manchmal Verachtung übrig hatten. Die Armutsquote war von 38 auf 18 Prozent gesunken.


Er hatte sich die „Entkolonisierung“ des Landes vorgenommen und voran gebracht, aber die im eigenen Kopf nicht geschafft. Es ist wohl die Hybris der Macht. Gewiss: Ein Blick in die Nachbarschaft zeigt, wie skrupellos und rabiat die politische Rechte vorgeht. Man denke an das Schicksal von Lula da Silva in Brasilien. Doch alle Kritiker pauschal als „la derecha“ (die Rechte) abzustempeln, oder als Angreifer im Dienste des „Imperiums“ (gemeint sind die USA) zu werten, ist nicht nur steril, sondern führt zu Beratungsresistenz und ist Ausdruck von Unsicherheit - und eben einer Hybris der Macht. Eine ganze Serie von Mentoren, Beratern, Weggefährten wurde abserviert und kaltgestellt. Mit dem verbündeten „Movimiento Sin Miedo“ (heute Sol.bo), das seit fast zwei Jahrzehnten sehr erfolgreiche Bürgermeister von La Paz stellt und inzwischen auch von El Alto - ein Ballungsraum, in dem 15 Prozent der Gesamtbevölkerung wohnen -, hat man ohne Not gebrochen. Die sozialen Bewegungen, die zu den stärksten in Lateinamerika gehörten und die entscheidenden Säulen des angestrebten Wandels („el proceso de cambio“) waren, wurden nach und nach zu Erfüllungsgehilfen degradiert. Andererseits ist da die Unfähigkeit, sich von Leuten zu trennen, an denen zäh wie Pech Korruptionsvorwürfe haften. Bemerkenswert ist daneben der Verlust der Intellektuellen (gerade auch der Linksintellektuellen) und der städtischen Mittelschichten, die über schlechte Verwaltung klagen: Posten würden mit Gefolgsleuten aus den sozialen Bewegungen besetzt, statt mit qualifiziertem Personal, Korruption grassiere wie früher. Politische Diskurse wirken abgedroschen und steril, neue Ideen sucht man vergebens. Stark kritisiert wird auch das neue, 119 Meter hohe Regierungsgebäude „Casa Grande del Pueblo“, das unter dem Strich gar nicht so furchtbar teuer war und Vorteile bringt, aber für viele eine bombastische Bausünde im historischen Stadtzentrum von La Paz darstellt. Dazu kommt die Enttäuschung über die Diskrepanz von hochfliegender Umweltrhetorik und mangelnder Umweltpolitik sowie die Vernachlässigung der indigenen Völker des Tieflands. Schließlich sind da noch skurrile bis kabarettreife Frauengeschichten, von denen die Affaire Gabriela Zapata, garniert mit einem handfesten Korruptionsskandal, wohl bereits für die fehlenden 2,6 Prozentpunkte beim gescheiterten Abwahlreferendum vom 21. Februar 2016 verantwortlich war. Der Autor war bei seinem letzten Aufenthalt im August überrascht und perplex über das Ausmaß der Evo-Überdrüssigkeit.


It's the democracy, stupid

Trotz allem: F21 war praktisch das alleinige Thema der Opposition im Wahlkampf: Am 21. Februar 2016 hatte die Regierung ein Referendum über den Verfassungsartikel 168 verloren, der nur eine Wiederwahl des Präsidenten in Folge erlaubt. Der Oberste Gerichtshof stellte daraufhin das passive Wahlrecht über den Artikel 168 und kippte damit das Wählervotum. Die Opposition sah also bereits die erneute Kandidatur von Morales als unrechtmäßig an und spricht nun von Wahlbetrug. Sollte sie sich doch noch durchsetzen: Es handelt sich ausnahmslos um Ad-hoc-Wahlvereine ohne konsolidierte Parteistruktur. Die Bewegung F21 (rund 4%) und die christdemokratische PDC des Evangelikalen Chi Hyun Chung, der frauenfeindliche und extrem konservative Positionen à la Bolsonaro vertritt (nahe 9%), werden Mesa unterstützen. Bis auf Mesa, der zwischen Oktober 2003 und Juni 2005 Interimspräsident war, sticht niemand mit Regierungserfahrung hervor.


Bolivien blickt auf eine leidvolle Geschichte politischer Instabilität zurück. Seit der Unabhängigkeit im Jahr 1825 musste das Land mehr Regierungen über sich ergehen lassen, als Jahre ins Land gingen. Die Älteren erinnern sich noch lebhaft an 18 Jahre teilweise blutiger Militärdiktaturen (1964-82). Auch die nach der Redemokratisierung folgenden Jahre der „paktierten Demokratie“ mit ihren instabilen Megakoalitionen sind den Menschen vor allem durch Korruption und „politiquería“ in Erinnerung, obwohl auch wichtige Fortschritte gemacht wurden. Nach dem Amtsantritt von Evo Morales im Januar 2006 folgten dann neben den regulären Wahlen auch eine Vielzahl von Abstimmungen, was Spötter von einer „referenditis“ sprechen ließ. Die MAS hat sie alle mit absoluter Mehrheit gewonnen. Für das Land war das eine ganz neue Demokratieerfahrung.


Gesetzestexte und Verfassungsparagraphen hätten „erlebnisorientierten Charakter“, schrieb Stefan Jost in seiner Habilitationsschrift über das politische System Boliviens. Er hatte ab 1994 das dortige Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung geleitet. Das war lange vor den 13 Jahren relativ stabiler Demokratie ab 2006. Doch sein Diktum kann man nun wohl auch auf Wahlergebnisse ausdehnen. Artikel 168 der Verfassung war auf Betreiben der Opposition nachträglich in den bereits verabschiedeten Verfassungsentwurf aufgenommen worden. Diese Nachverhandlungen im Parlament waren ein Zugeständnis der Regierung Morales an die Opposition zur Beruhigung der Lage nach dem „Zivilputsch“ vom September 2008. Ein Viertel aller Artikel wurde dabei modifiziert. Im Einberufungsgesetz zur Verfassunggebenden Versammlung waren solche Nachverhandlungen nicht vorgesehen. Doch der solchermaßen geänderte Verfassungsentwurf wurde in einem Referendum am 25. Januar 2009 mit 61 Prozent der Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von 90 Prozent angenommen. Es war der erste in der Geschichte, der dem Volk zur Abstimmung vorgelegt wurde. Viele Menschen sehen daher nun das Wählervotum bereits zum dritten Mal durch die MAS ausgehebelt.


Sollte Wahlsieger Morales die Oberhand behalten, ist jedenfalls die bisher komfortable Parlamentsmehrheit dahin und er wird ein gewaltiges Legitimitätsdefizit mit sich herumschleppen. Solchermaßen geschwächt, wird seine Regierung mit einer sich abzeichnenden raueren Konjunktur konfrontiert sein. Noch konnten sinkende Einnahmen aus den Rohstoffexporten durch eine solide Binnenkaufkraft (ein Erfolg der MAS-Politik) abgefedert werden. Doch Handels- und Leistungsbilanzdefizite wachsen, wie auch die Neuverschuldung. Sparprogramme stehen ins Haus. Vor diesem Hintergrund könnte sich die Regierung umso leichter zu neuen Konzessionen gegenüber der Agraroligarchie im Tiefland gezwungen sehen, mit der sie nach dem „Zivilputsch“ im September 2008 einen Stillhaltepakt geschlossen hatte.


Nach seinem letzten Wahlerfolg 2014 hatte Morales angekündigt, er wolle sich 2020 in seine Heimat zurückziehen, ein Restaurant eröffnen und dort kellnern. Viele (darunter der Autor) hatten das dem „animal político“ nicht abgenommen. Eine knappe Mehrheit der Wählerinnen und Wähler wünscht ihn nun wahrscheinlich genau dorthin. Womöglich hat sich Morales am Vorabend seines 60. Geburtstags (26.10.) ein Danaergeschenk gemacht. Eine Neuauszählung der Stimmen unter Aufsicht der OAS, wie diese und die Europäische Union sie fordern, wäre eine Option. Auf Bolivien kommen nach Jahren der Stabilität schwierige Zeiten zu.


Nachsatz: Die Wahlen selbst waren am 20.10. bei einer Wahlbeteiligung von 89,62 Prozent vollkommen ruhig und geordnet abgelaufen. Die Bolivianerinnen und Bolivianer sind für die Demokratie reifer als ihre politische Klasse.


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